Die Spaltung der Internationale (1864-1876) als Ausdruck der Differenzen zur wirklichen Bewegung der Arbeiter:innen
Detlef HartmannDetlef Hartmann hat seine Perspektive als Aktivist, Autor und Anwalt aus den Kämpfen der letzten Jahrzehnte gewonnen und in »Krisen, Kämpfe, Kriege, Innovative Barbarei gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert« (2019) und – zusammen mit Christopher Wimmer – »Die Kommunen vor der Kommune 1870/71 – Lyon, Le Creusot, Marseille, Paris« behandelt.
Man könnte der Meinung sein, die Bewegungen der Arbeiter:innen und ihr Verhältnis zur Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) seien nur ein historisches Thema und gehörten in die Vergangenheit. Aber Kämpfe vollziehen sich in historischen Schüben, die trotz allem Neuen immer wieder Ähnlichkeiten zeigen. So geht es mir über die Darstellung der 160 Jahre zurückliegenden Ereignisse hinaus auch um die Analogien, die die Beschäftigung mit ihnen zu einer lohnenden Sache machen.
Den Herausgeber:innen und auch mir kommt es weniger auf die Auseinandersetzungen der Protagonisten wie Marx und Bakunin an, sondern auf die Bewegungen der Arbeiter:innen, die der Bildung und Entwicklung der IAA zugrunde lagen. Eine Bemerkung von Jacques Freymond wirft ein bezeichnendes Licht darauf. Freymond hat 1962 die Herausgabe der Sitzungsprotokolle des in London ansässigen Generalrats der IAA in vier voluminösen Bänden koordiniert. In der Einleitung schreibt er aus der Kenntnis der Protokolle heraus, dass die Assoziation ihre Tätigkeit schließlich »[…] nicht mehr auf das Studium und die Diskussion theoretischer Probleme beschränken konnte[…] Der Rückwirkung der täglichen Kämpfe der Arbeiter ausgesetzt war sie gezwungen, Stellung zu nehmen […].«(1) In der Tat zeigt die Lektüre der Sitzungsprotokolle, dass der Generalrat sich in endlosen Debatten über eine zukünftige Gesellschaftsordnung, die Eigentumsfrage, das Erbrecht und dergleichen mehr ergangen hat. Das mochte in den europäischen Länder- und Regionalsektionen der IAA etwas anders gewesen sein, denn sie waren näher mit den Sozialprozessen beschäftigt, Protokolle existieren allerdings nicht, oder sind nicht zugänglich.
Wer waren die Akteur:innen?
Es ist also sinnvoll, vorweg nach den Akteur:innen zu fragen, die auf dem Feld der sozialen Auseinandersetzungen wirkten. Zuerst waren dies die Unternehmer:innen und die Arbeiter:innen Erstere hatten bis auf Friedrich Engels mit der IAA wenig zu tun, sie waren auf der Gegenseite. Allerdings wirkten auch die Arbeiter:innen kaum in der IAA mit. Die Ungelernten gar nicht, hier gab es keinen Kontakt, sie waren auch nicht in der IAA repräsentiert, ja der Zugang zu ihnen wurde erst gar nicht gesucht. Das gilt erst recht für die Bäuer:innen und die aus den Dörfern vor allem in Süd- und Osteuropa in die Fabriken eingezogenen Bauernarbeiter:innen. Nur die ›Aristokratie‹ der gelernten Arbeiter:innen in England, vor allem aus den Gewerkschaften, brachte sich in die IAA ein. Die hauptsächlichen Akteur:innen der IAA waren allerdings Intellektuelle aus den wachsenden Mittelschichten der damaligen Zeit, häufig aus Professionen, wie Juristen, Journalisten, Mediziner etc. Zu ihnen gehörten Karl Marx, der Belgier César de Paepe, der Schweizer James Guillaume. Es ist auffallend, dass sie ihre Schichtenzugehörigkeit nicht als ein Moment reflektierten, das ihren Aktivitäten, ihrem Interesse und Ehrgeiz eine spezifische soziale Bedeutung und Einfärbung verlieh. Sie waren ja keine Arbeiter:innen und dennoch machten sie sich zu deren Sprechern und Strategen und suchten sich zu ihren Führern zu machen. Der Sozialhistoriker Thomas Welskopp attestiert Karl Marx sogar Anzeichen einer Abneigung vor dem direkten Kontakt mit ihm unbekannten einfachen Arbeitern.(2)
