Das Programm der Kantine »Sabot« ist online!

Hier auf unserer Website findet ihr nun den Ablaufplan und Infos zu den einzelnen Programmpunkten bei der Kantine »Sabot«. Gerne verbreiten, teilen, weiterzählen… Einige Dinge werden wir noch ergänzen, wie immer können sich auch Änderungen ergeben.

Außerdem sind die Kantine-Plakate aus dem Druck gekommen – dieses Jahr in neuem Design und in zwei Ausführungen (gelb und blau)! Wenn ihr in euerer Stadt bzw. euren Lieblingslocations Plakate aufhängen und uns mindestens fünf Stück abnehmen wollt, meldet euch über das Kontaktformular – wir schicken euch dann welche zu.

Zur Geschichte der italienischen Linken nach 1945: Eine Kantine-Veranstaltungsreihe vom 20.04. bis 04.05.23


Uns für die Kantine ein Jahr lang auf ein einziges Thema festzulegen, ist uns diesmal besonders schwer gefallen. Deswegen haben wir uns, gewissermaßen als Nachtrag zur Kantine »Gramsci«, für eine kleine zusätzliche Veranstaltungsreihe zur Geschichte der italienischen Linken nach 1945 entschieden.

Als Auftakt zeigen wir am 20.04. den Film Senza chiedere permesso (»Ohne um Erlaubnis zu fragen«), der auf die Klassenkämpfe in 1960er bis 80er-Jahre zurückschaut, anhand von Filmaufnahmen, mit denen Regisseurs Pietro Perroti als junger Arbeiter den Arbeitsalltag, wilde Streiks, Demonstrationen und Werksbesetzungen in den FIAT-Werken in Turin dokumentierte, Maximilian Hauer wird in den Film einführen und die anschließende Diskussion leiten (ausführlichere Infos hier).

Am 03.05. wird sich Maurizio Coppola online aus Neapel zuschalten und darüber zu berichten, wie sich Migrant_innen und italienischen Arbeiter_innen in Neapel in der Tradition des Mutualismus organisieren, um sich gemeinsam gegen zunehmende Angriffe durch die rechte Regierung auf ihre Rechte zur Wehr zu setzen und so eine neue klassenkämpferische Praxis zu entwickeln. Die Teilnahme ist online via Zoom und vor Ort möglich (Details hier – außerdem könnt ihr in unserem Audioarchiv ein Interview mit Maurizio Coppola anhören, geführt von Radio Corax).

Den Abschluss wird am 04.05. Dominik Götz mit einem Vortrag machen, in dem er anhand der Gruppe Lotta Feminista (»feministischer Kampf«) das Verhältnis von feministischer und operaistischer Bewegung diskutiert. Lotta Feminista, 1971 von Mariarosa Dalla Costa und anderen Frauen in verschiedenen teilen Italiens ins Leben gerufen, rückte gemäß der operaistischen Tradition die Klassenkämpfe ins Zentrum der Theorie des Kapitalismus, fasste allerdings nicht mehr allein die Lohnarbeiter als revolutionäres Subjekt auf, sondern auch Hausfrauen, Arbeitslos und die Schwarze Bewegung.

Wir freuen uns darauf, gemeinsam mit euch über den deutschen Tellerrand hinauszublicken und darüber zu diskutieren, welche Schlüsse wir aus den Kämpfen zu anderen Zeiten und an anderen Orten ziehen können.

Es ist soweit: Wir laden ein zur Kantine »Sabot« zur Geschichte und Theorie des Anarchismus!

Wie auch immer man den Anarchismus politisch bewerten mag: Er ist in unserer Gegenwart eine lebendige Bewegung. Er ist Bezugspunkt in den Platzbesetzungsbewegungen, in der Klimabewegung, in Mietkämpfen, in autonomen Jugendzentren oder Hausprojekten und in Versuchen der Stadtteilvernetzung. Anarchosyndikalist:innen organisieren Lohnkämpfe, oft auch in Branchen, die nicht von der etablierten Gewerkschaftsarbeit abgedeckt werden. Anarchist:innen der verschiedenen Strömungen sind bundesweit und weltweit vernetzt, eine große Zahl an Zeitschriften, Fanzines und „grauer Literatur“ verbreiten anarchistisches Gedankengut.

