Reise ins Auge des Sturms. Gespräch mit Mario Cravallo über die Theorie und Bewegung des Insurrektionalismus
Mario CravalloMario Cravallo ist Aktivist, beschäftigt sich mit Revolutionstheorie, ist Teil der Redaktion des Zines »Trümmerspiele« und arbeitet in gewerkschaftlichen Kontexten. Auf der Kantine »Sabot« hat er einen Vortrag zur Idee, Geschichte und Kritik des Insurrektionalismus gehalten. Der Insurrektionalismus ist eine relevante Strömung des Anarchismus. Im deutschsprachigen Raum werden verschiedene Ansätze des Insurrektionalismus in Zeitschriften wie »Fernweh«, »In der Tat«, »A Corps Perdu«, »Grenzenlos«, »Sūnzǐ Bīngfǎ«, in Fanzines und grauer Literatur veröffentlicht. Auf der Kantine »Sabot« wollten wir wissen, woher der Insurrektionalismus kommt, was er zu einer aktuellen Debatte revolutionäre Strategie beizutragen hat und welche (auch kontroverse) Diskussionen dieser Ansatz nötig macht. Auf unsere Frage, ob Mario Cravallo seinen Vortrag für unsere Publikation zu Papier bringen möchte, hat er geantwortet, dass ein Gespräch dem Thema viel angemessener wäre als ein akademischer Text. Lukas vom Kantine-Team hat sich daher mit ihm im Januar 2024 getroffen, um mit ihm ein Interview über den Insurrektionalismus zu führen. (a)
Lukas: Wir wollen über den Insurrektionalismus sprechen und ich würde das Gespräch gern mit einer Frage nach deinem persönlichen Zugang beginnen. Ich gehe davon aus, dass der Insurrektionalismus nicht am Anfang deiner persönlichen Auseinandersetzung mit Gesellschaftskritik, Bewegung und Revolution stand. Irgendwann hast du die Texte des Insurrektionalismus entdeckt – was war für dich das Anziehende oder Faszinierende daran, das dann auch zu einer intensiveren Auseinandersetzung geführt hat?
Mario: Ich glaube, das sind zwei Sachen. Der erste Punkt war eine gewisse Italophilie und ein Interesse an italienischer Bewegungsgeschichte. Als ich festgestellt habe, dass die insurrektionalistischen Diskurse aus den zeitgenössischen Debatten der radikalen Linken in Italien resultieren, wollte ich dem nachforschen. Dabei bin ich auf sehr spannende Dinge gestoßen. Der zweite Punkt liegt auf einer emotionalen Ebene – es war eine Unzufriedenheit mit der Sterilität vieler linker Debatten. In der insurrektionalistischen Literatur fand ich dem gegenüber einen sehr leidenschaftlichen Zugang zur Revolution und zur Frage, wie man die zu machen hat.
L: Am Anfang eines solchen Gesprächs ist es sinnvoll, den Gegenstand, über den wir sprechen, einzugrenzen. Ich weiß, dass eine einfache Definition beim Insurrektionalismus schwierig ist. Das trifft auf die anarchistische Bewegung im Allgemeinen zu: Es handelt sich nicht um einen homogenen Block, sondern es gibt innerhalb dieser Bewegung Widerstreit, es ist eine heterogene Bewegung. Trotzdem gibt es vielleicht ein paar Anhaltspunkte, mit denen sich der Insurrektionalismus umreißen lässt. Wie lässt sich dieses Konzept umschreiben?
M: Natürlich ist es unmöglich, eine Definition zu finden und es auf einen Satz runterzubrechen. In den alltäglichen Kämpfen zeigt sich der Insurrektionalismus als ein sehr diverses Milieu, in dem sich Leute mitunter spinnefeind sind oder sich gegenseitig bezichtigen, nicht Teil des Insurrektionalismus zu sein, ihn verraten zu haben, etc. Deswegen halte ich es für sinnvoller, sich anzuschauen, woraus diese Debatten ideengeschichtlich erwachsen sind. Was waren die Kämpfe, in denen die insurrektionalistische Methodologie entwickelt wurden? In der Selbstdefinition ist der Insurrektionalismus eine Methode, die den Aufstand ins Zentrum stellt und in der es um die Frage der revolutionären Massengewalt geht. Darum gruppiert sich, was dann Insurrektionalismus geworden ist – innerhalb einer anarchistischen, einer linksradikalen Debatte.
L: Du verweist auf die historischen Ursprünge des Insurrektionalismus. Ein wichtiger Strang dieser Strömung kommt aus Italien. Ausgangspunkt ist dabei die Bewegung der 1970er Jahre: die Bewegung der Autonomia bzw. die »diffuse Autonomie« (b), aber auch die Erfahrung dieser Bewegung, an Grenzen zu stoßen und die Konfrontation mit Repression. Wie würdest du den Ausgangspunkt der ursprünglichen insurrektionalistischen Gruppen in Italien genauer beschreiben? Woran haben sie sich abgearbeitet, in welche Richtung sollte die Reise gehen?