Dieser Hintergrund macht es nachvollziehbar, dass die Initiative zur Gründung der IAA von Personen ausging, die zwar zu den Arbeitern zu zählen waren, aber zu einer herausgehobenen Schicht gehörten. Ansätze hatte es auch schon vorher gegeben: die ›brüderlichen Demokraten‹ in der 1840ern oder die ›Internationale Assoziation‹ in den 50ern, deren Erfahrungen von Bedeutung für die Gründung der IAA waren. Auch die Organisation des Streiks der Londoner Bauarbeiter 1859-62, der von französischen Arbeiter:innen finanziell unterstützt wurde, bildete einen Vorläufer. So war die internationale Ausstellung in London 1862 für französische Arbeiter eine gute Gelegenheit, sich dort mit anderen kontinentaleuropäischen und englischen Arbeitern zu treffen. In Reden wurde die Notwendigkeit der Gründung einer internationalen proletarischen Union in den Raum gestellt. Die Kontakte wurden danach weiter gepflegt und so kam es 1864 zu einem erneuten Treffen französischer und englischer Arbeiter in London mit dem Ziel, ein Komitee für den Erfahrungsaustausch der Arbeiter aller Länder zu gründen. Am 28. September wurde dann eine große Versammlung in der St. Martins Hall abgehalten. In erster Linie nahmen Arbeiter aus den herausgehobenen Schichten teil: so etwa Le Lubez und Tolain aus Frankreich und die führenden Gewerkschafter Odger und Osborne aus England. Aus Deutschland nahmen Eccarius und eher zufällig auch Marx teil. Er war wegen seiner Frühschriften und dem Kommunistischen Manifest bei den Intellektuellen bekannt, den Arbeiter:innen aber so gut wie gar nicht. In der Ansprache bei seinem Begräbnis 1883 bezeichnete ihn Engels als ›Gründer‹ der Internationale. Das setzte eine Legende in Bewegung, die völlig an den Tatsachen vorbeiging. Marx wusste wahrscheinlich bis eine Woche vorher nicht einmal von der Absicht zur Gründung. In einem Brief schrieb er später, Le Lubez habe ihn besucht mit der Bitte, einen deutschen Arbeiter für eine Rede zu nennen und er habe Eccarius vorgeschlagen, er selbst habe schweigend auf dem Podium gestanden.(3) Dafür brachte er sich allerdings von Anfang an maßgeblich in die Ausgestaltung der Internationale ein. Er hielt zur Gründung eine weithin gelobte Rede, die »Inauguraladresse«, und schlug erfolgreich die Organisation des Gesamtzusammenhangs vor: den in London ansässige Generalrat für im Wesentlichen organisatorische Aufgaben, in dem er praktisch das Sagen hatte, und die ›Sektionen‹ für die Länder- und regionale Ebene.
Den Hintergrund und Rahmen für die Aktivitäten der IAA bildete die epochale Innovationsoffensive des Eisenbahnzyklus. Eingeleitet in England und zuerst aufgenommen in Deutschland und Frankreich, ergriff sie nach und nach alle Bereiche von Ökonomie und Gesellschaft: Arbeitsbedingungen, Löhne, Kredit, Divergenzen von Reichtum und Armut, Städtebau, Verkehr. Die Verschlechterung von Einkommen und Lebensbedingungen beantworteten die Arbeiter:innen zum Ende der 1860er Jahre hin vor allem auf dem Kontinent zunehmend mit Streiks.