Der Anarchismus ist anziehend, weil er eine Haltung der Unversöhnlichkeit und des Willens zum Ungehorsam verkörpert. Er formuliert eine Skepsis gegenüber Hierarchien, Bürokratismus und formalisierten Organisationsstrukturen und ist dennoch ständig mit der Frage beschäftigt, wie sich Individuen in der Gesellschaft organisieren sollten. Er macht die individuelle Freiheit zum Maßstab von Befreiung überhaupt und sucht gleichzeitig nach der Erfahrung von gelungener Kollektivität. Er artikuliert eine scharfe Kritik an den bestehenden Verhältnissen und beharrt darauf, dass eine andere Gesellschaft jenseits von Nationalstaat und Kapitalismus möglich ist. Er ist verbunden mit Aufstand und direkter Aktion – auch wenn sich verschiedene Strömungen des Anarchismus über die richtigen Mittel der Veränderung immer wieder gestritten haben.

In den letzten Jahren hat sich das Programm der Kantine immer wieder einem einzelnen Denker oder einer einzelnen Denkerin gewidmet und deren Werk und Biografie zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht. Im Gegensatz dazu widmen wir uns in diesem Jahr der Theorie und Geschichte einer ganzen Bewegung. Dazu kommt: Die meisten Personen, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, kommen aus einer Tradition des marxistischen Denkens und sind im Kontext der kritischen Theorie verortet. Wir wollen uns, aus dieser Auseinandersetzung kommend, dem Anarchismus annähern. Das heißt, dass wir keineswegs alles über den Anarchismus wissen und dem Publikum eine reine Lehre oder ein fertiges Urteil über den Anarchismus präsentieren können oder wollen. Wir wollen mit euch und den eingeladenen Referent:innen über den Anarchismus diskutieren und uns mit den Fragen beschäftigen, die der Anarchismus aufwirft.

Der Anarchismus war historisch ein wichtiger Teil der Arbeiter:innenbewegung. Die anarchistische Position war insbesondere in der Frühphase des Kapitalismus mit (wilden) Streikbewegungen, Subsistenzkämpfen, Selbstorganisierungsversuchen in der (ländlichen oder städtischen) Produktion und Sabotageaktionen verbunden. Dafür steht der Sabot – der Holzschuh, der von französischen Anarchosyndikalist:innen als Symbol im Kampf um den 8-Stunden-Tag verwendet wurde. Aus diesem Kontext stammt auch der Begriff der Sabotage – er geht zurück auf den schlurfenden Gang von Arbeiter:innen in Holzschuhen, mit dem sie den Arbeitsprozess, als eine Form des Protests, verlangsamten (frz. saboter = “in Holzschuhen umhertappen, derb auftreten”). Einer etwas kämpferischeren Erzählung nach haben Arbeiter:innen den Sabot in den Fabriken und Manufakturen in die Maschinen geworfen, um sie zu blockieren und das Regime der Lohnsklaverei für Momente zu unterbrechen – aber das gehört vielleicht auch eher dem Reich der anarchistischen Mythen und Legenden an.

Die Geschichte des anarchistischen Strangs der Arbeiter:innenbewegung scheint immer wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Dies liegt einerseits daran, dass der Anarchismus oft innerhalb informeller Verbindungen lebendig war und kaum offizielle Institutionen hervorgebracht hat, die sich um Geschichtsschreibung und Traditionsbildung kümmern. Auf der anderen Seite hat der Anarchismus keine mit dem Marxismus vergleichbare, kanonisierte Theorie hervorgebracht, sondern steht dafür, dass die praktische Erfahrung oftmals den begrifflichen Reflexionen vorausgeht. In diesem Sinne ist eine Auseinandersetzung mit dem Anarchismus nicht mit einer Abhandlung über anarchistische Theorie getan, sondern erfordert einen Blick auf die reale Bewegungsgeschichte. Nicht zuletzt haben die sozialdemokratische und oft auch die marxistische Geschichtsschreibung ein Wissen um den anarchistischen Strang der Arbeiter:innenbewegung verdrängt.