M: Zuerst muss festgehalten werden, dass mit der Autonomia eine völlig andere Art und Weise, Politik zu machen, einhergegangen ist. Eine Politik, die nicht mehr über Gewerkschaften und Parteien vermittelt ist, bei der man sich dann in ein gewaltiges Kollektiv einzufügen hat. Stattdessen wurden hier die Freude und das Begehren ins Zentrum der politischen Praxis gestellt und es gab verschiedene Arten und Weisen, das zu verhandeln. Die Autonomia hat ein neues revolutionäres Subjekt entdeckt. Sie verabschiedete sich vom Massenarbeiter (c), der noch in den 1960er Jahren in den Fabriken Aufstände produziert hatte. Sie wendete sich dem operaio sociale, dem gesellschaftlichen Arbeiter zu, der überall zu finden ist, in den verschiedensten Kämpfen: den Kämpfen der Jugendlichen, der Frauen, in den Kämpfen der Schwulen- und Lesbenbewegung, in den Hausbesetzungen, in der Studierendenbewegung. Aber auch in einer völlig veränderten ästhetischen Praxis – etwa Radio Alice oder ZUT, bei beiden handelt es sich um experimentelle Projekte aus Bologna. Es ging aber auch um die Entdeckung neuer Arbeitersubjekte: migrantische Arbeiter:innen oder Logistikarbeiter:innen. Es ist also eine sehr diverse, diffuse Bewegung, die sich selber auch als Archipel (d) beschrieben hat und nicht als eine einheitliche Bewegung, die einfach auf einen Nenner zu bringen wäre. Das ist insofern relevant, weil die Kritik an einem einheitlichen revolutionären Subjekt und einer daraus resultierenden einheitlichen Organisationsform auch für die Entwicklung der insurrektionalistischen Methode sehr wichtig ist.
Ein Zentrum ist dabei eine Gruppe in Catania in Sizilien um Alfredo Bonanno, die zu diesem Zeitpunkt Teil der Autonomia und der linken Szene ist und die verschiedene Einflüsse aufnimmt: Texte der Situationistischen Internationale, des Rätekommunismus und eine Auseinandersetzung mit der klassischen anarchistischen Theorie. Im Anarchismus gibt es verschiedene Vorläufer des modernen Insurrektionalismus – Errico Malatesta beispielsweise. Dazu kommt die Zuspitzung der Situation: 1977 gibt es riesige Aufstände, die aber militärisch niedergeschlagen werden, beispielsweise in Bologna. Dort setzt ein kommunistischer Bürgermeister Panzer ein, um die Autonomen vom Randalieren abzuhalten. 1978 entführen die »Roten Brigaden« (e) Aldo Moro, den Ministerpräsidenten von der christdemokratischen Partei. Der wird dann auch durch Mitglieder der Roten Brigaden hingerichtet, ähnlich wie bei der Schleyer-Entführung in der BRD. Die Folge dessen ist eine unheimliche Repressionswelle. Es gibt Staatsanwälte, die die Autonomia als Vorfeldorganisation der Roten Brigaden behandeln, was überhaupt nicht stimmt, weil die Autonomia immer eine Kritik an den Roten Brigaden gehabt hat, die sich viel leninistischer und partei-orientierter organisiert haben. Nichtsdestotrotz werden Tausende Autonome eingesperrt, kommen in die Knäste, Andere müssen ins Exil gehen. Diese Bewegung wird wirklich zerschlagen. Es ist nicht so, dass die Kämpfe sich verlaufen und aus sich heraus ihre Kraft verlieren – es ist die terroristische Gewalt des Staates, die sie in die Knie zwingt.
Von dieser Repression waren die sizilianischen Gefährt:innen nicht unmittelbar betroffen. Sie mussten sich aber die Frage stellen, wie man sich zu dieser Entwicklung verhält. Wenn der Rückzug keine Option ist: Geht es um eine Verschärfung der Kämpfe? Gehen wir noch stärker in die bewaffnete Formation hinein? Oder geht es eher darum, die Massenkämpfe auszuweiten?
L: Du hast den Insurrektionalismus als Methode bezeichnet. Genauer geht es um die Methode des Aufstands oder um die aufständische Methode. Eine andere Bezeichnung dieser Strömung lautet ja auch »aufständischer Anarchismus«. Ausgehend von dem, was du beschrieben hast: Was zeichnet diese aufständische Methode aus? Was waren Eckpunkte der strategischen Ausrichtung, die diese Gruppen entwickelt haben?
M: Es gibt verschiedene Begriffe, die im Zentrum des insurrektionalistischen Denkens stehen. Das sind zunächst: Permanente Konfliktualität, Selbstorganisierung und grundsätzliche Offensivität. Grundlegend ist, dass man den Konflikt zu suchen hat, dass man keine Kompromisse mit der Herrschaft schließen darf, sondern immer versuchen muss, die Kämpfe zuzuspitzen. Und die Kämpfe sollen offensiv geführt werden – es ist also eine extreme Auslegung einer Offensivtheorie. Gleichzeitig sollen diese Kämpfe selbstorganisiert verlaufen. Es geht also nicht darum, Delegierte zu wählen oder Vorfeldorganisation zu bilden, sondern die kämpfenden Subjekte sind diejenigen, die selber davon betroffen sind. Sie schließen sich zu Affinitätsgruppen zusammen und versuchen auf dem Weg der direkten Aktion den Feind anzugreifen und ihn zu zerstören. Es ist trotzdem nicht das reinste Abenteurertum, sondern es gibt auch die Idee der »intermediären Kämpfe«. Das heißt, im Vorfeld von Zuspitzungen ist es auch wichtig, Verbindungen herzustellen und Menschen an die Methodik des Aufstands heranzuführen.