Die Praxis der IAA
Vor diesem Hintergrund machte sich der Generalrat an seine Diskussionen. Nur aus den Sektionen wurden praktische Interventionen eingeleitet: Unterstützung von Streiks, finanziell und durch organisatorische Dienstleistungen und durch die Verhinderung der Hinzuziehung von Streikbrechern. Hierüber wurde die IAA nach und nach bei den Arbeiter:innen bekannt und geschätzt und es ergaben sich Kontakte und Formen der Zusammenarbeit. Bestimmend allerdings blieben die Kämpfe der Arbeiter:innen selbst. Die IAA hatte keinen Einfluss auf ihre Organisation und ihre Führung. Das ist auch einer der Gründe, warum wir wenig darüber wissen. Es gibt kaum Zeitungen, in denen Arbeiter:innen mitwirkten und über Organisation und Kämpfe berichteten. Zumeist wurden sie von Intellektuellen mit Kontakten zu Arbeiter:innen betrieben oder mit Beiträgen bedient. So z.B. von Eugène Varlin, der in Le Travail und La Marseillaise über ihre Organisationsformen schrieb, allerdings nur sehr allgemein.(4)
Streiks entstanden zumeist aus der Arbeitssituation heraus. Über ihre Organisation und Zustandekommen sowie die damit verbundenen Diskussionen wissen wir so gut wie nichts, auch nicht, wie die Hilfe der IAA gesucht oder einkalkuliert wurde. Die Streiks selbst waren eine Schule der Solidarität, der Disziplin und der Organisation. Das, was etwa im Generalrat diskutiert wurde, spielte auf der Ebene der Arbeiter:innen keine Rolle. Sie hatten keine Bindung an irgendeine besondere sozialistische Theorie. Sie misstrauten den sozialistischen Schulen und Theorien und zogen die Praxis der Theorie vor.(5) Die französischen Arbeiter:innen, soweit sie sich überhaupt für Theorie interessierten, machten jedenfalls mit ihrem Interesse für Proudhon, der Streiks ablehnte, Schluss, als sie Ende der 1860er Jahre zu ihren Streikoffensiven übergingen. Die Debatten des Generalrats blieben ihnen unbekannt und hatten für sie nicht die geringste Bedeutung, vor allem nicht die Meinungen und Theorien ihrer prominenten Mitglieder inklusive Karl Marx.
Zum Ende der 1860er Jahre hin waren die Beziehungen der IAA-Sektionen und der Arbeiter:innen immerhin auf dem Weg in eine Zukunft fruchtbarer Zusammenarbeit. Wären da nicht die wachsenden Auseinandersetzungen zwischen Marx und seinen Anhängern auf der einen und Bakunin und den Anarchisten auf der anderen Seite gewesen. Auf dem ersten Kongress aller Sektionen und des Generalrats in Genf im September 1866 ging es, bis auf die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Proudhon und Marx, noch friedlich zu. Das gilt auch für den zweiten Kongress in Lausanne im Jahre 1867 mit seinen Diskussionen über das Verhältnis der Arbeiterklasse zum Staat (sehr abstrakt, denn die Arbeiter:innen waren an den Diskussionen gar nicht beteiligt, ihre Meinungen nicht eingeholt worden). Ferner ging es um die Frage der Übernahme der Produktionsmittel durch Genossenschaften. Die zunehmenden Massenstreiks auf dem Kontinent eröffneten jedoch die Möglichkeit für die IAA, ihren Einfluss zu steigern.
Der Anfang vom Ende
Dann betrat Bakunin 1868 die Szene mit seinem Beitritt zur Genfer Sektion der IAA. Fast parallel zum 3. Kongress der IAA in Brüssel im September 1868, in dem es hauptsächlich um Fragen der Verstaatlichung ging, fand der Berner Kongress der neu gegründeten Internationalen Friedens- und Freiheitsliga statt, der Bakunin in einer Rede die politische Richtung zu geben versuchte. Zugleich gründete dieser in Genf die Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie, deren Aufnahme in die IAA der Generalrat ablehnte. Die ersten Linien einer wachsenden Spannung zwischen Generalrat und Anarchisten, zwischen Marx und Bakunin waren gezogen, der Anfang vom Ende der IAA.
