Rückblick auf den anarchistischen Stadtrundgang
Eugen ThomasEugen Thomas ist Möchtegernarbeiter-Versagerstudent. Hat mal ein Buch über Anarchismus gelesen und will seitdem auch mitmachen bei der sozialen Revolution. Beim anarchistischen Stadtrundgang besuchten wir Orte der Versammlungen und Streiks, Orte an denen Anarchisten verhaftet und eingesperrt wurden. Dabei schauen wir auf das, was im 19. Jahrhundert in der Stadt passierte. Denn diese Ereignisse beeinflussen über Umwege die weiteren Entwicklungen der anarchistischen Bewegung weltweit.
Der Rote Turm, die »Freie Presse«, der Rathausplatz, Opernplatz, die Universitätsbibliothek. Alles Orte, an denen im Chemnitz des 19. Jahrhunderts Klassenkampfgeschichte geschrieben wurde. Die im Entstehen begriffene sozialistische Bewegung war damals noch nicht in die heute bekannten Strömungen Sozialdemokratie, Staatskommunismus, Rätekommunismus und Anarchismus zerfallen. Zuerst stand noch das gemeinsame Ziel im Vordergrund: Klassenkampf von unten als Antwort auf die soziale Frage, als Selbsthilfe gegen zunehmende Verelendung. Erst schrittweise bauten sich proletarische Organisationen - Gewerkschaften, Vereine und Parteien - auf. Ab 1870 setzte sich in Europa langsam der Begriff des Anarchismus für die betont antiautoritären Teile der sozialistischen Bewegung durch.
Der Rundgang durch’s Chemnitzer Zentrum fand am 1. August 2023 zur Kantine Sabot statt. Thema waren Auszüge der anarchistischen und klassenkämpferischen Stadtgeschichte der Jahre 1849 bis etwa 1923. Für alle, die nicht dabei waren, oder die meinem chaotischen Gestotter nicht gut folgen konnten – hier nochmal zusammengefasst der Inhalt des Rundgangs.
Kurz noch zwei Dinge:
- Die Grundlage des Stadtrundganges habe nicht ich ausgearbeitet, sondern ein Anarchist aus Japan, der als Austauschstudent zu DDR-Zeiten nach Chemnitz kam und hier in Archiven geschichtliches Wissen über die proletarischen Bewegungen der Stadt sammelte. Über die Anarchagewerkschaft FAU (Freie Arbeiter:innen Union, werdet Mitglied!) haben wir ihn 2017 und 2018 zweimal eingeladen und er hat uns bei einem ähnlichen Stadtrundgang seine Erkenntnisse weitergegeben. Damals hatten wir den Eindruck, das meiste von dem Wissen, das diese Person vom anderen Ende der Welt uns vermittelt hat, sei hier vor Ort fast komplett unbekannt. Also war das Ziel, diesen Stadtrundgang zu übernehmen, um die Informationen daraus weiter zu tragen.
- Die anarchistische Kritik an bürgerlicher Geschichtsschreibung ist, vereinfacht gesagt, die folgende: Geschichte wird heute ähnlich erzählt wie der bürgerliche Roman oder Spielfilm: Es gibt Hauptfiguren und Nebenrollen, Zentrum der Entwicklung und uninteressante Peripherie, Hintergrund, Requisite. In der Art, wie wir auf Geschichte zurückblicken, spiegeln sich Herrschaftsverhältnisse der Gegenwart und jeweiligen Vergangenheit. Sie verzerren und verdecken große Teile der Erinnerung. An wen wird sich erinnert? Wer bekommt welche Bedeutung zugewiesen? Wer wird komplett ignoriert? Zumeist sind es einzelne Männer aus dem Bürgertum, die im Vordergrund stehen. Alle, die von diesem Ideal abweichen, insbesondere Bewegungen, Kollektive, alle Nicht-Männlichen, Nicht-Akademischen, Proletarischen, Nicht-Weißen, Nicht-Christlich-Abendländischen, werden aus der Erinnerung verdrängt oder bloß klischeehaft dargestellt. In den Bewegungen der Arbeiter:innen wird immer nach dem »starken« und »schlauen« Mann aus dem Bürgertum gesucht, der diese Bewegungen angeführt hätte. Marx, Bakunin, Lenin, ganz egal. So als wären Arbeiter:innen nicht zu eigenen Gedanken und Entscheidungen fähig.