Bei unserer Auseinandersetzung mit der anarchistischen Tradition geht es uns nicht darum, sie einfach an für uns bereits feststehenden Positionen zu messen. Die Entgegensetzung zwischen Anarchismus und Kommunismus beruht oft auf historisch entstandenen Versteifungen, die einer kritischen Reflexion im Wege stehen. Der Widerspruch zwischen beiden Strömungen lässt sich aber auch nicht einfach so auflösen. Wir glauben, dass sich hinter der feindlichen Brüderschaft bzw. schwesterlichen Feindschaft sachliche Probleme und reale Schwierigkeiten verbergen. Zum Teil stellen sich uns diese Probleme heute noch und wir müssen Antworten auf sie finden. Eines dieser Probleme, auf die uns der Anarchismus stößt, ist die Stellung zum Staat.

Die Anarchist:innen lehnten es ab, den Staat zum Hebel der Revolution zu machen. Hat die Entwicklung der Oktoberrevolution dieser Ablehnung recht gegeben? Oder waren es andere Faktoren als die “Eroberung der politischen Macht”, die dann tatsächlich zur Entwicklung einer repressiven und mörderischen Staatsmaschine in der Sowjetunion führten? Und ist der Staat ausreichend erklärt, wenn er, wie in vielen anarchistischen Texten, als rein äußerliches Unterdrückungsinstrument erscheint, das eine sonst fröhlich harmonisierende Gesellschaft unter seine Fuchtel nimmt? Ist der Staat nicht vielmehr das notwendige Ergebnis einer bestimmten Form der Vergesellschaftung und damit verbundener Konflikte? Und sind diese Konflikte einfach verschwunden, wenn die offiziellen Institutionen des Staates zerstört sind?

Weitere Fragen schließen sich an: In welchem Verhältnis steht der anarchistische Anspruch auf dezentrale Organisationsformen zur Notwendigkeit einer demokratischen Planung von Produktion und Verteilung, auch in einem weltweiten Maßstab? In welchem Verhältnis stehen individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verbindlichkeit – insbesondere auch wenn es um Ressourcenknappheit, ungleiche Verteilung der Reichtümer und Kämpfe um die Verteilung von Reproduktionsaufgaben geht? Wenn wir das Ziel der Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung, von individueller und gesellschaftlicher Befreiung teilen – welche strategischen und organisatorischen Schwierigkeiten ergeben sich auf dem Weg dorthin? Ist eine augenblickliche Befreiung im Aufstand denkbar oder müssen wir uns den Notwendigkeiten des Übergangs und damit verbundenen Konflikten stellen?

Wenn wir diese Fragen sachlich diskutieren, so denken wir, können Anarchist:innen und Kommunist:innen – ohne alle inhaltlichen Differenzen einfach zu leugnen – einiges voneinander lernen. Ein produktiver Streit kann zu der Erkenntnis führen, dass sowohl die anarchistische als auch die kommunistische Theorietradition Leerstellen und Fehler beinhalten. Wir wollen euch in der ersten Augustwochenende ins Subbotnik in Chemnitz einladen, darüber mit uns zu diskutieren.

Good Bye, Kantine »Gramsci«!

Schluss, aus und vorbei! Die fünfte Kantine liegt hinter uns und wir blicken mit Freude, aber auch mit ein bisschen Wehmut auf die vergangene Woche zurück. Wie immer: ohne euch wär’s alles nicht möglich gewesen! Wir bedanken uns bei allen Besucher:innen, Referent:innen, Künstler:innen, beim Treibhaus e.V. Döbeln, beim Technik-Support KMS, bei allen Fördermittelgeber:innen, bei der Koch-Crew, WkB e.V. und beim Subbotnik! Tausend Dank gilt auch den zahlreichen Helfer:innen, die uns die gesamte Woche über an allen Ecken und Enden unterstützt haben. Wir hoffen, niemanden vergessen zu haben und falls doch, dann seht’s uns nach – der Abbau ist noch im Gange.