Das Jahr 1869 brachte mit einem Anwachsen der Arbeiter:innenkämpfe und Streiks zugleich eine bedeutende Ausweitung der Aktivitäten der IAA-Sektionen über ganz Europa bis nach Osteuropa und in den Süden Italiens und nach Spanien mit sich. Zugleich bildete sich ein Gefälle von marxistisch eingefärbten sozialistischen Orientierungen hin zum Anarchismus heraus. Denn die kapitalistische Innovationsoffensive traf hier auf Dorfkommunen und auf die hieraus in die Städte migrierenden Bauernarbeiter:innen, deren Widerstand hauptsächlich anarchistischer Natur war. Sie konfrontierten sich mit der staatlichen Autorität und derjenigen der Grund- und Fabrikbesitzer aus den egalitären und kommunitären Vorstellungen der »moralischen Ökonomie« heraus, die sie in jahrhundertelangen Kämpfen entwickelt hatten.(6) Während die ›erbliche‹ Klasse in den Metropolen immer reformistischer wurde (in England geleitet von den Gewerkschaften und zum Ausdruck gebracht in der Forderung nach dem »Reform Act« von 1867, nachhängend auf dem Kontinent), »emigrierte die Revolution in die Peripherien«, wie der englische marxistische Historiker Eric Hobsbawm es ausdrückte.(7) Engels hatte Marx früh vor der wachsenden Verbürgerlichung der Arbeiter gewarnt (8), der sich aber in seinem Wunsch nach Einfluss wenig darum kümmerte und es in Verkennung der Entwicklungsdynamik für eine vorübergehende Erscheinung hielt.(9)
Der Baseler IAA-Kongress im September 1869 war die einzige und letzte Versammlung, in der laut Max Nettlau, Sozialisten und Anarchisten aller Richtungen ruhig diskutierten und sich über manches verständigten.(10) Es ging u.a. um Fragen der Machteroberung im Staat und um Gemeineigentum an Grund und Boden und die von Bakunin befürwortete Abschaffung des diesbezüglichen Erbrechts, die Marx in dieser Form ablehnte und durch vorläufige Maßnahmen etwa steuerlicher Natur ersetzen wollte. Milde Kontroversen noch in Anbetracht der kommenden Ereignisse.
Nicht nur Marx gegen Bakunin. Die inhaltlichen Differenzen
Die Unterstützung der Pariser Kommune 1870 aus den Sektionen, die Hilfe für die Flüchtlinge und Marx‘ Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich« brachte die Internationale auf den Höhepunkt ihrer Bekanntheit und ihres Ruhms. Zugleich gewann der Anarchismus in der Internationalen an Bedeutung. Ende 1869 gab es IAA-Zeitungen in Genf, Le Locle, Barcelona, Neapel, die alle Bakunins Ideen verbreiteten. Marx war alarmiert: »Aus einliegender Égalité siehst Du, wie frech il Signor Bakunin wird. Dieser Bursche disponiert jetzt über 4 Organe der Internationale (›Égalité‹, ›Progrès‹ in Locle, ›Federacion‹, Barcelona, und ›Egualienza‹, Naples). Er sucht in Deutschland Fuß zu fassen […]«(11) Hierin nur den Kampf zweier Giganten um Macht und Einfluss zu sehen, wäre jedoch verkürzt. Im Konflikt kamen konträre und unvereinbare Vorstellungen und Strategien zum Ausdruck. Was die theoretischen Konzeptionen anlangt, so wird Marx oft der höhere Rang zuerkannt. Zu Unrecht, denn die Ansätze waren völlig unterschiedlich. Seiner war objektivistisch, die Bausteine seiner Theorie waren Ware, Wert, Geld, Lohn, Preis, Profit, Maschinen. Die Arbeiter:innen als Subjekte kommen darin nur in der armseligen Form der Lebensmittel in der kapitalistischen Kostenkalkulation und als »elastische menschliche Naturschranke«(12) im Verwertungsprozess vor. Als kämpfende Subjekte der Geschichte und Grund der historischen Dynamik, wie noch im ersten Manuskript der Philosophisch-ökonomischen Manuskripte von 1844(13), war für sie jetzt kein Platz mehr, sonst hätte Marx sein Werk nicht »Das Kapital« genannt, sondern ›Die Arbeiter‹. Die Anarchist:innen hingegen stellten Subjekte in den Mittelpunkt, ihre antiautoritären Einstellungen, Sehnsucht nach Freiheit und die daraus resultierenden Kämpfe. Das ist natürlich theoretisch nicht exakt zu fassen, oder gar zum Bestandteil mathematischer Formeln zu machen. Es öffnet aber den Blick für die Menschen, die Geschichte machen.