Dieses falsche Denken nicht zu reproduzieren ist sehr schwer bis unmöglich, weil die Quellen meist Sekundärquellen sind und bereits mit dem bürgerlichen Blick gelesen und ausgewertet worden sind. Unsere eigene Prägung verstärkt diesen Effekt. Entsprechend ist auch der hier vorgestellte Stadtrundgang ein Ausdruck kapitalistisch-patriarchalen Geschichtsverständnisses. Vier Einzelpersonen stehen dabei im Zentrum – 3 Männer, eine Frau. Dazu ist uns noch über die Männer mehr bekannt. Vor allem die Biografie eines Mannes steht im Vordergrund: Johann Most. Die Anarchistin Emma Goldman offenbart in ihrer sehr lesenswerten Biografie »Gelebtes Leben« Mosts sexistischen und antisemitischen Kommentare, während sie ihn zugleich für seine Haltung in Klassenfragen wertschätzt. Es zeigt sich, dass wir im Anarchismus zu niemandem aufschauen sollten, sondern auch anarchistische Leute immer kritisch sehen müssen. Der Kampf gegen Herrschaft spielt sich nicht nur im Außen ab, sondern auch gegen uns selbst, gegen die Herrschaftsideologien, die wir selbst verinnerlicht haben. Wir sollten uns lieber wechselseitig kritisieren, statt uns anderen unter- oder überzuordnen. Wir brauchen keine Galionsfiguren sondern Augenhöhe. Behaltet also bitte im Hinterkopf, dass die weitestgehend zentralistischen Erzählungen des Stadtrundganges, die sich meist um Einzelpersonen drehen, nur einen kleinen, durch Herrschaft verzerrten Ausschnitt der tatsächlichen Geschichte darstellen. Zwar haben wir versucht, aus diesem Rahmen zu treten, doch das hat nur sehr eingeschränkt funktioniert. (1)
1. Schillerplatz / Aktienspinnerei
Die erste Station des Stadtrundgangs war der Schillerplatz. Hier war bis mindestens 2019 noch ein Gedenkstein für Ernestine Minna Simon im Rasen eingelassen. Minna Simon war Streikführerin im großen Textilarbeiterinnenstreik von 1883. Zuerst war sie einfache Arbeiterin in der Chemnitzer Aktienspinnerei. Das Gebäude steht heute noch gegenüber vom Schillerplatz, auf der anderen Seite des Omnibusbahnhofs. Frisch renoviert ist hier die neue Universitätsbibliothek eingezogen. Auch Nicht-Studierende können sich hier Bücher ausleihen. Es gibt dort einen Regalteil mit anarchistischer Literatur. Auch das Buch »Leben ohne Chef und Staat« von Horst Stowasser ist hier zu finden, das ein Kapitel über Chemnitz mit dem Namen »Der Plüschsessel« enthält. Dort stehen Infos, die ich hier aus Platzgründen leider weglassen muss.
Damals war die Aktienspinnerei ein Vorzeigebetrieb vorbildlicher Ausbeutung von etwa 700 Arbeiterinnen und ca. 300 Arbeitern. Frauen erhielten für gleiche Arbeit nur halb so viel Lohn wie Männer, obwohl sie zusätzlich – ähnlich wie heute – fast die ganze Hausarbeit, Kinder- und Altenpflege leisten mussten. Doppelte Belastung, halber Stundenlohn. Gleichzeitig schränkte der neue Fabrikdirektor nach der Fabriksanierung die Rechte der Beschäftigten immer weiter ein. Das provozierte den Widerstand der Belegschaft, die am 07. Juni 1883 in den Streik trat.
Ernestine Minna Reinitz wurde am 04. November 1845 in Chemnitz geboren und nachdem sie Maurer Louis Simon geheiratet hatte, hieß sie Minna Simon. Erst 1883 fing sie, nach der Arbeit in vielen anderen Städten, ihre Stelle als Textilarbeiterin in der Chemnitzer Spinnerei an. Zwei Tage nachdem im selben Jahr der Streik losgebrochen ist, wurde sie zusammen mit sieben weiteren Frauen (z.B. Amalie Kutschke und Louise Bauer) ins Streikkomitee gewählt. Minna Simon trug öffentlich die Streikforderungen vor, hielt Reden auf Versammlungen und sammelte Geld für die Familien der Streikenden. Es kam zu einem Teilerfolg: Der Fabrikdirektor stimmte einem Teil der Forderungen zu, aber es fehlte das Geld, um den Streik weiter durchzuhalten und alle Forderungen durchzusetzen.
