Staatlich beauftragte Praxisrelevanz der Literatur der DDR
Kritik und Zensur im Realen Sozialismus
Andrea Jäger26.7.24 18:00
Das kulturpolitische Interesse der DDR an der eigenen Literatur gilt aus heutiger Sicht oftmals als Standpunkt eines restriktiven Oktrois, das Kunst und Literatur auf Linie bringen und Kritik untersagen wollte. Historisch zutreffend ist eine solche Sicht nicht. Die Kehrseite der obrigkeitlichen Gängelung war die enorme Aufwertung der Bedeutung der Literatur, und zwar in praktischer Hinsicht. Die DDR sprach der Literatur für ihren eigenen Aufbau eine wesentliche Rolle zu. Genau das entfaltete eine eigene Anziehungskraft für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Die 50er Jahre sind geprägt von einer Aufbruchstimmung gerade auch in der Literatur, ein weltpolitisch bedeutendes Projekt, ein antifaschistisches sozialistisches Deutschland mit zu errichten. Zensur setzte freilich nicht erst mit dem sogenannten »Kahlschlagplenum« 1965 ein, sondern begleitete das Projekt von Beginn an und von Beginn an mit größter Härte. Dennoch ließen sich die Autor:innen nicht abschrecken, im Geiste der großen Bitterfelder Konferenzen gestalteten sie ihre Version einer zustimmungsfähigen Gesellschaft bis hin zur »Ankunftsliteratur« der frühen 60er Jahre. Unabhängig von Verboten kämpften die Autor:innen darin mit ihrer eigenen Kritik an der Realität des gesellschaftlichen Aufbaus, zumeist mit dem festen Entschluss, das Projekt keinesfalls in Frage zu stellen. Unverkennbar war der Versuch, sich zu arrangieren. Entsprechend betroffen waren die Autor:innen, dass die SED diesen Versuch nicht würdigte, sondern an ihm nur die unstatthafte Entzweiung wahrnahm und sanktionierte. Dieselbe Betroffenheit schlug dann prompt in Hoffnung um, als sich mit Honecker die kulturpolitischen Direktiven änderten und er versprach, auf dem Feld der Kunst keine »Tabus« mehr zu kennen – eine Hoffnung, die mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 eine staatliche Absage erhielt. Von da an kämpften die Autor:innen um ihre Anerkennung als kritische Stimmen, was ihnen im Westen den lobenden Titel »Dissident« einbrachte und im Osten den Verdacht der Staatsfeindlichkeit bekräftigte. Scharenweise wurden Künstler aus der DDR gedrängt. Die wenigsten verließen sie freiwillig, trotz aller Repression.
In diesen 30 Jahren veränderte sich das Verhältnis der Autor:innen zur DDR also sehr grundsätzlich. Um dies zu verstehen, reicht es nicht, auf die Eckdaten der Zensur zu schauen. Es ist vielmehr zu klären, worin der staatliche Auftrag an die Literatur bestand und nach welchen Maßstäben die Zensur vorging. Wie genau haben die Autor:innen den Auftrag aufgefasst, und welche Kritik entwickelten sie am realen Sozialismus. Nach der »Wende« `89 schüttelte die Öffentlichkeit den Kopf über die Anhänglichkeit so vieler SchriftstellerInnen, die in der DDR geblieben waren oder ihre Ausreise als »Exil« begriffen haben. Aber welcher gesellschaftlichen Vorstellung galt diese Anhänglichkeit?
Andrea Jäger, von 2002 bis 2022 Professorin für Neuere und Neueste Deutsche Literatur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Forschung und Veröffentlichungen insbesondere zur Literatur der DDR, zur Ausbürgerung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus der DDR und zur Literatur nach dem Systemumbruch 1989.