Vor allem öffnet es den Blick für die revolutionären Bewegungen in der Peripherie: der Bäuer:innen, der Bauernarbeiter:innen, der Landarbeiter:innen in Spanien, Italien, Polen, Russland. Hier fassten die Anarchist:innen Fuß, während die Marxist:innen ihr Betätigungsfeld in erster Linie bei den metropolitanen Arbeiter:innen suchten, in Verkennung der Tatsache, dass sie zunehmend verbürgerlichten und die Revolution auswanderte. Es waren Bakunin, de Paepe, Kropotkin, die dieser Tatsache Rechnung trugen und viele andere Anarchist:innen, die sich jetzt wie in den kommenden Jahrzehnten in die peripheren Bewegungen einbrachten, vor allem in Russland.(14)
Für Marx und Engels stand die Entwicklung der Großfabrik und ihre disziplinarische Ordnung im Zentrum, die zur Reife gebracht und dann von den Arbeitern übernommen werden sollte. Die Anarchist:innen sahen sich Disziplin und Leitern gegenüber und befürworteten kleinere Produktionseinheiten mit größerer Autonomie der Produzenten. Engels hat diesen Gegensatz in einem Brief an Theodor Cuno thematisiert.(15)
Die Spaltung der Internationale
Es ist klar, dass der Konflikt zum Ausgangspunkt der Spaltung in der IAA werden musste, und zwar nicht nur zwischen Marxist:innen und Anarchist:innen, sondern auch zwischen dem von Marx dominierten Zentralrat und den kontinentalen Sektionen, in denen Anarchist:innen dominierten. Den Spaltungsprozess heizte Marx mit der Einberufung einer IAA-Konferenz nach London für den 17. - 23. September 1871 an, noch vor einem längst fälligen Kongress. Der Generalrat lud nur ausgewählte Sektionen und Mitglieder ein, keine Anarchist:innen natürlich. In Abstimmungen wurde auf sein Betreiben die Macht des Generalrats für die zukünftige Behandlung eigensinniger Sektionen und Personen gestärkt. Arbeiter sollten erzogen, und eine politische Partei der Arbeiter sollte geschaffen werden. In einer Rede unmittelbar nach Abschluss der Konferenz forderte Marx die Herstellung einer proletarischen Diktatur.(16) Wenn Marx den Sieg in der Tasche glaubte, so hatte er sich geirrt. Es war ein Pyrrhussieg. Die neapolitanische und Turiner Sektion weigerten sich, die Konferenzbeschlüsse zu akzeptieren. Ähnliche Nachrichten kamen aus Spanien und Belgien. Die jurassische Sektion erklärte die Londoner Konferenz für ungültig, weil sie nicht repräsentativ gewesen sei. Sie berief einen eigenen Kongress in Sonvilier zur Begründung einer oppositionellen Strömung ein. In vielen Ländern wurden die Entscheidungen aus London als inakzeptable Einmischung in die lokale Autonomie gewertet. Das alles war, in Collins‘ Worten(17), der Beginn eines offenen Kriegs. Eines zerstörerischen Kriegs, was das Verhältnis zu den Arbeiter:innen betrifft. Denn die fruchtbare Entwicklung hin zur tragfähigen Beziehungen zwischen ihnen und Intellektuellen der Internationale, ja auch die Chance für diese Intellektuellen, die Arbeiter:innen kennenzulernen und von ihnen zu lernen, hatten ihr Ende gefunden. Eine historische Gelegenheit war verpasst. Letztlich ist der Verfall der Internationale auf die mangelnde Orientierung an der wirklichen Bewegung der Arbeiter:innen zurückzuführen.