Ernestine Minna Simon ging als mutige Streikführerin in die Geschichte ein. Sie hat mit dazu beigetragen, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Textilarbeiter:innen verbesserten. Zu DDR-Zeiten wurde für sie der Gedenkstein gelegt und eine Straße nach ihr benannt: In die Minna-Simon-Straße gelangt ihr, wenn ihr Richtung Zentrum/Brühl aus der Bazillenröhre unter dem Hauptbahnhof rauslauft. Ist eine kurze Straße. Vielleicht wird bald aber auch das Gebäude der Universitätsbibliothek nach ihr benannt. Der Gedenkstein, der auf dem Schillerplatz an sie erinnerte, wurde irgendwann in den letzten Jahren entfernt. Jetzt wird der Park neu gestaltet. Hoffentlich kommt der Gedenkstein danach zurück. Wenn nicht, brechen in Chemnitz vielleicht 2025 die Minna-Simon-Krawalle aus.
2. Theaterplatz / Neustätter Markt
Station Nummero Zwo: Der Theaterplatz. 1871 hieß dieser noch Neustätter Markt. Keines der Gebäude, die heute dort zu finden sind, nicht einmal die alt aussehende Prunkkirche, stand damals schon. Stattdessen war der Platz von Maschinenbaubetrieben der Metallindustrie umrandet. Der Neustätter Markt trug damals eine politische Bedeutung. 1849, als in Dresden gerade die Mairevolution tobte, wurde hier bereits bei einer großen Arbeiter-Demonstration der 10-Stunden-Tag gefordert. Die Forderung wurde damals nicht umgesetzt. Noch immer arbeiteten die Metallarbeiter (2) mehr als zehn Stunden und waren sehr unzufrieden damit.
Die Symbolkraft war groß, als sich am 24. April 1871 eine Riesenversammlung von Metallarbeitern auf dem Platz zeigte. Hier wurde sich über die unerträgliche Arbeitssituation ausgetauscht und es wurde zuerst eine Petition an den Reichstag beschlossen. Doch nichts geschah: Der Reichstag ignorierte die Petition und diskutierte sie nicht einmal.
So kam es Ende Mai auf dem Platz zu einer großen Protestkundgebung. Der (damals noch) sozialdemokratische Aktivist und Gewerkschafter Johann Most wurde eingeladen, eine Rede zu halten. Er hielt es für naiv, vom Staat Unterstützung zu erwarten, und forderte stattdessen die Bildung von Gewerkschaften, um in Arbeitskämpfen selbst für die eigenen Rechte eintreten zu können. Erste Belegschaften von Metallarbeitern waren bereits gewerkschaftlich organisiert und da der Staat sich gerade eben als Verbündeter disqualifiziert hatte, trafen Mosts Thesen auf breite Zustimmung. August Bebel bezeichnete ihn später in erwähnter, zentralistischer Sicht als »Organisator des Chemnitzer Metallarbeiterstreiks«.
Tatsächlich war es wohl etwas anders: Die Arbeiter:innen hatten ihre Forderungen nach nicht mehr als 10 Stunden Arbeit pro Tag an die einzelnen Metallunternehmer gerichtet. Die Vorstände wollten eigentlich darauf eingehen, denn erstens konnten sie auf die spezialisierten und gut ausgebildeten Metallarbeiter schwer verzichten, zweitens hatte sich ihnen gezeigt, dass sie mit Akkordarbeit höhere Profite erzielten, als durch lange Arbeitstage mit Stundenlöhnen. Doch der Wirtschaftsaufschwung der damaligen Zeit hatte zur Folge, dass sich viele der Metallbetriebe gerade zu größeren Aktiengesellschaften zusammenschlossen. Und damals wie heute bedeutete ein von der Belegschaft gewonnener Streik meistens einen Wertverlust für die Aktie des Unternehmens. Also wurden die Forderungen von der Führung der Aktiengesellschaft abgelehnt.
Die Metallarbeiter wurden wütend und wollten am liebsten sofort in den Streik treten. Johann Most, eigentlich für seine Radikalität in gewerkschaftlichen Fragen bekannt, mahnte eher zur Geduld. Eigentlich hätte er es lieber gesehen, wenn zuerst die Gewerkschaften ausgebaut worden wären (Die damalige Mitgliederzahl lag bei 311). Doch die überarbeiteten Maschinenbauer wollten sofort loslegen, um klarzustellen, dass sie die Ablehnung ihrer Forderungen nicht akzeptieren konnten.