Wir fanden’s schön, ihr hoffentlich auch? Für Anmerkungen oder Feedback erreicht ihr uns wie immer per Mail oder Social Media. Falls ihr selbst Teil der Kantine-Gang werden möchtet und Lust habt, bei der Organisation mitzuwirken: Wir haben eine Info-Mailingliste erstellt, mit der wir zukünftig zu einem offenen Plenum einladen oder euch über andere Dinge (z.B. Lesekreise) informieren möchten. Schreibt uns gern eure Mail-Adresse, falls ihr Interesse habt. Und damit bleibt vorerst nur zu sagen: bis spätestens nächstes Jahr.

Programmänderungen am Dienstag und Donnerstag

Leider muss der Stadtrundgang mit Mike Melzer am Dienstag 13:30 Uhr ausfallen. Die gute Nachricht: es bleibt bei einem Stadtrundgang, denn wir konnten Carolin Juler zum Thema »Der NSU Komplex in Chemnitz — rechte Kontinuitäten in Chemnitz und Südwestsachen« für unser Programm gewinnen.

Außerdem neu: Am Donnerstag um 13:30 Uhr haben wir Stefan Pimmer zu »Gramsci peripher/postkolonial« zu Gast.


Ausgehend von den 1990ern in Chemnitz und dem Untertauchen des sogenannten »NSU Trios« werden den Teilnehmenden des Stadtrundganges rechte Kontinuitäten in der Stadt Chemnitz aufgezeigt. Wie und durch wen konnte der NSU in Chemnitz untertauchen? Welche rechten Strukturen herrsch(t)en in der Stadt? Welche Akteurinnen gibt es bis heute? Wie lassen sich die Verbindungen zwischen Chemnitz 2018 und den Baselballschlägerjahren ziehen? Sonstiges: In dem circa 2 Stunden andauernden Stadtrundgang im Chemnitzer Stadtzentrum gehen die Teilnehmenden an Orte in der Chemnitzer Innenstadt, die vor allem durch die rechten Aufmärsche 2018 geprägt wurden. Eingangs wird es eine Einführung in den NSU Komplex geben, um Bezüge zur aktuellen Situation und Akteurinnen in Chemnitz und Südwestsachsen herzustellen.
TW: Das Format setzt sich vor allem mit Täter*innen und Neonazis auseinander. Es wird um rechten Terror, Morde und Anschläge von Neonazis gehen, weshalb es für die Teilnehmenden durchaus bedrückend sein kann, das Gehörte zu verarbeiten.

Start des Rundgangs: Subbotnik 13:30

Ende des Rundgangs: Karl-Marx-Kopf ca. 15:15

Carolin arbeitet und forscht als freiberufliche Bildungsreferentin zu den Themen NSU-Komplex, Rechte Szene in Chemnitz und Südwestsachsen und zur Gedenkarbeit für Betroffene von rechtsterroristischer Gewalt. Carolin lebt in Chemnitz und ist dort parlamentarisch und außerparlamentarisch politisch aktiv.


Stefan Pimmer: Gramsci peripher/postkolonial
Donnerstag, 04.08.22, 13:00

Ausgehend von Italien hat Gramscis Denken eine weltweite Verbreitung erfahren, die sich auch auf den »globalen Süden« erstreckt. Die Übertragung seiner Konzepte auf periphere Gesellschaften ist jedoch nicht unumstritten. Als Theoretiker der Revolution im »Westen« wird seinen Überlegungen mitunter eine eingeschränkte Gültigkeit für postkoloniale Herrschaftsverhältnisse attestiert, oder ihnen eine eurozentrische Sichtweise bescheinigt. Demgegenüber argumentiert der Vortrag, dass Gramscis politische und theoretische Interventionen oft ein großes Augenmerk auf Zentrum-Peripherie-Verhältnisse aufweisen und ihnen sogar eine postkoloniale Kondition zugrunde liegt. Dies bedeutet jedoch keinen theoretischen Freifahrtsschein für den »globalen Süden«. Der Vortrag plädiert daher für eine Übersetzungsarbeit, um gramscianische Konzepte für die Spezifika postkolonialer Verhältnisse zu sensibilisieren.

Stefan Pimmer ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Lateinamerika; zurzeit an der Universität von Buenos Aires, wo er seine Doktorarbeit zur argentinischen und lateinamerikanischen Gramsci-Rezeption schreibt.