Der 5. Kongress der Internationale vom 2. - 7. September 1872 in Den Haag, der einzige, an dem Marx persönlich teilnahm, war auch der letzte, an denen die ›Autoritären‹ und Anarchisten gemeinsam teilnahmen. Die Streitpunkte sind hier nicht von Interesse. Eher die Verlegung des Generalrats auf Engels Antrag nach New York, wohl um ihn nicht in anarchistische Hände fallen zu lassen, was eher einer Flucht gleichkam. Marx hielt hier seine letzte Rede im Rahmen der IAA, deren Auflösung im Juli 1876 von 11 Mitgliedern des Generalrats beschlossen wurde. Bis auf einen Kongress des marxistischen Flügels im September 1873 in Genf, der laut Marx mit einem Fiasko endete, waren die folgenden Kongresse Veranstaltungen der ›Antiautoritären‹, zumeist Anarchist:innen: ab 15. September 1872 in Saint-Imier (Schweiz), am 1.-6. September in Genf mit Beschneidung der Befugnisse des Generalrats, am 7.-13. September 1874 in Brüssel, wo auch russische Vertreter teilnahmen, am 26.-29.Oktober 1876 in Bern, am 6.-8. September in Verviers sogar mit griechischen und ägyptischen Vertretern und, als letztes, der Kongress der anarchistischen Internationale in London, der auf den Zusammenschluss anarchistischer und sozialrevolutionärer Gruppen abzielte.
Es ist sicher richtig, wie manchmal geltend gemacht wird, dass die Zeit für eine Organisation wie die Internationale vorbei war. Die Kämpfe mussten sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Angriffsform der Großfabrik in der letzten Phase des ausgehenden Jahrhunderts in Richtung (Anarcho-)Syndikalismus ändern, der Zugriff des Kapitalismus mit der Eisenbahnoffensive in die Peripherien verstärkt auf Kämpfe der Bäuer:innen und Bauernarbeiter:innen treffen. Die Verbürgerlichung der metropolitanen Arbeiter:innen und ihrer Parteien und Gewerkschaften nahm zu und die Emigration der Revolution in die europäischen Gürtel zeigte sich mit zunehmender Radikalität.
Die fordistisch/tayloristische Offensive als amerikanische Reaktion auf die zum Ende des Jahrhunderts zunehmenden Kämpfe in der Fabrik und auf dem Land griff direkt in den Kern des Arbeitsverhaltens und die sozialen Zusammenhänge, und wurde mit neuen Kampfformen konfrontiert. Besonders in Russland bedrohten revolutionäre Bewegungen der an der »moralischen Ökonomie« orientierten Bäuer:innen und Bauernarbeiter:innen nicht nur das kapitalistische Kommando, sondern auch den Zarismus mit den Höhepunkten in den Jahren 1902 und 1905. In beiden Aufständen brachten sich zunehmend Anarchist:innen ein, mit einem hohen Anteil jüdischer Kämpfer:innen mit ihrem Hass auf den antisemitischen Zarismus und seine Pogrome. Auf der anderen Seite nahm der bolschewistische Marxismus zunehmend schon vor dem Ersten Weltkrieg fordistische Orientierungen in seine Strategiekonzepte auf. Das mündete in die erbitterte Konfrontation der Revolution der Bäuer:innen und Bauernarbeiter:innen im Frühjahr 1917 mit dem leninistischen Bolschewismus als Nachfolger des Zarismus im roten Oktober.(18)
Noch zur Zeit von Marx standen Markt und Tausch im Mittelpunkt der Theorieentwicklung. Obwohl Marx selbst von der Maschinerie als kapitalistischem Kampfmittel sprach, trug auch er der Eisenbahnoffensive als innovativen Vorstoß gesellschaftlicher Erneuerung keine Rechnung. Ebenso wenig die damalige bürgerliche Theoriebildung. Das änderte sich mit der fordistisch/tayloristischen Offensive. Mit Joseph Schumpeter trat nun erstmals ein kapitalistischer Theoretiker auf den Plan, der den technologischen Angriff als Mittel der umfassenden nicht nur produktiven, sondern gesamtgesellschaftlichen Transformation im Kern der historischen Entwicklung sah. Inzwischen erleben wir eine weitere ähnliche Innovationsoffensive mit dem Angriff der Informationstechnologien. Auch die heutigen revolutionären Antworten darauf wären von den Peripherien her aufzuschlüsseln, vom Zapatismus her und den Kämpfen in Lateinamerika, mit den gleichermaßen an der »moralischen Ökonomie« orientierten Kämpfen der afrikanischen Bäuer:ìnnen. Aus dieser Perspektive heraus müssen wir unsere eigenen Vorstellungen von revolutionärer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten. Dies hatten Louise Michel, Michail Bakunin und Peter Kropotkin im Respekt vor der revolutionären Subjektivität der Unterklassen getan. Von ihnen können und müssen wir lernen. Denn der aktuelle Zyklus der Auseinandersetzungen ähnelt gerade im erreichten Stadium demjenigen des Eisenbahnzyklus, in dem die Internationale zur Entfaltung gebracht wurde. Wir müssen die damaligen Erfahrungen für unsere eigenen Kämpfe fruchtbar machen. Vor allem müssen wir die Orientierung an den wirklichen Bewegungen suchen und damit die Lehren aus der Spaltung der Internationale und ihrem Scheitern ziehen.
