Materialistische Staatskritik
Heide GerstenbergerHeide Gerstenberger ist Sozialwissenschaftlerin, war von 1974 bis 2005 Professorin an der Universität Bremen für »Theorie des Staates und der Gesellschaft« und forscht zu einem breiten Themenspektrum.
Wir können Staatsgewalt kritisieren, indem wir ihre bürokratischen Verfahrensweisen, ihre Institutionen und die von Regierungen und Parlamenten verfolgten Strategien kritisieren. Und tatsächlich haben sich im 20. Jahrhundert wichtige Stränge materialistischer Staatstheorie entwickelt, die vor allem darauf abzielen, das Zustandekommen von Politik zu erklären. (a) Meine eigenen Arbeiten gelten zwar auch der Ermittlung und Erklärung von Staatstätigkeit, mehr aber noch der Frage, was kapitalistische Staatsgewalt eigentlich ist und wie sie entstanden ist.
Diesem Ansatz entsprechend beginne ich mit der These, dass historisch-materialistische Staatstheorie davon ausgeht, dass sich kapitalistische Gesellschaften von allen historisch vorhergehenden Gesellschaftsformen unterscheiden. Marxistinnen und Marxisten distanzieren sich deshalb von allen Konzeptionen einer überhistorisch gleichartigen Entwicklungsdynamik.
Eine solche stand bekanntlich im Zentrum der staatlich sanktionierten Lehre des Marxismus-Leninismus. (b) Insoweit sich diese Auffassung von der zielgerichteten Geschichte der Menschheit auch in den Schriften von Karl Marx findet, setzt materialistische Staatskritik auch die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten voraus. Das ist umso schwieriger, als Marx die von ihm geplante Veröffentlichung über den Staat nicht ausführen konnte. Hinterlassen hat er lediglich kritische Veröffentlichungen zu seinerzeit bekannten Theorien, Bemerkungen zu politischen Entwicklungen und einzelne Hinweise auf mögliche theoretische Konzeptionen. Dass sie zusammengenommen keineswegs eine konsistente Theorie ausmachen, konnte lange nicht wahrgenommen werden, weil der staatlich sanktionierte Marxismus-Leninismus eben lediglich eine der zunächst formulierten Versionen aufgenommen hat. Gegner und Gegnerinnen des Marxismus gilt sie oft bis heute als die einzig relevante. Postdogmatische materialistische Staatstheorie beginnt damit, diese Konzepte als das zu erkennen, was sie sind: die dogmatische Verfestigung geschichtsphilosophischer Überzeugungen.
Zu Lebzeiten von Marx war die Auffassung von der Entwicklung der Menschheit auf ein vorbestimmtes Ziel hin sehr gängig. Sie findet sich in liberalen Theorien, und sie findet sich eben auch bei Karl Marx. Während liberale Theoretiker, allen voran Georg Friedrich Hegel, in der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften bereits das Endziel menschlicher Entwicklung sehen wollten, war Marx davon überzeugt, dass die Überwindung des Kapitalismus nicht nur notwendig, sondern auch historisch möglich, wenn nicht sogar historisch unausweichlich sei.
