Die Wirtschaftsreform-Debatten im Ostblock
Bernd Gehrke23.7.24 14:00
Mit der Existenz einer arbeitsteiligen, industriell differenzierten Sowjetwirtschaft in den 1950er Jahren geriet das unter Stalin während des Industrialisierungssprungs entstandene extrem zentralistische Wirtschaftssystem in eine Krise. Dessen Grundzüge, zu denen neben der ausschließlichen Kommandogewalt der staatlichen Zentrale auch die Planung und Abrechnung in physischen Gebrauchswerteinheiten wie Tonnen oder Metern gehörte, war nach 1945 selbst auf die wirtschaftlich höher entwickelten Länder des Ostblocks übertragen worden. Seither standen Fragen danach, ob und wie die offensichtlich existierenden »Ware-Geld-Beziehungen« für eine Verbesserung des Eigeninteresses von Betriebsmanagement und Arbeiter:innen »ausgenutzt« werden können, im Fokus von Reformdebatten. Nachdem die während der Räte-Revolutionen in Polen und Ungarn 1956 unternommenen Versuche, anstehende Reformen mit der »Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe« zu verbinden, unterdrückt worden waren, wurden von der KPdSU 1962 technokratische Wirtschaftsreformen auf die Tagesordnung gesetzt, die Liberman-Reformen. In der DDR entstand das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, das in den 1970er Jahren einer neuen Rezentralisierung wich. Nur während des Prager Frühlings 1968 – und 1980/1981 – während der Solidarność-Bewegung – wurde erneut der Versuch unternommen, die Dezentralisierung des Wirtschaftssystems und die Arbeiterselbstverwaltung zu verbinden. Beide Versuche wurden blutig unterdrückt. Für jede neue Debatte über eine sozialistische Ökonomie ist die Kenntnis dieser Reformdebatten und -versuche unverzichtbar.
Bernd Gehrke ist Historiker und beschäftigt sich mit der Geschichte der DDR, der Geschichte der Arbeiterbewegung und mit Betriebskämpfen. Er gehörte zur linken Opposition in der DDR – am Ende der DDR war er in der »Vereinigten Linken« aktiv. Heute beteiligt er sich u.a. am »AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West«.