Kantine »Festival«

Emma Goldman – ein widerständiges Leben


Hanna Mittelstädt

Hanna Mittelstädt war Mit-Gründerin und 45 Jahre lang Mit-Leiterin des Verlags Edition Nautilus. War Co-Übersetzerin für viele Werke aus dem Französischen (u.a. Situationistische Internationale), Lektorin sowie Redaktionsmitglied in den verlagseigenen Zeitschriften »Revolte«, Die Aktion. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: »Blu - Lovestory«, Konkursbuch Verlag 2021 und »Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens«, Edition Nautilus 2023. Nach dem Ausscheiden aus dem Verlag 2016 künstlerische Leitung für Szenischen Lesungen und Initiatorin der Franz Jung-Revue »Die Technik des Glücks« (zusammen mit Annett Gröschner) für das HAU (Hebbel am Ufer) in Berlin (2018). Zusammen mit der Übersetzerin Klaudia Ruschkowski Herausgabe gesammelter Werke von Etel Adnan (zuletzt: Sturm ohne Wind, 2019).

»Wo Emma Goldman sich zeigt, scheint das Leben eine intensivere Qualität anzunehmen. Sie hat etwas Gigantisches, auch wenn bisher keiner eine Erklärung dafür gefunden hat. Vielleicht ist es – wie in der Wissenschaft –, weil für Emma nichts unwiderruflich ist.« – Margaret Anderson

Schon dem anarchistischen Milieu entwachsen, entdeckte ich Anfang der 1980er Jahren die Autobiographie Emma Goldmans. Emma beeindruckte mich und viele Frauen meiner Umgebung durch die Freiheit und Eigenwilligkeit ihres Lebens und die Offenheit ihres Berichts. 1978 erschien der erste Band von „Gelebtes Leben“, dem zwei weitere folgten, im anarchistischen Karin Kramer Verlag. Übersetzt wurde dieses voluminöse Stück Erinnerung von drei Frauen (Marlen Breitinger, Renate Orywa, Sabine Vetter), keine von ihnen professionelle Übersetzerin. Aber sie waren überzeugt, dass diese Erinnerungen auf deutsch verfügbar sein sollten, und der Verlag publizierte, sobald wieder ein Teil fertig geworden war. Die Ausgabe des Kramer-Verlags war bereits länger vergriffen, als wir bei Edition Nautilus 2010 mit der Arbeit an der Neuauflage begannen. Da die Edition Nautilus gerade einen Bestseller platzieren konnte, verfügte der Verlag, den ich 1973 genau für solcherart Literatur mitgegründet hatte, über die benötigten Mittel, eine revidierte Übersetzung mit neuen Fotos und neuen Anhängen in einer wahren Schmuckausgabe publizieren, die nun weiterhin lieferbar ist. Und ich begann, nachdem ich 2016 aus der Edition Nautilus ausgeschieden war, mit verschiedenen Lesungen, u.a. mit einer Emma Goldman-Lesung, mit der ich 2023 auch beim Kantine-Festival über den Anarchismus in Chemnitz eingeladen war.

Legendär an Emmas Leben waren nicht nur ihre Unerschrockenheit, ihre Redegewandtheit, ihr Leben zwischen den Welten des russisch-jüdischen Emigrantenmilieus im New York der 1890er Jahre und den anarchistischen Kreisen der Jahrhundertwende mit ihren Kämpfen um »Arbeiterrechte«, »Frauenrechte«, direkte Aktion, Kultur für alle, Antimilitarismus. Ihr Leben mit Agitationsreisen, Gefängnisaufenthalten, Deportation auf einem ausgedienten Kriegsschiff zurück nach Russland war ein überwältigender Abenteuerroman, dessen Niederschrift im damals ärmlichen Fischerdorf Saint-Tropez, durch die Kunst-Mäzenin Peggy Guggenheim finanziert, 1930 beendet wurde. Am faszinierendsten war für mich damals, über die politischen Abenteuer hinaus, ihre leidenschaftliche Amour fou mit einem Mann, einem »zweifelhaften Subjekt«, nur am Rand »Genosse«. Von diesem Hin und Her der Anziehung berichtete Emma in einer für damalige Verhältnisse (und auch für die frühen 1980er Jahre) seltenen Offenheit, die Momentaufnahme eines Lebens für die Revolution, das eben alles umfasst, die Liebe, den Körper, die Gemeinschaft, die Vision, den Alltag, den Ausnahmezustand, und den Kampf für die Befreiung all dessen. Die »Freie Liebe«, für die Emma Goldman damals stritt, war zunächst eine Liebe jenseits der Ehe, jenseits der Bevormundung durch Ehemann und Familie, Staat und Kirche, die freie Kinderwahl, d.h. Wissen über Empfängnisverhütung, die Entscheidungsbefugnis über den eigenen Körper und der selbstbestimmte Sex. Emmas Feminismus war Teil des Anarchismus als »soziale Frage«, auch als Klassenfrage. Bei ihren Gefängnisaufenthalten hatte sie das Elend der armen Frauen genau kennengelernt. Sie bekam schon im Gefängnis eine Ausbildung als Krankenpflegerin, später studierte sie in Wien am Allgemeinen Krankenhaus und wurde Hebamme. Die soziale Not der Arbeiterinnen mit ungewollten Schwangerschaften war ihr lange Zeit tägliche Begleitung.