Unter anderem enthält das Kommunistische Manifest diese Erwartungshaltung, jene politische Programmschrift, die Marx und Engels 1848 für das Treffen des Bundes der Kommunisten in London verfasst haben. (1) In dieser politischen Schrift wird erläutert, dass es in der Geschichte der Menschheit schon immer Klassen gab, der jeweilige Zustand dann aber dadurch überwunden wurde, dass die unterdrückte Klasse siegte. Das lässt sich, selbst wenn man der Rückprojektion des analytischen Konzepts der Klasse zustimmen wollte, nicht halten. Dass bereits das als Beispiel angeführte römische Reich nicht durch einen Aufstand von Sklaven untergegangen ist, war zu Lebzeiten von Marx und Engels allerdings noch nicht so eindeutig belegt wie heute. Den beiden Autoren des Kommunistischen Manifests kam es freilich vor allem auf jene historische Umwälzung an, die zum Kapitalismus führte. Ihrer Ansicht nach unterschied sie sich insoweit von allen vorherigen, als nicht nur die Form der Herrschaft, sondern auch diejenige der Produktion grundlegend verändert wurde. Zusätzlich neu sei aber auch die Herausbildung eines Repräsentativstaates. Dieser sei jedoch – und hier zitiere ich aus dem Kommunistischen Manifest – »nur ein Ausschuß, der die gemeinsamen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet«. (2)
Friedrich Engels hat diese Argumentation später fortgeführt, indem er darlegte, dass der Staat zwar aus dem Bedürfnis entstanden sei, »Klassengegensätze im Zaum zu halten«, in der Regel aber sei er dennoch »Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse«. Es sei der Staat, der die ökonomisch herrschende Klasse zur politisch herrschenden mache und ihr die Mittel zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse verschaffe. (3) Seit der Staat in die Geschichte gekommen sei, habe er von der jeweils herrschenden Klasse als Instrument ihrer Herrschaft genutzt werden können.
Dass diese Auffassung vom Staat unter organisierten Lohnarbeitskräften lange weit verbreitet war, ist nicht erstaunlich. Schließlich erlebten sie immer wieder, dass Militär gegen Streikende eingesetzt und Mitglieder ihrer Organisation zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Sie wussten von der ungleichen Behandlung vor Gericht und der Erniedrigung durch die Armenpolizei.
Nach zwei Weltkriegen und der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus wurden in nahezu allen europäischen Staaten neue sozialstaatliche Regelungen getroffen und zahlreiche Reformen nicht nur gefordert, sondern in Teilen auch tatsächlich erreicht. Dass sich die Bundesrepublik in unmittelbarer Nähe zu den Verhältnissen in der »Zone«, wie es damals hieß, befand, hat nicht nur die Entwicklung des Sozialstaates besonders gefördert, sondern auch die Bereitschaft von Politikerinnen und Politikern, mit Gewerkschaften zusammen zu arbeiten. Das allgemeine Klima der Reformen hatte Weiterungen: die Psychiatriereform zum Beispiel, und Reformen im Bildungssystem.
Obwohl linke Akademikerinnen und Akademiker an diesen Reformen mitwirkten, begannen manche von ihnen Ende der 1960er Jahre Zweifel gegenüber der möglichen Reichweite von Reformen zu entwickeln. Mit einem Aufsatz, dem sie dem Titel gaben: »Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital« (4), eröffneten Wolfgang Müller und Christel Neusüss 1971 eine theoretische Debatte, die deshalb bald als Ableitungstheorie bezeichnet wurde, weil die Beteiligten bestrebt waren, die Grundstrukturen kapitalistischer Gesellschaften aus der von Marx vorgelegten Analyse des Kapitalismus zu entwickelten, sie als logische Notwendigkeiten aus diesen Strukturen abzuleiten. Sie setzten sich nicht mit der Realität des Sozialstaates auseinander, wohl aber mit Theorien, die unterstellen, der Staat stehe außerhalb der Produktionsverhältnisse und sei eben deshalb in der Lage, soziale Zustände erfolgreich zu verändern. Dagegen stellten sie die These, dass der Staat zwar als eine Institution erscheine, die von der Gesellschaft getrennt sei, staatliche Gesetze aber immer wieder von Neuem dafür sorgen, dass die von Kapitalisten ausgebeutete Arbeitskraft auch erhalten werde, durch Arbeitsschutzgesetze und andere sozialstaatliche Maßnahmen zum Beispiel.
Damit war eine theoretische Diskussion eingeleitet, die ihren Ausgang von einer doppelten Ablehnung hatte. Abgelehnt wurde einerseits das überkommene dogmatische Verständnis des Staates als eines Instruments, dessen sich Kapitalisten einfach bedienen können, andererseits aber auch die als Revisionismus bekannte Auffassung, dass kapitalistische Staatsgewalt genutzt werden könne, um Kapitalismus zu überwinden.