Wenn es tatsächlich zum Aufstand kommt, ist es für Insurrektionalist:innen wichtig, dass dies nicht als militärisches Manöver verstanden wird. Es geht wirklich um eine selbstorganisierte Aneignung durch die Betroffenen, durch die Kämpfenden selber, durch die sich ein Möglichkeitsraum eröffnen soll, durch die neue gesellschaftliche Strukturen entstehen können. Es ist also kein nihilistisches Konzept, das nichts anderes kennt als den Kampf. Im Aufstand soll die Herrschaft durch die Subjekte zerstört und von ihnen selbst abgeschüttelt werden und im Kampf soll Phantasie entwickelt werden, soll der Möglichkeitssinn für eine andere Gesellschaft geschärft werden. Diese Gesellschaft wird selbstorganisiert durch die Kämpfenden selbst eingerichtet.
L: Du hast zwei Stichworte genannt, auf die ich jeweils noch einmal eingehen möchte: Die Affinitätsgruppe und die Frage der Militarisierung. Der Begriff der Affinität scheint mir ziemlich zentral für das insurrektionalistische Konzept zu sein und es ist das Gegenmodell zu so etwas wie einem Programm. Im Gegensatz dazu, dass sich eine Organisation auf ein Programm festlegt, sollen sich die Gruppen aufgrund von Affinität zusammen finden. Kannst du das noch einmal näher ausführen? Was ist die Affinitätsgruppe für ein organisatorisch-strategisches Konzept?
M: Affinität ist ein Gegenentwurf zur Vorstellung von einer Organisierung, in der erst ein Programm verhandelt wird und dann unterwerfen sich alle Beteiligten diesem Programm. Stattdessen schließt man sich aufgrund von Verbundenheit zusammen, die aus einer gemeinsamen Betroffenheit oder aus Kämpfen resultiert. Aber man schließt sich auch deshalb zusammen, weil man halt gut miteinander kann. Die Affinität ist also durchaus ein außer-theoretisches Element. Die Affinitätsgruppen organisieren sich auf einer rein horizontalen Ebene. Es gibt keine Kader, die diese Gruppen in Gang setzen. Man ist gemeinsam betroffen, man sitzt gemeinsam am Kneipentisch, man regt sich auf – und dann handelt man auch dementsprechend. Der Begriff der Affinitätsgruppe ist nicht zu verstehen ohne den der Projektivität. Eine Affinitätsgruppe schließt sich immer aufgrund eines bestimmten Projekts oder eines bestimmten Vorhabens zusammen. Ausgangspunkt ist ein bestimmter Kampf, in dem die Affinitätsgruppe versucht, handlungsfähig zu werden und im besten Fall die Widersprüche hin zu einem Aufstand zuzuspitzen.
L: Dann das Stichwort der Militarisierung. Der Insurrektionalismus wird immer wieder mit der Gewaltfrage in Verbindung gebracht. Aber es geht nicht um Gewalt überhaupt – du hattest bereits die Kritik der Insurrektionalist:innen an den Roten Brigaden erwähnt. Wie sah diese Kritik aus und welche Tendenz wird mit dem Stichwort der Militarisierung problematisiert?
M: Dafür ist noch einmal eine historische Einordnung notwendig. In Italien haben sich die bewaffneten Formationen nicht, wie in Deutschland, aus einem Antirepressionskampf entwickelt, sondern sehr viel organischer aus den Fabrikkämpfen heraus. Wie viele andere Gruppen hatten die Roten Brigaden anfangs auch etwas anderes im Sinn: Es gab einen Streik und dann hat man halt das Auto vom Vorarbeiter in die Luft gejagt. Oder man hat einen wichtigen Manager entführt, ihn verhört und ihm ein Geständnis über die Pläne entlockt, den Streik niederzuschlagen, und hat ihn dann unter dem Jubel der Streikposten wieder frei gelassen. Solche Sachen sind der Ausgangspunkt vieler bewaffneter Gruppen in Italien. Dann gab es 1969 einen Anschlag auf die Piazza Fontana in Mailand, bei dem zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden. Dieser Anschlag wurde den Anarchist:innen bzw. Syndikalist:innen in die Schuhe geschoben und es folgte eine Verhaftungswelle. Im Zuge von Verhören wurde dann der Anarchist Giuseppe Pinelli aus einem Fenster eines Polizeipräsidiums in Mailand geworfen. Später kam heraus, dass es sich um einen rechtsterroristischen Anschlag handelte, bei dem es vermutlich auch Verbindungen zu Geheimdiensten gab.