Most konnte sich gerade noch mit der Forderung durchsetzen, wenigstens noch den nächsten Monatslohn abzuwarten, um mehr finanzielles Polster für den kommenden Streik parat zu haben. In den Arbeiterkneipen von Chemnitz, bspw. der »Stadt Köln«, wurde die Aktion geplant. Dann begann der Arbeitskampf. Das waren die Forderungen des Metallarbeiterstreiks 1871:
- Zehnstündiger Normalarbeitstag;
- Beibehaltung bisheriger Feiertage;
- Der bisherige Tageslohn bleibt für den verkürzten Arbeitstag bestehen;
- Für Überstunden wird ein Zuschlag von 25 Prozent gezahlt;
- Die Delegierten der Belegschaft für den Streik dürfen nicht gemaßregelt werden.
»Eine solche Lohnbewegung hatte Chemnitz noch nicht gesehen. Zum ersten Mal streikten sämtliche Metallarbeiter, wohl 7000 bis 8000 Proletarier. Die Maschinenfabriken lagen still oder arbeiteten notdürftig mit einer kleinen Schar von Streikbrechern.« (3)
Most führte das Streikkomitee an. Sie versandten Briefe an andere Gewerkschaften, organisierten finanzielle Unterstützung für die Streikkasse und forderten dazu auf, Streikbrecher zurück zu halten. Die bürgerliche Presse hetzte gegen den Arbeitskampf, die Polizei verhaftete Streikposten und schützte Streikbrecher auf ihrem Weg in die Betriebe. Viele Chemnitzer:innen zeigten sich solidarisch. In Crimmitschau und Leipzig wurden Solidaritätshandlungen anderer Arbeiter mit staatlicher Repression und Verboten beantwortet. Ein Bäcker strich die Brotschulden von 400 Talern, die streikende Arbeiter bei ihm machen mussten. Eisenbahner spendeten für den Streik. Trotzdem musste der Metallarbeiterstreik aus Geldmangel mit einem faulen Kompromiss beendet werden: Es wurde die Wochenarbeitszeit auf 62-Stunden begrenzt (!), wobei gleichzeitig 10 Feiertage gestrichen wurden. Die konsequentesten Leute, die den Streik am längsten durchgehalten hatten, wurden zu »Aufwieglern« erklärt und nicht wieder eingestellt. Die Unternehmerseite hatte sich am Ende bei den Verhandlungen weitgehend durchsetzen können.
Dennoch machte der Streik deutschlandweit und international einen großen Eindruck auf sozialistische Bewegungen und ging als »großer Metallarbeiterstreik« ins kollektive Gedächtnis ein.
Die Arbeiter:innen schlossen daraus, dass für lang andauernde Arbeitskämpfe die Organisation in großen, schlagkräftigen Gewerkschaften notwendig ist (die z.B. über längere Zeiträume Streikgeld zahlen konnten). Sie erkannten, dass Bitten an die Unternehmensleitung und Petitionen an die Regierung zu nichts führten, sondern dass soziale Verbesserungen von ihnen selbst erkämpft werden mussten. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften stiegen sprunghaft an.
Zur Einordnung: Am 21. Oktober 1878 erließ Bismarck das »Sozialistengesetz«, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Das Gesetz kriminalisierte den linken Flügel der SPD und alle selbstorganisierten, sozialistischen Bestrebungen. Die damalige SPD war also nicht mit der heutigen vergleichbar. Damals gab es noch Mitglieder wie Most, deren Ziel tatsächlich eine nicht-kapitalistische, klassenlose Gesellschaft war.
3. Marxkopf / Nischel
Die nächste Station war der Marxkopf aka Nischel. Hier wollte ich nur ein paar Dinge zum Verhältnis der anarchistischen Bewegung zu Marx sagen, bei denen ich glaube, dass sie ziemlich unbekannt, aber interessant sind. Beispielsweise teilten etwa der bekannte russische Anarchist Michael Bakunin und auch Johann Most die marx’sche Kapitalismusanalyse. Bakunin übersetzte Marx’ Buch »Das Kapital« ins Russische und verbreitete es unter russischen Arbeiter:innen. Johann Most schrieb eine vereinfachte Version des Kapitals in Alltagssprache, weil er und Bakunin unabhängig voneinander meinten, dass der wissenschaftliche Ton von Marx den Zugang für viele Arbeiter:innen erschwerte. Denn akademische Bildung und viel freie Zeit zum Lesen waren damals wie heute ein Privileg des Bürgertums. Marx und Engels überarbeiteten Mosts Text mit dem Titel »Kapital und Arbeit« und veröffentlichten ihre berichtigte Version. Sie hatten also keinen grundsätzlichen Einwand gegen Mosts Ziel, eine allgemeinverständliche Kapitalismusanalyse zu verbreiten. Mosts Text trug sehr dazu bei, Marx’ Thesen unter den Werktätigen bekannt zu machen.