Gramsci als Kalenderspruch – Rezeptionslinien vom Zweiten Weltkrieg bis heute

Am 27. April 1937, am heutigen Tag vor 85 Jahren, starb der italienische Journalist und marxistische Politiker Antonio Gramsci. Er war bereits elf Jahre in politischer Haft, als ihm krankheitsgeschwächt und fast völlig isoliert von der Außenwelt vom faschistischen Führer, dem Duce, die Freilassung aus dem Gefängnis gewährt wurde. Das Krankenhaus, in das er bereits lange Zeit zuvor verlegt wurde, verließ er allerdings nicht mehr. Seine Freilassung war zynisch, da der einstige Führer der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) schon längst keine Gefahr mehr für seinen ehemaligen Parteigenossen und Renegaten Mussolini darstellte. »Ich bin«, schrieb er bereits 1932 aus dem Gefängnis an seine Schwägerin Tatjana Schucht, »an einen solchen Punkt gelangt, dass meine Widerstandskräfte kurz vor dem Zusammenbruch stehen, ich weiß nicht mit was für Konsequenzen.«

Gramsci hinterließ ein gewaltiges fragmentarisches Werk mit Gedanken und Notizen zur politischen Theorie, der Geschichte, Philosophie, Sprache und Kultur Italiens sowie Überlegungen zu Organisation und Adressaten einer revolutionären Theorie im Marxismus. Die insgesamt 32 Gefängnishefte waren nicht zur Veröffentlichung gedacht und nur erste Vorarbeiten Gramscis. Sie dokumentieren den Versuch einer Reflexion auf die Erfahrung einer gescheiterten proletarischen Revolution und der Machtergreifung des Faschismus in Italien und damit einer kritischen Betrachtung orthodox-marxistischer Theorie insgesamt. Er bezeichnete sie als »bloße Behauptungen«. Und fügte hinzu: »Manche von ihnen könnten bei den weiteren Untersuchungen aufgegeben werden, und womöglich könnte sich die entgegengesetzte Behauptung als die richtige erweisen.«


Neben der Form seines Werkes scheint eine weitere Ursache für die zwar immer wieder enthusiastische, aber doch in weiten Teilen selektive Rezeption seines Werkes eben dessen Vielschichtigkeit zu sein. Die stärkere Betonung der kulturellen und politischen Sphäre in der Gesellschaft gegenüber dem Ökonomischen eignete sich nicht für eine Rezeptionslinie in der DDR. Gramsci wurde zwar als KPI-Führer und Opfer des Faschismus, als Antifaschist, Respekt zuteil, aber seine Arbeiten stießen hingegen auf wenig Interesse. Selbst einige wenige Übersetzungen seiner Texte und Notizen ab den 1980er Jahren konnten die hegemoniale Theorie des »dialektischen Materialismus« (Diamat) nicht herausfordern.

Ein anderes Bild zeigte sich im Westen. Auf allen politischen Seiten schien Gramsci zur Neuausrichtung politischer Strategien und Analysen zu taugen. Ein extremes Beispiel sind die Arbeiten von Alain de Benoist, dem Vordenker der Nouvelle Droite in Frankreich, und dessen Adepten hierzulande, die darauf zielen, den »vorpolitischen Raum« von den »Links- und Neoliberalen« zurückzugewinnen (»Metapolitik«). Aber auch auf linker Seite pickt man sich oft die guten Sprüche zur Gestaltung des eigenen Kalenders aus dem Notizblock Gramscis heraus.

Bereits 1987, in einem Text zum 50. Todestag des Kommunisten, konstatierte Elmar Altvater, Gramscis Werk werde vor allem in der westdeutschen Linken immer nur »gefiltert« wahrgenommen und rezipiert. Beginnend in den 1960er Jahren mit der Herausgabe einer Anthologie (»Philosophie der Praxis«) markierte Christian Riechers Gramsci zwar als heterodoxen und revolutionären Philosophen, der den Voluntarismus im Marxismus betont, entwertete ihn aber implizit als Idealisten und Repräsentanten einer insgesamt gescheiterten italienischen Linken.