Das alles findet in einem Klima statt, in dem es eine Zunahme an neofaschistischer Gewalt und tatsächlich Versuche von einzelnen Offizieren gab, Militärputsche zu organisieren. Zugleich war auch der Putsch gegen die links-sozialdemokratische Regierung Allende in Chile im Jahr 1973 sehr präsent. Durch diese Ereignisse ist die italienische Linke zutiefst erschüttert und es gibt die Wahrnehmung, dass sich ein neuer Faschismus formiert, gegen den man sich auch bewaffnet zur Wehr setzen muss. Dazu muss erwähnt werden: In Italien hat der bewaffnete Kampf auch deswegen eine längere Tradition, weil es die Resistenza gegeben hat – das heißt, das italienische Proletariat stand im Widerstand gegen den Faschismus tatsächlich unter Waffen und es gibt eine lebendige Erinnerung daran. Diese Situation scheint sich für Viele im Zuge der 1970er Jahre wiederzubeleben. Das alles sorgt dafür, dass die bewaffneten Formationen in Italien ein wesentlich größeres Ausmaß als in Deutschland hatten. Zur RAF gehörten im Laufe ihres Bestehens vielleicht ein paar dutzend Personen – in Italien waren das Massenorganisationen.
Das heißt: zigtausende autonome Revolutionäre entscheiden sich im Laufe der Jahre dazu, die Waffe in die Hand zu nehmen und aus dem Untergrund oder Halb-Untergrund heraus den Staat zu bekämpfen. Im Laufe dieser Zuspitzung, bis hin zur Repressionswelle von 1978, entwickelt die Gruppe in Sizilien um Alfredo Bonanno eine Kritik, die sagt: Diese bewaffneten Formationen bestehen aus völlig lustlosen Kadern, die keine Freude mehr empfinden können und jegliches eigenes Begehren unterdrücken. Sie konstatieren, dass die Entfremdung, die die Autonomia zuvor an der herkömmlichen Politik kritisiert hatte, sich im Geiste eines revolutionären Kadertums wiederholt. Demgegenüber versuchen sie, eine Position zu entwickeln, die einerseits das Level der Konfrontation hochhält und sich nicht befrieden lassen möchte – also so offensiv wie möglich den Angriff auf die Herrschenden führen –, die aber andererseits ein revolutionäres Soldatentum ablehnt. Es ging ihnen darum, immer in die eigene soziale Umwelt und in bestimmte Diskussionen eingebunden zu bleiben. Es geht darum, die Logik der Militarisierung und der damit verbundenen Hierarchie und Entfremdung abzulehnen, dabei aber gleichzeitig an der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt festzuhalten.
L: Wir haben darüber gesprochen, dass sich die Insurrektionalist:innen einerseits vom klassischen Partei- und Gewerkschaftsmodell abgegrenzt haben und andererseits von der leninistischen Organisierung der Roten Brigaden. Gleichzeitig waren die Insurrektionalist:innen Teil von Kontroversen innerhalb des anarchistischen Milieus. Mir scheint die Kritik des Anarchosyndikalismus durch die Insurrektionalist:innen relativ wichtig zu sein. Was hatten sie am Anarchosyndikalismus zu kritisieren?
M: Ich weiß nicht, ob diese Diskussion tatsächlich so wichtig gewesen ist. Es gab in der Frühphase eine Auseinandersetzung zwischen der Gruppe um Bonanno und einer syndikalistischen Gruppe in Catania. Das ist eine sehr spezielle Diskussion, weil der Anarchosyndikalismus innerhalb der Autonomia nicht so wichtig gewesen ist. Es gab eine gewisse anarchosyndikalistische Tradition und auch Basisgewerkschaften, die im Zuge der Autonomia in den Betrieben entstanden sind. Das war aber nicht der Hauptabstoßungspunkt. Trotzdem gab es diese Kritik und die basiert auf zwei Annahmen. Die eine betrifft die Analyse der Klassenzusammensetzung, vor deren Hintergrund gewerkschaftliches Handeln schlechthin als nicht mehr relevant erachtet wird. Bonanno schließt an Thesen an, die Toni Negri in den 1970er Jahren entwickelt hat: Dass es im Fordismus einen Klassenkompromiss gegeben habe, in dem die Profitraten dadurch garantiert worden wären, dass die Unternehmen die Gewerkschaften an den Profiten beteiligt hätten. Deshalb habe es einerseits starke Unternehmer und andererseits relativ starke Gewerkschaften gegeben. Dieses Gleichgewicht sei im Zuge der Arbeitskämpfe in den 1960er Jahren ins Wanken geraten, was mit einer Offensive des Kapitals beantwortet worden wäre. Im Zuge dessen habe eine zunehmende Tendenz zur Automatisierung der Produktion eingesetzt und der Massenarbeiter sei immer mehr aus den Fabriken gedrängt worden. Da sich die Gewerkschaften zuvor auf den Massenarbeiter gestützt hätten, hätten sie ihre Verhandlungsmacht verloren.
Dazu eine einschränkende kritische Anmerkung: Tatsächlich haben die Gewerkschaftsverbände in Italien erheblich von den Aufständen der Arbeiter:innen profitiert. Vorher waren sie relativ schwach, in den 1970er Jahren sind es wirklich wieder Massenorganisationen geworden. In diesem Punkt funktioniert die These von Toni Negri also schon mal nicht ganz.
Es geht also um die These, dass der fordistische Klassenkompromiss, der die Machtposition der Gewerkschaften gesichert habe, nicht mehr besteht. Bonanno folgert daraus, dass die Gewerkschaften nicht die zeitgemäße Antwort auf die neue Klassenzusammensetzung sein können. An ihre Stelle treten eben die Affinitätsgruppen. Gleichzeitig wird konstatiert, dass sich das Kommando über die Fabrik auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet habe und dass Angriffe auf die Herrschenden deshalb aus der Peripherie heraus erfolgen müssen.