Eine neue Stufe der Analyse erreichte diese Debatte als Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens und Hans Kastendiek 1974 darauf insistierten, materialistische Staatskritik dürfe nicht einfach davon ausgehen, dass es den Staat ja gibt und dann dazu übergehen, die Wirkungsweise von Staaten zu analysieren. Stattdessen müsse analysiert werden, warum Kapitalismus Staat brauche und was für eine Art Staat das sein müsse. Die Einzelheiten der Argumentation können wir uns hier schenken, hervorzuheben ist aber, dass diese Autoren erkannten, dass in bürgerlich-kapitalistischen Staaten das Verhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit die Form eines Rechtsverhältnisses annimmt. Dessen Geltung wird dann staatlich sanktioniert.
Zu den Verdiensten von Blanke, Jürgens und Kastendiek ist nicht zuletzt zu rechnen, dass sie auf die Arbeit des russischen Rechtstheoretikers Eugen Paschukanis hingewiesen haben. In seiner 1924 erstmals veröffentlichten Arbeit formulierte er die historische Besonderheit des kapitalistischen Staates in Form einer Frage: »Warum bleibt die Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, d.h. die faktische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter die andere? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an, oder – was nicht dasselbe ist – warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klassen geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?« (5)
Paschukanis – und nach ihm die Beteiligten an der staatstheoretischen Diskussion, die als Ableitungstheorie bekannt wurde und heute zumeist als Formtheorie des Staates bezeichnet wird – unterstellten, dass kapitalistische Staaten Rechtsstaaten sind, folglich alle Staatsbürger, wenn auch nicht notwendig alle Staatsbürgerinnen, gleiche Rechte haben. Zudem wiesen sie darauf hin, dass kapitalistische Staaten den Bestand an privatem Eigentum prinzipiell unangetastet lassen. Eine entsprechende Zurückhaltung war schon den Fürsten des europäischen Ancien Régime nach und nach mehr oder minder abgerungen worden. Aber erst mit der revolutionären Überwindung der Herrschaftsformen des Ancien Régime hatte die staatliche Sanktionierung privaten Eigentums zur zentralen Grundlage der neuen bürgerlichen Gesellschaften gemacht werden können.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, damit werde die soziale Voreingenommenheit kapitalistischer Staatsgewalt ganz und gar offenbar und die Kritik kapitalistischer Staatsgewalt könne damit beginnen, sich gegen die staatliche Sanktionierung von Privateigentum zu wehren. Tatsächlich aber kann der kapitalistische Staat als eine von der Gesellschaft – und damit auch von kapitalistischen Produktionsverhältnissen – getrennte Institution erscheinen, weil kapitalistische Ausbeutung – anders als alle vorhergehenden Praktiken der Ausbeutung – als Resultat von Verträgen zwischen den Eigentümern unterschiedlicher Waren in Erscheinung tritt, beziehungsweise: eben nicht direkt in Erscheinung tritt. Es ist eben nicht irgendein Grundherr, Pachtherr oder Fürst, der Abgaben und Dienste verlangt und diese Forderungen notfalls gewaltsam durchsetzt. Stattdessen basiert kapitalistische Ausbeutung auf Verträgen. Gegen die Verletzung von Verträgen kann Staatsgewalt in Anspruch genommen werden. Das gilt auch für Arbeitsverträge. Jedenfalls im Prinzip. Auch wenn die jeweils Beteiligten konkrete Einzelheiten von Arbeitsverträgen festlegen, sind deren allgemeine Bedingungen in erster Linie durch die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage auf den in Frage kommenden Arbeitsmärkten bestimmt. Da die Produktivität menschlicher Arbeitskraft in aller Regel dazu führt, dass Eigentümer und Eigentümerinnen von Produktionsmitteln mehr von ihrem Einsatz profitieren als diejenigen, denen nur ihr Arbeitspotential zu eigen ist, braucht kapitalistische Produktion vom Staat im Prinzip nicht mehr als diese Sicherung der rechtlichen Gültigkeit von Verträgen. (c)
So nachdrücklich Marx die konkreten Praktiken von Kapitalisten in seinen historisch beschreibenden Texten dargelegt und verurteilt hat, im Zentrum seiner Analyse der Funktionsweise des Kapitalismus steht eben diese Einsicht, dass die kapitalistische Form der Ausbeutung nicht darauf angewiesen ist, von raffgierigen Menschen durchgesetzt zu werden, weil die ganz normale und gewaltfreie Funktion der einmal historisch etablierten Verhältnisse Ausbeutung bewirkt.