Später, mit der aufkommenden 68-Bewegung, kam es erstmals zu einem gewissen Gramsci-Enthusiasmus – verbunden mit Fragen der Organisation und Militanz. Gefiltert durch die realen Klassenkämpfe mit spontanen Streiks und Fabrikbesetzungen in Italien und Frankreich. Gerade Italien zeigt eine wichtige Parallele zu Deutschland, in der sich Gewalt als Mittel der politischen Durchsetzung in Selbstzweck verwandelte und damit desavouierte. Der italienische Operaismus jener Zeit war dezidiert anti-gramscianisch. Die deutsche Linke nahm Gramsci – wenn überhaupt – vor allem über den französischen Strukturalismus wahr, allen voran gefiltert durch Louis Althusser und dessen Überlegungen zu »ideologischen« und »repressiven Staatsapparaten«. Staatsapparate seien in der Funktion Ausdruck von Antagonismen im ökonomischen Unterbau. Doch war Gramsci nicht derjenige, der dem Überbau eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Basis zubilligte?

Zu guter Letzt waren Teile der Gefängnishefte auch Vehikel allerhand reformorientierter Politik. Als sich Ende der 1970er Jahre viele Debatten zu Fragen der Hegemonie von Organisationen, Institutionen und den dazugehörigen Strategien entspannen, schien ein regelrechtes »Gramsci-Fieber« auszubrechen. Man versprach sich eine langfristige Perspektive auf »eurokommunistische« Reformen hin zum Sozialismus. Selbst die deutsche Sozialdemokratie versuchte sich Mitte der 1980er Jahre und mit dem Beginn einer sogenannten »Konservativen Wende« an einer Strategieänderung mit Bezugnahme auf Gramsci. Man schreckte nicht davor zurück, sich die Begriffe der Leute anzueignen, die man wenig zuvor noch mit Berufsverboten belegte.

Heute tauchen Begriffe wie »Subalterne« oder »Hegemonie« vor allem als Schlagworte einer nicht klar zu umreißenden Theorierichtung auf, die gern mit der Sammelbezeichnung »Cultural Studies« versehen wird, deren Entstehung in Großbritannien stark mit dem Namen Stuart Hall verbunden ist. Gramsci ist dort für die New Left schon länger ein Begriff und Hall hatte für das fragmentarische Werk auch ein gewisses Problembewusstsein: »I do not claim that, in any simple way, Gramsci ›has the answers‹ or ›holds the key‹ to our present troubles. I do believe that we must ›think‹ our problems in a Gramscian way – which is different.« Auch für die Postcolonial Studies hat Gramsci mit seinem non-eurocentric knowledge eine große Bedeutung.

Für alle hier genannten Rezeptionslinien gilt der gleiche Umstand: Weder auf Englisch noch auf Französisch gibt es eine Gesamtausgabe der Gefängnishefte. In Deutschland gibt es die ab Anfang der 1990er vom Argument-Verlag herausgegebene und vom Institut für kritische Theorie (Inkrit) erstellte und sorgfältig editierte »Kritische Gesamtausgabe« orientiert an der italienischen Ausgabe. Reichlich spät für eine lange »erfolgreiche« Rezeptionsgeschichte.

Für einen Kalenderspruch reicht‘s.

Gramsci Lesekreis

Da die Kantine erst im August stattfindet, haben wir einen Lesekreis gegründet, der sich bis dahin mit Gramscis theoretischen Beiträgen befassen soll!

Wir treffen uns einmal im Monat und widmen uns bestimmten Textausschnitten zu Gramsci. Die Texte und Termine werden gemeinsam am Ende jeder Sitzung ausgewählt.

In den ersten Besprechungen ging es um die Begriffe von Organischer Krise und Passiver Revolutionen bei Gramsci.

Im Folgenden erhalt Ihr die wichtigsten Informationen zum Lesekreis:

Wann: Das nächste Treffen findet am 13.04. um 18 Uhr statt. 

Wo: Online via Zoom

Anmeldung: Schreibt uns eine Nachricht bei Facebook: Kantine Festival, Instragram: Kantine »Gramsci« (@kantine_festival) oder per Kontaktformular

Genauere Infos zum Text, zum Ablauf unserer Treffen sowie den Zoom-Link erhaltet ihr via Privatnachricht.