Ein weiteres Argument lautet, dass die Gewerkschaften auf Selbsterhaltung zielen. Im Gewerkschaftsapparat vollzieht sich eine starke Akkumulation von Macht – und zwar in jeder Gewerkschaft, auch in der syndikalistischen Gewerkschaft. Ab einer bestimmten Größe ist dann der Erhalt dieser Macht wichtiger als die Zuspitzung von Klassenkämpfen. Und um das konsequente Ausfechten von Klassenkämpfen geht es ja den Insurrektionalist:innen – nicht um deren Befriedung in Form eines Kräftemessens. Das heißt, eigentlich haben die frühen Insurrektionalist:innen gar keine explizite Kritik am Syndikalismus – sondern ihre Gewerkschaftskritik ist allgemeiner. Sie werfen den Anarchosyndikalist:innen vor, die Fehler der großen Richtungsgewerkschaften mitzuschleppen.
L: Das berührt einen Punkt, den ich gern mit dir diskutieren würde. Ein wichtiges Stichwort für Alfredo Bonanno ist das der »quantitativen Logik«. Er kritisiert am anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsmodell, dass in ihm ein Hang zur quantitativen Logik angelegt sei: dass es am Ende nur darum gehen würde, größer zu werden. Ich habe den Eindruck, dass Bonanno hier das Kind mit dem Bade ausschüttet. Einerseits ist eine bestimmte Kritik für mich nachvollziehbar: Wenn man feststellt, dass es einer Organisation nur noch darum geht, sich auszuweiten und dass diese Logik auf Kosten der erarbeiteten Inhalte und des revolutionären Anspruchs geht, dann ist das eine verkehrte Entwicklung, die man kritisieren muss. Wenn man sich aber organisiert – und gerade wenn man es mit einem starken Gegner zu tun hat –, kann man bestimmte Sachen auch nur ausrichten, wenn es sich um eine bestimmte Anzahl von Leuten handelt. Es ist nicht gleichgültig, wie viele Leute Teil der eigenen Bewegung oder Organisierung sind – gerade, wenn man eine Gegenmacht herstellen möchte. Es geht dann darum, auch in größeren Zusammenhängen den revolutionären Anspruch lebendig zu halten. Vielleicht ist das ein Spannungsverhältnis. Ich habe aber das Gefühl, dass Bonanno »Quantitative« als etwas ontologisches Böses behandelt. Ich weiß nicht, wie du das siehst …
M: Ich stimme dir zu. Trotzdem muss man sich zwei Sachen vor Augen halten. Zum einen war die Kommunistische Partei Italiens eine der zentralen Säulen, auf denen die Nachkriegsdemokratie aufbaute. Sie ist zwar nicht unmittelbar an der Regierung beteiligt, aber es ist eine extrem starke Partei und kann Einfluss auf das parlamentarische Geschehen nehmen – die stärkste Kommunistische Partei Europas. Ihr staatstragender Charakter basiert auch auf der gramscianischen Idee der Gegenhegemonie: Dass man Stück für Stück immer mehr Felder in der Gesellschaft erobern will und es darüber langsam gelingt, die Macht zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Quantität noch einmal anders zugespitzt als das bei den Kommunistischen Parteien der 1920er und 30er Jahre der Fall war.
Beim zweiten Punkt würde ich dir tatsächlich einfach zustimmen. Auf der einen Seite ist es richtig, dass man die revolutionäre Stoßrichtung nicht aus den Augen verlieren darf, nur aus dem Gedanken heraus, immer mehr werden zu wollen. Aber gleichzeitig geht es um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse – und die ändert man nicht, wenn man alleine steht, sondern es braucht tatsächlich eine gewisse kritische Menge. Es ist ein dialektischer Zusammenhang von Qualität und Quantität.