Die Bandbreite der politischen Aktivitäten, an denen Emma direkt oder indirekt beteiligt war, ist beachtlich: Propaganda durch Reden und Publikationen, Streikunterstützung, Solidaritätskampagnen, politischer Mord, Kulturarbeit, internationale Kongresse... Es formierte sich auch durch ihr Mittun eine internationale revolutionäre Strömung, die nach der russischen Revolution durch die Institutionalisierung einer neuen zentralisierten Macht, Diktatur des Proletariats genannt, durch die Komintern, die durch Moskau befehligte Kommunistische Internationale, erwürgt wurde.

Emma Goldman (1869–1940), geboren in Kaunas/Kowno im damaligen Russischen Reich (heute Litauen) in eine jüdische Familie, emigriert 1885 sechzehnjährig in die USA. Durch die Haymarket-Affäre politisiert, geht sie nach New York und arbeitet, wie schon in Russland, als Textilarbeiterin. Das Haymarket-Massaker oder der Haymarket-Aufstand war eine große Streikversammlung in Chicago zur Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden am 1. Mai 1886, die sich mehrere Tage hinzog. Bei den Massenprotesten der Arbeiter wurden bereits sechs Streikende von der Polizei erschossen, bis am 4. Mai eine Bombe auf den von den Arbeitern besetzten Haymarket-Square geworfen wurde. Etliche Menschen, Streikende und Polizisten, wurden getötet. Obwohl es keinerlei Beweise gab, wurden acht Mitorganisatoren des Streiks, darunter bekannte Anarchisten, verhaftet und sieben zum Tode verurteilt. Offensichtlich unschuldig wurden sie ein Symbol für den Kampfeswillen der arbeitenden Klasse. Dies ist die soziale Situation, die sich in Variationen wiederholen wird, in der Emma und ihre Genoss:innen aktiv werden.

In den russischen Emigrantenkreisen in New York trifft Emma ihren lebenslangen Freund und Landsmann Alexander Berkman. Mit ihm und einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter wird diskutiert und die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens, und zwar für alle, erörtert.

Bei einem großen Streik der Stahlarbeiter bei Pittsburgh 1892, in dem die Unternehmerseite bewaffnete Schlägertruppen gegen die Streikenden einsetzt und sich die Situation blutig zuspitzt, entscheidet Alexander Berkmann sich für eine Form der »Propaganda der Tat«: den »Tyrannenmord« an dem Tyrannen aus der Kapitalfraktion, der die gewerkschaftlichen Errungenschaften selbstherrlich und rücksichtslos außer Kraft setzte und für ein Massaker an den Streikenden verantwortlich war. Der Mordversuch scheitert, Alexander kommt für lange Jahre in Haft.

Emma ist mit dieser Art der politischen Aktion zwar solidarisch, aber nicht einverstanden. Sie hält Vorträge und organisiert Agitationsveranstaltungen. 1893 beginnt sie mit großen Agitationsreisen für die libertäre sozialistische Bewegung, auch für all die inhaftierten Genoss:innen. Im selben Jahr wird sie wegen »Anstiftung zum Aufruhr« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Im Knast wird sie zur Krankenschwester angelernt und »wegen guter Führung« vorzeitig entlassen.