Die Voraussetzung dieser Verhältnisse waren und sind bis heute Strategien, die arme Menschen der Möglichkeit berauben, sich und ihre Familien anders als durch Lohnarbeit zu versorgen. Die historischen Prozesse, in denen diese existentielle Auslieferung an Marktverhältnisse bewirkt wurde und bis heute immer wieder bewirkt wird, sind in materialistischen Theoriekonzepten als Prozesse der „ursprünglichen Akkumulation“ bekannt. Sie führten und führen dazu, dass zahlreiche Menschen zwar nicht sich selbst, wohl aber ihre Arbeitskraft als eine Ware auf Märkten anbieten, damit diese – während einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmten Entgelt – von jemandem produktiv eingesetzt wird, der über die dafür erforderlichen Mittel verfügt. Sofern ein Arbeitsverhältnis zustande kommt, ohne dass die einzusetzende Person selbst gekauft oder jedenfalls durch direkte Gewalt in dieses Verhältnis gezwungen wurde, wird von Staats wegen unterstellt, dass dem Arbeitsverhältnis ein von beiden Seiten freiwillig geschlossener Vertrag zugrunde liegt, es sich somit um freie Lohnarbeit handelt. In Rechtsstaaten unterliegen Verträge dem Schutz der Staatsgewalt. In kapitalistischen Gesellschaften kommt die staatliche Garantie für die Geltung von Arbeitsverträgen somit der Legalisierung kapitalistischer Ausbeutung gleich. Da der Staat diese Verträge nicht herstellt, sondern nur legalisiert, steht er formal außerhalb der Klassenverhältnisse, die kapitalistische Produktion ermöglichen.
Eben deshalb ist die Rede vom Staat als Repräsentant der Nation nicht bloße Verdummung der Bevölkerung, sondern in den rechtsstaatlichen Strukturen des Staates selbst begründet. Bei den verschiedenen Elementen, die nationale Einheit demonstrieren sollen, seien es Hymnen, Fahnen, nationale Feiertage oder die Vertretungen der Nation durch Fußballmannschaften, handelt es sich lediglich um Zugaben zur formalen Gleichheit von Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen vor dem Gesetz.
Soweit die Theorie. Ich halte die zentralen Erkenntnisse der Formtheorie des Staates weiterhin für relevant, ihre analytische Reichweite aber dennoch für sehr begrenzt. Weil in dieser Theorie die formale Trennung des Staates von der Gesellschaft als eine strukturelle Voraussetzung für kapitalistische Produktionsverhältnisse verstanden wird, ist damit zugleich die strukturelle Unabdingbarkeit freier Lohnarbeit behauptet. Denn Arbeitsverhältnisse können nur dann durch Verträge begründet werden, wenn freie Lohnarbeitskräfte auf Märkten als Anbieter ihrer Arbeitskraft als einer Ware agieren können. Wo Arbeitskraft nicht als Ware gehandelt wurde, musste im Zusammenhang dieser theoretischen Konzeption deshalb unterstellt werden, dass es sich nicht um Kapitalismus handelte, zumindest um noch nicht voll entwickelten. Entsprechendes wurde für kapitalistische Staatsgewalt unterstellt. Der Formtheorie des kapitalistischen Staates zufolge setzt entwickelter Kapitalismus formale Rechtsgleichheit voraus. Folglich, so wurde mehr oder minder deutlich unterstellt, wird sich diese zusammen mit kapitalistischer Produktion auch entwickeln müssen. Wer sich mit entwicklungstheoretischen Konzeptionen des mainstream auskennt, wird Übereinstimmungen erkennen. Bis vor sehr kurzer Zeit dominierte von rechts bis links die Annahme einer nachholenden Entwicklung auf die Strukturen hin, die sich in den zuerst kapitalistisch gewordenen Gesellschaften durchgesetzt hatten.