L: Wir kommen immer wieder dazu, Theoreme von Alfredo Bonanno zu diskutieren, der ja vielleicht zu den bekanntesten insurrektionalistischen Autor:innen gehört. Beim Lesen seiner Texte ist mir besonders eine Passage aufgefallen, die aus dem Text »Die anarchistische Spannung« stammt – einem verschriftlichten Debattenbeitrag auf einer anarchistischen Konferenz im Jahr 1995. Dort spricht er Sachen an, die du schon angerissen hast, und er sagt Folgendes:
»Jetzt, in einer Situation, in der sich die ArbeiterInnenklasse praktisch in Staub aufgelöst hat, gibt es keine Möglichkeit für den Gebrauch von sogenannten Produktionsmitteln, die enteignet werden müssten. Tja und, aus was besteht die Lösung? Es gibt keine andere Lösung, als dass diese Masse von Produktionsmitteln, die wir vor uns haben, zerstört wird. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist der Weg über die dramatische Wirklichkeit der Zerstörung. Die Revolution, die wir hypothetisieren können, und von der wir auch sicher sind, dass sie kommt, ist nicht die Revolution von gestern, die man sich als einfachen Fakt vorstellen konnte, der tatsächlich eines schönen Abends oder Tages kommen konnte. Nein, diese Revolution wird eine lange, tragische, blutige Angelegenheit, die über unvorstellbare gewalttätige Prozesse erreicht wird, unvorstellbar tragische Prozesse.« (4)
Ich kann mir vorstellen, was für eine Diskussion im Hintergrund von einer solchen Textstelle steht. Dass es darum geht, zu sagen: Es funktioniert nicht so, wie der Marxismus-Leninismus es sich vorstellt, dass man die bestehende Gesamtheit der Produktionsmittel einfach übernimmt und dann wird alles gut. Es wird auch Quatsch produziert und dementsprechend sind auch manche Produktionsmittel überflüssig. In einem revolutionären Prozess muss man darüber diskutieren, was sinnvoll ist und was nicht sinnvoll ist, was abgeschafft werden muss und was man beibehalten sollte. Die Perspektive von Bonanno scheint aber auf eine umgekehrte Art und Weise absolut zu sein: Es geht ihm darum die Gesamtheit der bestehenden Produktionsmittel zu zerstören. Was bedeutet das für die Lebensmittelversorgung? Was bedeutet das für die Gesundheitsversorgung? Und es dann auch noch zu bejahen, dass dies logischerweise ein grausamer Prozess wird – ich frage mich, wie man so etwas vertreten kann …
M: Ich glaube, das Entscheidende an dieser Passage ist eben eine Kritik an einem Technikoptimismus auch innerhalb der radikalen Linken. Hier schwingen auch Reflexionen des Operaismus mit: Dass Technik und Produktivkräfte nicht mehr – wie etwa noch bei Rosa Luxemburg – als utopisch verstanden werden, in dem Sinne, dass ihre Entwicklung am Ende alles Leid abschafft. Sondern es wird ein Augenmerk darauf gelegt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte auch mit einer Intensivierung von Herrschaft einhergeht. Dass Technik und Maschinerie nicht neutral sind, sondern dass sich in ihnen Klassenkampf sedimentiert. Dass sie in einem anderen Kontext nicht einfach anders verwendet werden können, sondern dass die kapitalistische Maschinerie eben den Arbeiter anwendet, Teil seiner Ausbeutung ist. Deshalb kann es nicht funktionieren, diese Maschinerie einfach unverändert zu übernehmen. Das ist auch die Abgrenzung von einem klassischen syndikalistischen Theorem, das davon ausgeht, wir könnten die Produktionsmittel sowieso viel besser bedienen als unsere Chefs und sollten uns deswegen an ihre Stelle setzen und die Produktion verwalten. Im Zuge eines revolutionären Prozesses muss auch die Ordnung der Maschinerie grundlegend geändert werden. Sie muss zerschlagen werden – diesen Gedanken finde ich erstmal nicht verwerflich.
Es steckt auch ein zweiter Gedanke in dieser Passage: Die Kritik der Vorstellung von einem Tag X. Dass man auf einen bestimmten Tag hinarbeitet, an dem dann die Macht übernommen wird – quasi der Sturm des Winterpalais'. Dem gegenüber sagt Bonanno: Es ist ein viel langfristigerer Kampf, der von der Peripherie aus geführt wird. Eine Form des Guerillakrieges gegen die Technik. Auch das finde ich nicht so verwerflich – aber man müsste darüber diskutieren, inwiefern diese Art des Kämpfens der gegenwärtigen Klassenzusammensetzung entspricht.
Was natürlich abschreckend an diesem Zitat wirkt, ist der Pathos, mit dem dort Begriffe wie Grausamkeit verwendet werden. Für uns wirkt das befremdlich – auch zurecht. Ich glaube Bonanno und seine Gefährt:innen haben es sich zu einfach mit der Frage gemacht, was Gewalt mit einem macht, wenn man sie anwendet, dass man dadurch nicht unbedingt zu einem besseren Menschen wird. Im Unterton wird suggeriert, es wäre irrelevant für einen selber, wenn man Gewalt ausübt. Damit wird auch eine bestimmte Kritik des revolutionären Soldatentums kassiert, die sie vorher eigentlich formuliert hatten. Es war ja viel mehr um die Freude und um das Begehren gegangen, als darum, mit letzter Konsequenz gewalttätig zu sein. Das ist aber auch keine Besonderheit des insurrektionalistischen Diskurses – etwa wenn man sich anschaut, wie in parteikommunistischen Zusammenhängen in den 1930er Jahren übereinander geredet wurde, mit welchem Vernichtungseifer da sowohl rhetorisch als auch im realen Handeln agiert wurde. Das ist etwas, was nicht nur im Insurrektionalismus auftaucht und deswegen taugt es meines Erachtens auch nicht zur Disqualifizierung des Insurrektionalismus innerhalb einer linksradikalen Debatte.