1895 fährt Emma nach Europa, trifft u.a. Peter Kropotkin, Errico Malatesta und Louise Michel. In Wien hört sie Vorlesungen von Sigmund Freud und macht eine Ausbildung als Hebamme. Nach ihrer Rückkehr in die USA arbeitet sie eine Zeitlang als freie Hebamme, geht aber immer wieder auf Vortragsreisen.

Emma veröffentlicht von 1906 an die anarchistische Monatszeitschrift Mother Earth, an der, nach seiner Freilassung, auch Alexander Berkmann mitarbeitet. Es gibt viel Solidarität und Austausch mit den russischen Revolutionären, die z.B. nach dem gescheiterten Aufstand von 1905 emigrieren müssen.

1907 fährt Emma als Delegierte zu einem internationalen Anarchisten-Kongress in Amsterdam, auf dem verschiedene Vorstellungen der individuellen und kollektiven Aktions- und Organisationsformen diskutiert werden: wie »eine Organisation ohne Disziplin, ohne Angst und Strafe und ohne Armut möglich ist ... ein neuer sozialer Organismus, der dem Existenzkampf ein Ende machen wird, diesem wilden Kampf, der die feinsten Fähigkeiten eines Menschen verkommen lässt und die soziale Spaltung vertieft. Kurz, Anarchismus hat eine soziale Organisation zum Ziel, in der es allen gut geht.« (aus Gelebtes Leben)

Seit 1907 spitzt sich die Lage in den USA zu, die wirtschaftliche Krise, Arbeitslosigkeit, Armut, Elend, gewaltsame Übergriffe der Polizei auf Demonstrationen führen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch Emma bekommt auf ihren Vorträgen die Repression zu spüren, sie weicht in der offiziellen Thematik auf kulturelle Themen aus (u.a. über das moderne Drama), setzt aber ihre Propaganda unverdrossen fort.

Sie arbeitet zusammen mit den IWW (Industrial Workers of the World), einer Gewerkschaft, die erstmals auch Frauen, Wanderarbeiter und Ungelernte aufnahm, die anarchistisch orientiert war und die Direkte Aktion befürwortete. Ihnen ist klar, dass die intensiven Klassenauseinandersetzungen durch brutale Repression und den kommenden Weltkrieg in Schach gehalten werden sollen.

1916 wird Emma erneut verhaftet, weil sie Informationsmaterial über Geburtenkontrolle verteilt hat; nach ihrer Entlassung reist sie weiter umher, hält Reden gegen die Wehrpflicht, gegen den Krieg und trifft eine Vielzahl von Oppositionellen.

Am 15. Juni 1917 verabschiedete der US-Kongress ein neues Spionage-Gesetz. Emma und Alexander werden wegen ihrer Antikriegsaktionen wieder verhaftet. Wegen Vergehens gegen Bundesgesetze wird Emma verurteilt und in Chicago ins Gefängnis verbracht.

Ende 1919 werden sie und Alexander im Zuge der allgemeinen Anarchistenhetze aus den USA ausgewiesen und mit 250 anderen Revolutionären auf einem ausrangierten Kriegsschiff in die Sowjetunion deportiert. Hier werden Emma und Alexander zwar zunächst freundlich empfangen, bald stellen sie aber die Unterdrückung von anarchistischen und anderen abweichenden Haltungen fest sowie die elenden Arbeitsbedingungen, Hunger, Korruption und Misswirtschaft im Land der »Proletarischen Revolution«. Bei einem Treffen mit Lenin streitet dieser ihre Einschätzung ab. 1920 kommt es zu einer Kontaktaufnahme durch Galina Machno, die im Auftrag des ukrainischen Rebellenführers Nestor Machno vergeblich versucht, sie für die anarchistische Volksbewegung und Bauernarmee, die Machnowtschina, zu gewinnen. Aber erst 1921, nach der Niederschlagung des Aufstands der Kronstädter Matrosen und Arbeiter durch die Rote Armee, verlassen Emma und Alexander Russland. Sie sind tief verstört und enttäuscht und irren eine Zeitlang als »Staatenlose« ohne Pass und Geld durch Europa. Für die USA gilt weiterhin ein Einreiseverbot.