Meine eigenen Forschungen zur historischen Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt sind durch diesen Verzicht auf historische Analyse provoziert worden. Im Ergebnis hat sich zunächst gezeigt, dass formale Rechtsgleichheit nicht etwa aus bereits durchgesetzten kapitalistischen Strukturen erwuchs, sondern aus Kämpfen gegen staatlich geschaffene, beziehungsweise sanktionierte Ungleichheiten in europäischen Gesellschaften des Ancien Régime, seien dies rechtlich sanktionierte Standesunterschiede oder rechtlich sanktionierte Handelsmonopole sowie Ämter, die private Aneignung begünstigten. Was durch die theoretische und praktische Kritik an diesen Verhältnissen schließlich bewirkt wurde, war bürgerliche – d.h. auf formaler Gleichheit und dem Schutz des Privateigentums beruhende –, aber nicht notwendig kapitalistische Staatsgewalt. In der Formtheorie ist dieser Unterschied ebenso ausgeschlossen wie im Marxismus-Leninismus. Tatsächlich aber hat die Französische Revolution, die von sozialistischen Revolutionären traditionell als gleichzeitiger Beginn von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft gefeiert wird, zwar einen von der Gesellschaft getrennten Staat, aber keine kapitalistische Gesellschaft hervorgebracht. Die Beschäftigung mit diesen lange zurückliegenden Ereignissen liegt nicht auf der Hand. Weil aber die Entwicklung des französischen Staates allen bislang entwickelten materialistischen Theorien kapitalistischer Staatsgewalt widerspricht, kann uns ihre Analyse, so hoffe ich jedenfalls, dabei helfen, die Entwicklung kapitalistischer Staatsgewalt im globalisierten Kapitalismus theoretisch zu fassen. Schließlich passt auch sie in keine dieser theoretischen Konzeptionen.
Zurück deshalb zur Französischen Revolution. Sie konnte keine kapitalistische Gesellschaft hervorbringen, weil zwei Voraussetzungen kapitalistischer Produktion nicht gegeben waren: Weder gab es ein ausreichendes Angebot an potentiellen Lohnarbeitskräften, noch ausreichende Kaufkraft für Waren, die kapitalistisch produziert wurden. In Frankreich gab es zwar sowohl vor als auch nach der Revolution sehr viele arme Bauernfamilien, und ihre Armut wurde noch dadurch gesteigert, dass von ihnen - vor und nach der Revolution - der größte Batzen an Steuern für den Staat gefordert wurde. Andererseits waren Bauern im Frankreich des Ancien Régime in aller Regel keine Pächter, sondern dienst- und abgabenpflichtige Untertanen eines Herren. Diese Herren verlangten deshalb, dass Bauern auf ihrem Land blieben, ein Interesse, das sie seit Jahrhunderten mit der Krone teilten, die von Bauern Steuern und militärische Dienstpflichten forderte. Während der Revolution ist es französischen Bauern gelungen, das Land, das sie bebauten und beweideten, in die neue Form des Privateigentums zu überführen. Fortan standen sie damit vor der Wahl, ihr zumeist ärmliches, aber selbständiges Leben fortzusetzen oder ihr Heil in Städten und Manufakturen zu suchen. Dass sich Fachleute französischer Wirtschaftsgeschichte inzwischen darin einig sind, dass Kapitalismus in Frankreich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominant wurde, macht deutlich, für welche Variante sich die meisten der Bauern und ihre Nachkommen zunächst entschieden haben.