L: Für mich liegt eine Ambivalenz des Insurrektionalismus gerade im Pathos seiner Texte. Du hast am Anfang gesagt, dass es gerade auch eine gewisse Ästhetik gewesen ist, die dich am Insurrektionalismus fasziniert hat und ich kann das verstehen. Aber ich frage mich, ob dieser Pathos nicht auch immer wieder auf Kosten einer begrifflichen Reflexion geht. Vor allem dann, wenn es in einen gewissen Vitalismus gleitet. Alles hat eine positive Bedeutung, kann im eigenen Sinne interpretiert werden, wenn es von Unten kommt, wenn es mit einem Brodeln und Gärung zu tun hat, wenn es mit Bewegung, Aufstand und Militanz zu tun hat. Es gibt selten eine Reflexion darauf, ob diese Formen auch mit negativen Inhalten verbunden sein können. Und dann gibt es bei Bonanno Stichworte wie das der »Lebensspannung«, die er für das anarchistische Projekt eingefordert hat. Was soll das für ein Begriff sein? Liegt im Leben oder in der Lebendigkeit selbst etwas, das irgendwie an sich gut sein soll? Teilst du diese Skepsis oder habe ich eine falsche Wahrnehmung?
M: Dass ich dazu neige, diesen Pathos immer ein bisschen zu verteidigen, liegt an dieser wichtigen Einsicht der Autonomia: Dass politisches Denken und theoretisches Arbeiten nicht losgelöst passiert von Begehren, Gefühlen, Situationen, in denen wir uns befinden. Dass man deshalb nach einer Art und Weise des Ausdrucks suchen muss, in der sichtbar wird, dass es um eine sehr leidenschaftliche Angelegenheit geht. Das finde ich weder aus ästhetischen noch aus politischen Gründen falsch. Trotzdem muss man sehen, dass Bonanno ein schlechter Schüler von Toni Negri gewesen ist, auch wenn er es nicht gern so gesehen hat. Bei Toni Negri gibt es schon die Tendenz, die Leidenschaften einseitig positiv zu behandeln. Das deutet sich schon bei seiner Spinoza-Lektüre im Knast an, aber auch viel später in seinem Konzept der Multitude. In seinem Buch »Empire« ist das immer noch da: Dass alles, was von unten kommt, grundsätzlich affirmiert wird und die Widersprüchlichkeit dessen nicht gesehen wird. Deleuze hat daran eine Kritik formuliert, indem er darauf hingewiesen hat, dass bei Spinoza die Leidenschaften auch negativ sein können – nicht nur positiv. Oder auch jemand wie Paul Virno, der »Die Grammatik der Multitude« geschrieben hat und darin die Multitude als ein durchaus widersprüchliches Subjekt entworfen hat, das keinesfalls einheitlich gegen das »Empire« steht, sondern sehr ausdifferenziert und gespalten ist. Genau über diese Fähigkeit zur Differenzierung, die auch eine Fragmentierung des revolutionären Subjekts wahrnimmt – sei es die Arbeiterklasse, sei es die Multitude –, darüber verfügen weder Bonanno noch Negri. Oft schütten sie das Kind mit dem Bade aus, das stimmt.
L: Auch wenn ich die Ambivalenz des Insurrektionalismus betont habe, finde ich Aspekte des Insurrektionalismus sympathisch. Dazu gehört für mich so eine Art revolutionärer Aufrichtigkeit. Ein hartnäckiger Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, sich nicht unterzuordnen. Auch ein Wille, das, was man von den anderen verlangt, auch sich selbst abzuverlangern – oder anders: bevor man es Anderen abverlangt, es zunächst erstmal von sich selbst zu verlangen. Dass es eine Einheit von Mittel und Zweck geben muss, dass sie nicht auseinanderklaffen dürfen. Vielleicht auch eine gewisse Wachsamkeit gegenüber dem, was in anderen Milieus passiert als im eigenen. Zu versuchen, soziale Vorgänge und Auseinandersetzungen wirklich zu lesen. Das sind Sachen, die mir am Insurrektionalismus sympathisch erscheinen. Gleichzeitig frage ich mich, wenn ich diese Texte lese, was darin tatsächlich für eine Perspektive liegt – und das würde ich dich gern abschließend fragen. Und das auch vor dem Hintergrund, dass du dich nicht nur in einem insurrektionalistischen Milieu bewegst. Du hast auch in den Zusammenhängen der FAU zu tun und arbeitest berufsmäßig im Kontext einer größeren Gewerkschaft. Wie bringst du das zusammen und welche Perspektive hat der Insurrektionalismus für dich?
M: Der ganz elementare Verdienst des Insurrektionalismus ist es, gegen den Zustand der Entfremdung der Aktivist:innen von ihrem eigenen Leben anzugehen. Dass es nicht um ein revolutionäres Kadertum gehen kann, das stellvertretend am politischen Gegner abreagiert, was man im eigenen Leben irgendwie nicht hat. Dass stattdessen politische bzw. anti-politische Praxis die Freude ins Zentrum stellen muss, das eigene Begehren, das sich sein Ziel sucht und dass es Spaß machen muss. Dass man selbst Teil der Kämpfe sein muss, die um einen herum passieren. Der Insurrektionalismus erinnert an die Zeitgebundenheit von Organisierung. Es geht nicht um eine sterile Organisationsdebatte, in der pro und contras für dieses oder jenes feststehende Organisierungsmodell gesammelt werden. Sondern es geht darum, zu überlegen, wo die Kämpfe gerade stehen. Wie ist denn die Klassenzusammensetzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt und was resultiert daraus für eine Form der Organisierung? Der situative Zeitkontext spielt im Insurrektionalismus eine sehr große Rolle.