Verwendete Literatur
(1) Freymond, Jaques (1971), La Première Internationale. Recueil de Documents. Introduction., Genève.
(2) Vgl. Welskopp, Thomas (2018): Karl Marx und die Arbeiterbewegung, in: Beatrix Bouvier, Rainer Auts (Hgg.): Karl Marx 1818-1883. Leben. Werk. Zeit, Trier: WBG Darmstadt, S. 300-315, hier: S. 301.
(3) Vgl. Collins, Henry; Abramsky, Chimen (1965), Karl Marx and the British labour movement, London: Macmillan, S. 30 ff.
(4) Vgl. Colloques Internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique (1968), La Première Internationale, Paris: Éditions du Centre national de la recherche scientifique, S. 124 ff.
(5) Vgl. Maritch, Sreten (1930), Histoire du mouvement social sous le second empire a Lyon, Paris: Rousseau & Cie, S. 43, S. 248, S. 266.
(6) Vgl. Hartmann, Detlef (2019), Krise, Kämpfe, Kriege, Bd. 2. Innovative Barbarei gegen soziale Revolution. Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert, Berlin, Hamburg: AssoziationA, S. 26 ff. et passim.
(7) Hobsbawm, Eric J. (1969), Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 128.
(8) Vgl. Engels, Friedrich (1978): Brief an Karl Marx vom 7.9.1858, in Karl Marx und ders.: Werke, Bd. 29, Berlin: Dietz S. 357 f, hier: S. 358.
(9) Vgl. Collins, Henry; Abramsky, Chimen (siehe oben), Karl Marx and the British labour movement, S. 98.
(10) Vgl. Nettlau, Max (1927), Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren von 1859-1880, Berlin: Dietz, S. 125.
(11) Marx, Karl (1974), Brief an Engels vom 17.12.1869, Friedrich Engels und ders.: Werke, Bd. 32, Berlin: Dietz, S. 421-423, hier: S. 421.
(12) Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie,Werke Bd. 23, Berlin: Dietz, S. 425.
(13) Vgl. Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philsophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Erstes Manuskript, in Friedrich Engels und ders.: Werke Bd. 40, Berlin: Dietz, S. 471 - 522.
(14) Vgl. Vive la révolution sociale, a bas la démocratie ! Anarchistes de Russie dans l’insurrection de 1905 (2016),Paris: Mutines séditions.
(15) Vgl. Engels, Friedrich (1976),:Brief an Theodor Cuno vom 24.1.1872, Karl Marx und ders.: Werke Bd. 33, Berlin: Dietz, S. 387-393, hier: S. 387.
(16) Zu alldem vgl.: Collins, Henry; Abramsky, Chimen (siehe oben), Karl Marx and the British labour movement, S. 230 ff.; Stekloff, G. M.(1968), History oft the First International, New York: Martin Lawrence Limited, S. 204 ff.; Freymond, Jaques; Molnár, Miklós (1966), The Rise and Fall of the First International, in: Milorad Drachkovitch (Hg), The Revolutionary Internationals, 1864-1943, Stanford: Stanford University Press, S. 3-35, hier: S. 26 ff.
(17) Vgl. Collins, Henry; Abramsky, Chimen (siehe oben), Karl Marx and the British labour movement, S. 234.
(18) Vgl. Hartmann, Detlef (siehe oben): Krise, Kämpfe, Kriege, Bd. 2, Kap. 1-3.