Historisch-materialistischer Staatstheorie haben sie damit ein Problem beschert. Da diese unterstellt, dass es einen kapitalistischen Staat nur in einer kapitalistischen Gesellschaft geben kann, vertrat etwa Ellen Meiksins Wood die These, dass die Französische Revolution die Staatsgewalt nicht verändert habe. Sowohl vor als auch nach der Revolution habe es sich in Frankreich um die Staatsgewalt des Ancien Régime gehandelt. Ich selbst betone, dass die Revolution die Form eines bürgerlichen Staates in einer bürgerlichen, aber nicht zugleich kapitalistischen Gesellschaft geschaffen hat. Man könnte versucht sein, derartige Differenzen für akademische Pfennigfuchserei zu halten. Dem entgegen steht, dass die Französische Revolution der historisch-materialistischen Theorie eine immense Herausforderung hinterlassen hat. Denn zwar gab es in Frankreich nach der Revolution kaum Ansätze für kapitalistische Produktion, wohl aber gab es freie Lohnarbeit. Sie war eine Folge der Revolution, obwohl weder deren Ursachen noch deren Verlauf durch Kapitalismus geprägt waren. Weil sich aber die gesellschaftlichen Gruppierungen, die das Ergebnis der Französischen Revolution maßgeblich beeinflussten, gezwungen sahen, die Abschaffung aller staatlich sanktionierten Privilegien und Standesunterschiede nicht nur für sich selbst, sondern für alle Staatsbürger zu fordern (die männlichen zumindest), waren nach der Revolution auch Arbeitskräfte frei, Verträge nicht nur abzuschließen, sondern auch wieder zu kündigen.
Nicht so in England. Anders als in Frankreich waren dort arme Menschen seit Jahrhunderten frei gewesen, einen Arbeitsvertrag abzuschließen. Wollten sie das Arbeitsverhältnis aber ohne Zustimmung des Dienstherren beenden, machten sie sich strafbar. Die entsprechende Strafbestimmung war ebenfalls Jahrhunderte alt, 1823 aber, also zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, wurde sie erheblich verschärft. Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses wurde als Vertragsbruch bezeichnet und war mit einer Gefängnisstrafe zu ahnden. Auch in England galt Vertragsbruch üblicherweise als eine zivilrechtliche Angelegenheit, im Falle von Arbeitskräften aber wurde er dem Strafrecht zugeordnet. Arbeitskräfte wurden also von Staats wegen anders behandelt als andere Marktteilnehmer und Marktteilnehmerinnen. Sie waren nicht frei, ihre Arbeitskraft ohne Einmischung des Staates zu vermarkten. Nicht alle Unternehmer machten von der Möglichkeit Gebrauch, ihre Arbeitskräfte mit Hilfe der Justiz an sich zu binden, aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Anklagen wegen Vertragsbruchs und auch diejenige der tatsächlichen Verurteilungen. Und beendet wurde diese Situation nicht etwa, weil sie sich als ökonomisch hinderlich erwiesen hätte, sondern weil die organisierte Arbeiterschaft in den 1860er Jahren ein Wahlrecht durchgesetzt hat, das die Chance auf die Entsendung von Arbeitervertreter verbesserte. Die konservative Partei, die jetzt auch um die Stimmen der neuen Wähler konkurrieren musste, sagte für den Fall eines Wahlsieges die Abschaffung der alten Strafbestimmung zu. (6) Als dies dann 1867 erfolgte, hatte England bereits eine sehr lange Zeit der kapitalistischen Entwicklung ohne eine aus der unmittelbaren Staatsaufsicht entlassene Lohnarbeit durchlaufen. (d)
Für dominante Stränge historisch-materialistischer Staatstheorie ergeben sich aus dem Vergleich dieser beiden Entwicklungen erhebliche Einwände. Zum einen ist die in Frankreich konstituierte Gleichheit vor dem Gesetz nicht in einer kapitalistischen Gesellschaft entstanden, sondern gewissermaßen als Erbstück aus einer vorkapitalistischen Gesellschaft übernommen worden, aus deren Konflikten sie hervorgegangen ist. (Um ein ebensolches Erbstück handelt es sich im Übrigen auch bei der politischen Form des Nationalstaates.) Zum anderen belegt die Entwicklung kapitalistischer Produktion in England, dass sie ökonomisch auch funktionieren kann, wenn die Freiheit der Lohnarbeitenden beschränkt ist.