Es gibt im Insurrektionalismus natürlich auch diverse Mängel – zum Beispiel ein sehr statisches Verständnis von Konfliktualität und Klassenbewusstsein. Es wird immer ein hoher Grad von Konfliktualität vorausgesetzt, der durch Gewerkschaften und Parteien nur befriedet wird und jederzeit zum Ausbruch kommen würde, wenn man sich die Leute nur organisieren lässt. Das ist ja offensichtlich nicht der Fall. Ich glaube sogar, dass die großen Gewerkschaften sich weit mehr konfliktorientierte Mitglieder wünschen würden und dass sie eher verzweifelt darüber sind, dass sie zu wenig davon haben. Sie müssen nicht gerade befürchten, dass die gewerkschaftliche Basis so stark wird, dass sie sie bspw. mittels Ausschlüssen befrieden müssten. Dazu kommt, dass Klassenbewusstsein eben auch etwas dynamisches ist – dass es nicht reicht, den Leuten ihre Alltagskämpfe vor Augen zu führen, sondern dass sie erst dann kämpferischer werden, wenn sie auch Erfahrungen der Ermächtigung machen. Das wäre aber auch zu diskutieren.
Eine bestimmte insurrektionalistische Analyse der Klassenzusammensetzung, die Anleihen bei Negri nimmt, finde ich auch einfach falsch. Dass es quasi kein Proletariat mehr gibt. Natürlich ist es hochgradig fragmentiert. Aber der Prozess des Neoliberalismus bestand nicht darin, lauter Kleinbürger zu schaffen, sondern er basiert auf einer Spaltung der Arbeiter:innenklasse in ganz verschiedene Fraktionen, die sich auch feindlich gegenüberstehen. Bestimmte Fraktionen des Postoperaismus – ich erwähne die Zeitschrift Primo Maggio – haben das viel klarer gesehen. Sergio Bologna hat es bspw. klar gesehen, dass an die Stelle des Massenarbeiters eben nicht der »gesellschaftliche Arbeiter« tritt, sondern eher eine Fragmentierung der Arbeiter:innenklasse. Das hat auch Konsequenzen für die Organisierungsfrage: Die Affinitätsgruppe ist nicht die allein selig machende Organisierungsform. Es gibt durchaus eine Begründbarkeit von Massenorganisationen, die aus den Kämpfen selbst resultiert. Über die Dialektik von Quantität und Qualität haben wir ja schon gesprochen. Man kann sich nicht einfach auf die Seite der Qualität schlagen – die Härte des Angriffs auf die Herrschaft kann darunter leiden, wenn man sich nur auf die Intensität des Angriffs kapriziert und nicht auch darauf, Leute mitzunehmen. Das ist wiederum nicht einfach eine quantitative Akkumulationsdynamik, wie es manche Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre wahrnehmen. Das wäre das Korrektiv des Insurrektionalismus.
Anmerkungen
(a) Dieses Gespräch wurde auch für eine Ausgabe der Sendereihe »Wutpilger-Streifzüge« aufbereitet: https://wutpilger.org/04-2024-insurrektionalismus/
(b) Der Begriff der Autonomie hatte bereits in der italienischen Bewegung der wilden Streiks in den 1960er Jahren und in den frühen Texten des Operaismus eine wichtige Rolle gespielt. Als »Autonomia« oder »diffuse Autonomie« wurde dann die Bewegung der 1970er Jahre bezeichnet, die sich auch jenseits der Fabriken orientierte und einen starken gegenkulturellen Einschlag hatte. (1) Ergänzend sei auf eine Broschüre mit dem Titel »Guerillia Diffusa« aus den 70er Jahren verwiesen, die einige Texte Alfredo Bonannos versammelte, im wesentlichen aber eine Chronik von direkten Aktionen und Attentaten war und so eine Neudefinition des Begriffs der Stadtguerrilia vornahm. Bei allen Fußnoten handelt es sich um redaktionelle Anmerkungen.
(c) Der »Massenarbeiter« steht im Zentrum der frühen operaistischen Theorie. Damit wird ein Typus von Arbeiter:innen bezeichnet, der sich vom »Facharbeiter« unterscheidet, der sich durch einen hohen Grad an Spezialisierung, Produktionswissen und Produzent:innenstolz ausgezeichnet hatte. Der »Massenarbeiter« ist durch die fordistische Massenproduktion entstanden, verrichtet niedrig qualifizierte und monotone Arbeit, er steht dem Betrieb fremd gegenüber (oft handelt es sich um migrantische Arbeitskräfte) und entwickelt dementsprechend destruktivere Kampfformen. (2)
(d) Archipel = Inselgruppe
(e) Die Roten Brigaden, Brigate Rosse, waren eine Stadtguerilla-Gruppe, die 1980-1988 existierte. (3)
Verwendete Literatur
(1) Primo Moroni & Nanni Balestrini: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien. Edition Schwarze Risse, Berlin 1994.
(2) Vgl. Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Assoziation A, Hamburg 2005.
(3) Arte-Dokumentation Sie waren die Terroristen der Roten Brigaden, Frankreich 2011.
(4) Alfredo Bonanno: Die anarchistische Spannung. Online, unter: https://anarchistischebibliothek.org/library/alfredo-m-bonanno-die-anarchistische-spannung