Emma lebt eine Weile in England und später in Südfrankreich, wo sie Ende der zwanziger Jahre ihre Autobiografie niederschreibt. Sie ist durch ihre Kritik (die sie 1923 als Buch veröffentlicht) an der Entwicklung im nachrevolutionären Russland, der Machtübernahme der Bolschewiki, weitgehend isoliert, und zwar international. Sie ist eine der ersten, die die Enteignung der revolutionären Initiativen denunziert, die sie mit eigenen Augen gesehen hat. Auch ihre Warnungen vor dem heraufziehenden Faschismus will niemand hören. Zu wirkmächtig ist noch das Bild der »Siegreichen Russischen Revolution«.

1936 engagiert sich Emma auf Seiten der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg, ihr Freund Alexander Berkmann ist drei Wochen vor Ausbruch der Spanischen Revolution gestorben. Sie arbeitet im Pressebüro der CNT-FAI in Barcelona, kritisiert aber deren Regierungsbeteiligung. Das, was als antifaschistischer Gegenschlag gegen den Putsch der Militärs unter Franco begann, war noch einmal eine breite gesellschaftliche Aneignung der Lebensverhältnisse direkt durch die Menschen. Aber auch diese Bewegung wurde von den bürokratischen Institutionen in Zusammenschluss mit der faschistischen, bürgerlichen und stalinistischen Konterrevolution zugunsten einer Entmachtung der Selbstverwaltung liquidiert. Emma verlässt Spanien wegen der Zwistigkeiten mit den Genossen der CNT-FAI-Führung, organisiert aber ab 1937 von London, Paris und Kanada aus eine internationale antifaschistische Solidarität für die spanische Revolution, später für die aus dem Bürgerkrieg Geflüchteten.

Emma Goldman stirbt am 14. Mai 1940 im Alter von 70 Jahren in Toronto. Erst ihre Leiche darf wieder in die USA einreisen, sie liegt auf dem Waldheim-Friedhof von Chicago nah bei den zum Tode Verurteilten des Haymarket-Aufstands.

Emmas Autobiographie Gelebtes Leben (Edition Nautilus Hamburg, 2010), 1931 im Original auf englisch mit dem Titel Living my Life in den USA (bei Alfred A. Knopf in New York) veröffentlicht, ist das Zeugnis einer kämpferischen, unabhängigen Frau, die ihre eigenen Wünsche stets selbst definierte und kompromisslos für das individuelle Selbstbestimmungsrecht innerhalb einer kollektiven Idee eintrat. Ihre unbedingten Wünsche waren zunächst auf das gerichtet, was sie verlassen wollte: das Russland der Zarenzeit, in der die Situation für jüdische Menschen eingezäunt und gefährlich war; das Arbeiterschicksal; ihre Ehe und letztendlich die erpresserischen politischen Blöcke. Ihr Leben spiegelt fast ein ganzes Jahrhundert der Versuche, die Revolte, die Freiheit und die Emanzipation zu gestalten.

Die »Rote Emma« war zu ihren Lebzeiten eine gleichermaßen verehrte wie gefürchtete Symbolfigur des Anarchismus. Sie wurde bekannt durch ihre Reden und Kampagnen für die Rechte der Arbeiter*innen, für Geburtenkontrolle und freie Schulen, gegen die Wehrpflicht und für die Friedensbewegung. 1885 war sie im Alter von 16 Jahren aus Russland in die USA emigriert. Als Textilarbeiterin in New York lebte sie in der Armut des Migrantenmilieus und gelangte in anarchistische Widerstandskreise u.a. mit Johann Most, der sie förderte. Sie erkannte bald ihr rhetorisches Talent und setzte es in landesweiten Kampagnen und Agitationsveranstaltungen ein, übrigens zunächst auf jiddisch, russisch und deutsch, erst später sprach sie in der Öffentlichkeit auf englisch. Sie wurde mehrmals zu Gefängnisstrafen verurteilt, verfasste Schriften über ihre revolutionären Themen. 1919, im Zuge der Kommunistenhetze der US-Regierung, wurde sie mit anderen Genossen aus den USA nach Russland deportiert. Enttäuscht von der diktatorischen Herrschaft der Bolschewiki floh sie quer durch Europa nach Frankreich, wo sie Ende der 20er Jahre ihre Autobiografie »Gelebtes Leben« schrieb. 1936 nahm sie an der spanischen Revolution teil. 1940 starb sie vereinsamt in Toronto. Auf ihrem Grabstein steht ein Zitat von Charles Caleb Colton: »Freiheit steigt nicht zu einem Volk herab, ein Volk muss sich selbst zur Freiheit erheben«