Ankündigung der Kantine »Gramsci« vom 01. bis 07. August 2022

»Wir müssen für zwanzig Jahre verhindern, dass dieses Hirn funktioniert.«

Mit diesen Worten endete 1928 die Anklage des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. 1891 auf Sardinien geboren, war Gramsci bis zu seiner Verhaftung einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Arbeiterbewegung und intellektueller Widersacher des Faschismus unter Benito Mussolini. Dass Gramscis Hirn anders als von den Faschisten erhofft auch noch während seiner Haft „funktionierte“, davon zeugen die während dieser Zeit entstandenen Notizen, die bis heute als Gefängnishefte einen prominenten Platz in der marxistischen Theoriebildung einnehmen.

Jenseits von mechanistischen Ableitungen des gesellschaftlichen “Überbaus” aus der ökonomischen “Basis” entwickelt Gramsci in den Gefängnisheften eine Perspektive auf die Kultur, die Ideenwelt und das politische Leben einer Gesellschaft, die diese in ihren jeweiligen Eigenlogiken und ihren Rückwirkungen auf die kapitalistische Produktionsweise ernst nimmt. Möglich wird so eine präzise und detailreiche Analyse des Alltagslebens, des staatlichen Handelns, der kapitalistischen Krisen und ihrer Bewältigung sowie der verschiedenen Klassen und Interessengruppen in einer Gesellschaft.
Mit seinen Überlegungen zur Hegemonie, zur Erziehung und politischen Führung widmete sich Gramsci außerdem strategischen Fragestellungen und beeinflusst bis heute unterschiedliche linke Strömungen im Nachdenken darüber, wie Veränderung überhaupt möglich ist.

Veränderung war zeitlebens auch Ziel von Gramscis politischem Wirken. Als Student nach Turin gekommen, strebte Gramsci während der sogenannten „roten Jahre“ 1919/20 als Autor verschiedener Zeitungen und Mitglied der Partito Socialista Italiano (PSI) den Aufbau einer kommunistischen Massenbewegung an. Mit der Dritten Internationalen, die sich gegen Sozialdemokratie und Reformismus richtete, spaltete sich wie auch in anderen europäischen Ländern die italienische Linke. Gramsci gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Partito Comunista Italiano (PCI) nach sowjetischem Vorbild, deren Vorsitzender er 1924 werden sollte. 

In dieser Zeit, als die italienische Linke interne Kämpfe austrug, erstarkten die faschistischen Kräfte in Italien. Im Oktober 1922 wurde Benito Mussolini nach dem “Marsch auf Rom” zum Ministerpräsidenten ernannt. Gramsci setzte sich in der Folge mit den Fehlern des linken Lagers und der Schwäche des liberalen Staates auseinander. Im Kampf gegen den Faschismus sah Gramsci nun die dringlichste Aufgabe der Arbeiterklasse. Aufhalten konnte das Mussolini nicht, der spätestens ab 1925 totalitär herrschte. In Folge eines Attentat-Versuchs ein Jahr später ließ er die Oppositionsparteien verbieten und schränkte die Pressefreiheit ein. Mit anderen führenden Köpfen der Linken wurde Antonio Gramsci verhaftet. 1937 starb er an den gesundheitlichen Folgen der Haft.

Auf der Kantine wollen wir uns – 100 Jahre nach dem Marsch auf Rom – nicht nur mit dem zeitgeschichtlichen Kontext auseinandersetzen, in dem Gramsci gewirkt hat. Abseits von stichwortartigen Bezügen werden wir uns mit allen Interessierten eine Woche Zeit nehmen, um einen Zugang zu Gramscis Werk zu entwickeln. Wir werden auf dessen weit verzweigte Rezeptionsgeschichte blicken und wollen sein Denken auch als Werkzeug zum Verständnis der Gegenwart und der Möglichkeiten von emanzipatorischem Handeln heute diskutieren.

Achtung: Programmänderung heute

Heute gibt es einen Programmtausch: Die Lesung „Flexen“ von Mia Göhring & Sibylla Vričić Hausmann findet 11 Uhr statt, 14 Uhr hält dann Elfriede Müller den Vortrag „Die Neue Frau und das revolutionäre Selbst nach der Russischen Revolution“.