Tatsächlich ist in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend darauf hingewiesen und auch theoretisch reflektiert worden, dass in kapitalistischer Produktion auch Arbeitskräfte eingesetzt wurden und werden, deren rechtliche Freiheit von Staats wegen bestritten oder beschränkt wird. Die selbstverständliche Gleichsetzung von Kapitalismus mit einer Dominanz freier Lohnarbeit ist seither erschüttert, folglich auch die These von der notwendigen Absonderung des Staates von den Klassenverhältnissen.
Zusätzlich erforderlich ist die Abkehr von der Annahme, im Kapitalismus entspreche die formale Trennung von Staat und Gesellschaft einer Trennung von politischen und ökonomischen Funktionen. Eben diese Position wurde aber von Ellen Meiksins Wood vertreten. Immer wieder hat sie ausgeführt, dass die historische Besonderheit des Kapitalismus in der Herausbildung einer »Sphäre der Ökonomie« besteht und Produktion sowie Verteilung vollkommen durch die Zusammenhänge in dieser Sphäre bestimmt werden. Zwar sei die außerökonomische Gewalt des Staates erforderlich, um die bestehenden Verhältnisse zu erhalten, doch sei es ausschließlich die Ökonomie, die über die Abpressung des von Arbeitskräften geschaffenen Mehrprodukts entscheide. (8) Seit der Globalisierung des Kapitalismus entspreche die Reichweite nationaler Staatsgewalt zwar nicht mehr der Reichweite ihrer Ökonomie, doch seien die Grundstrukturen des Kapitalismus dadurch nicht verändert worden.
Ein solcher Ansatz – und es ist ja nicht nur Ellen Meiksins Wood und die von ihr nachhaltig beeinflusste Forschungsrichtung »Political Marxism«, die ihn vertreten – beschränkt die Analyse des historisch realen Kapitalismus, weil sie dessen Erscheinungsweisen schlicht nicht theoretisch zur Kenntnis nehmen kann. Moderne Sklavenwirtschaft etwa muss unweigerlich als vorkapitalistisch definiert werden, weil es die Staatsgewalt war, die versklavte Menschen als legales Privateigentum deklarierte, über die so praktizierte Ausbeutung folglich nicht ausschließlich in der Sphäre der Ökonomie entschieden wurde.
Dieser direkte Einsatz von Staatsgewalt kennzeichnete auch alle Kolonialstaaten. Auf die eine oder andere Weise haben sie die Enteignung und Ausbeutung von Einheimischen geregelt und mittels staatlicher Gewalt durchgesetzt. Für die meisten Konzeptionen materialistischer Staatstheorie, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, wurde gar nicht versucht, sie auf koloniale Staatsgewalt anzuwenden. Bis heute drehen sich die theoretischen Diskussionen vor allem um die Analyse von Staatsgewalt in bürgerlich verfassten kapitalistischen Staaten. Reinhard Kößler immerhin hat konstatiert, in postkolonialen Gesellschaften sei der Staat nicht von der Gesellschaft getrennt. (9) Béatrice Hibbou geht weiter und spricht von der Privatisierung der Staatsgewalt in Gesellschaften, die sich in Entwicklung befinden. (10)
Wie immer solche Analysen im Einzelnen fortgeführt werden, sie alle werden sich damit auseinandersetzen müssen, dass Kapitalismus im Zeitalter seiner Globalisierung auch in Gesellschaften funktionieren kann, in denen keine Rechtsstaatlichkeit herrscht, privates Eigentum nicht als unantastbar gilt, die Nutzung staatlicher Kompetenzen zur privaten Bereicherung nicht als Vergehen bewertet wird, und mit dem Verbot von Gewerkschaften eindeutig in Produktionsverhältnisse eingegriffen wird.
Angesichts dieser Situation gibt es für die historisch-materialistische Staatstheorie zwei Möglichkeiten: entweder wird erklärt, dass es sich bei China, Saudi Arabien oder Kuweit, um nur einige zu nennen, nicht um »richtige« kapitalistische Staaten handelt, oder aber deren Widerspruch zu lange gängigen theoretischen Konzepten wird als eine Herausforderung verstanden, die es theoretisch zu bewältigen gilt. Derzeit ist eine solche Bewältigung noch kaum in Sicht.
Die in den 1990er Jahren auch unter marxistisch argumentierenden Autorinnen und Autoren verbreitete Annahme einer Überwältigung der Politik durch die Ökonomie ist heute nicht mehr vorherrschend. Stattdessen wird eher eine Rückkehr der zentralen Bedeutung des Staates behauptet. Während historisch-materialistisch argumentierende Autorinnen und Autoren diese Abweichung von lange dominanten theoretischen Konzepten bislang vor allem für Gesellschaften diskutieren, in denen Kapitalismus erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominant wurde, (11) wagen Autorinnen und Autoren, die sich nicht auf historisch-materialistische Staatsanalysen beziehen, eher Aussagen über allgemeine Strukturmerkmale kapitalistischer Staatsgewalt im Zeitalter der Globalisierung. (12) Was aus all diesen Analysen für die Theorie kapitalistischer Staatsgewalt – und damit zugleich für die Theorie des Kapitalismus und seiner möglichen Überwindung– zu folgern ist, bleibt noch zu klären – und zwar nicht nur in theoretischen Diskursen, sondern auch in politischer Opposition gegen die staatliche Duldung, staatliche Förderung und staatliche Sanktionierung von Ausbeutung.
Anmerkungen
(a) Diese Forschungsrichtungen verdanken ihre Anregungen vor allem den Arbeiten von Antonio Gramsci und Nicos Poulantzas.
(b) „Sanktionieren“ wird in diesem Text regelmäßig in der Bedeutung “durch öffentliche Autorität regeln und ggf. mit Gesetzteskraft/Gewalt durchsetzen” benutzt. [Anm. d. Redaktion]
(c) Wer sich in marxistischer Werttheorie auskennt, wird bemerkt haben, dass ich sie hier auf die für unseren Zusammenhang unerlässliche Erkenntnis reduziert habe.
(d) Karl Polanyi hat die Entstehung von Marktgesellschaften als Resultat des disembedding (der Herauslösung) des Arbeitsmarktes (und damit der Wirtschaft) aus Staat erläutert. Historisch waren diese Prozesse aber weniger weitreichend als von ihm unterstellt. (7)
Verwendete Literatur
(1) Marx, Karl; Engels, Friedrich (1972 [1848]): Manifest der Kommunistischen Partei, in dies.: Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz, S. 459–493
(2) Marx / Engels (siehe oben), S. 464.
(3) Engels, Friedrich (1884 [1972]): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in Karl Marx und ders.: Werke, Bd.21, Berlin: Dietz, S. 25–173, hier: S. 167.
(4) Probleme des Klassenkampfs. Sonderheft 1, Januar 1971
(5) 1929 erschien sie erstmals in deutscher Sprache: Paschukanis, Eugen (2003 [1929]): Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Freiburg: ça ira, S. 139.
(6) Zu dieser Entwicklung vgl. Hay, Douglas (2000): Master and Servant in England, in: Willibald Steinmetz, (Hg.): Private Law and Social Inequality in the Industrial Age. Comparing Legal Cultures in Britain, France, Germany and the United States, Oxford: Oxford Univ. Press, S. 227–264.
(7) Vgl. Polanyi, Karl (1995[1944]): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
(8) Meiksins Wood, Ellen (2016[1995]): Democracy against Capitalism, London: Verso, S. 29f.
(9 Kößler, Reinhard (1994): Postkoloniale Staaten, Hamburg: Deutsche Übersee Institut.
(10) Hibou, Béatrice (1999): La Privatisation des États, Paris: Karthala, S. 11-70.
(11) Vgl. z.B. Owen Miller (2023) (Hrsg): State capitalism and Development in East Asia since 1945, Leiden: Brill.
(12) Vgl. z.B. Kurlantzick, Joshua (2016): State Capitalism. How the Return of Statism is transforming the World, Oxford: Oxford University Press.