Bakunin betont in einem Text, dass er Marx’ Kritik am Kapitalismus teilt und wertschätzt. Seine Kritik an Marx beschränkt sich darauf, dass Marx, seiner Ansicht nach, den Staat als Mittel der Revolution ansehe und dass er Hierarchien in der proletarischen Bewegung fördere. Es zeigt sich, dass zwischen dem Anarchismus und dem Kommunismus schon früh ein Konsens in der Analyse und Ablehnung des Kapitalismus existierte. Es gibt also eine gemeinsame Grundlage, auf dem bei Gewerkschaftsarbeit, Antikapitalismus, besonders auch beim Antifaschismus gebaut werden kann. Arbeitskämpfe können nur dann erfolgreich sein, wenn Arbeiter:innen gegen das Kapital gemeinsame Sache machen, auch wenn sie darüber hinaus unterschiedliche Ansätze verfolgen.
4. Brückenstraße / Freie Presse
Die nächste Station war der aktuelle Sitz der »Freien Presse« in der Brückenstraße. Durch seine Radikalität und Konsequenz in Klassenfragen erhielt Most großen Zuspruch vonseiten der arbeitenden Bevölkerung. Vielleicht lag es auch an seiner Sprache, den Worten, die er nutzte, dass sie ihn als einen von ihnen erkannten und schätzten. Most war gelernter Buchbinder und war erst vor kurzem von seiner Wanderschaft zurückgekehrt. Nicht nach Augsburg, wo er 1846 als uneheliches Kind armer Eltern zur Welt kam. Zuerst lebte er danach in Jura und La Chaux de Fonds in der Schweiz, dann in Wien. Erst danach gelangte er nach Chemnitz. In der Schweiz hatte er sich bei gewerkschaftlich organisierten Leuten aus den Uhrenwerken und Mitgliedern der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) mit antiautoritären, sozialistischen Ideen angesteckt. In Wien saß er schon im Knast wegen Hochverrat, nachdem er als einer von 50000 Leuten an einer proletarischen Demonstration teilgenommen hatte. Nun hielt er in Chemnitz Reden für den gewerkschaftlichen Kampf und im Auftrag der SPD, die er aber auch gelegentlich kritisierte. Weil aber seine Agitation so erfolgreich war, wurde er zum Chefredakteur des damaligen SPD-Presseorgans gemacht: Er übernahm die Leitung der Chemnitzer »Freien Presse«.
Schnell vervielfältigte sich die Auflage der Zeitschrift. Immer mehr Leute wollten hören, was er zu sagen hatte. Most übte deutliche Kritik am Bismarck-Staat und dessen unternehmerfreundlichen und arbeiterfeindlichen Politik. Gleichzeitig kritisierte er die Kirche, ihren großen Einfluss und die konservativen Ansichten ihrer Mitglieder. Aber auch die SPD-Führung bekam ihr Fett weg. Most zufolge sollte das Ziel der Arbeiter:innen nicht sein, den bürgerlichen Staat zu erobern, um quasi von oben eine soziale Politik einzuführen. Für Most ist und bleibt der Staat Werkzeug der herrschenden Klasse. Parlamentarismus lenkte aus seiner Sicht von realen Zielen der Bewegung ab.
Stattdessen sah er im Parlament bloß eine Bühne. Die SPD sollte also ihre große Sichtbarkeit als Parlamentspartei dazu nutzen, dafür zu werben, dass möglichst viele Arbeiter:innen Mitglied in Gewerkschaften werden und sich anderweitig organisieren, um durch Arbeitskämpfe, Streiks und Aufstände ihre Ziele durchzusetzen. Dass Most mit dieser Vorstellung nicht alleine war, beweist das zunehmende Interesse, das seine Zeitung in den Reihen der Arbeiter:innen entfachte. Er scheint mit seinen (pro-)proletarischen, antiautoritären Ansichten einen Nerv getroffen zu haben. Dennoch sah oder bezeichnete sich Most zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht als Anarchist.
Bevor er die Freie Presse übernahm, hatte das Blatt eine Auflage von 200 Stück und wurde in einem Pferdestall gedruckt. Nachdem Most Chefredakteur geworden war, stieg die Auflage auf 1200. Die Druckerei zog um in eine eigene Verlagswerkstatt mit Schnellpresse. Trotzdem die Zeitung immer öfter verkauft wurde, geriet die Freie Presse in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Das Druckmaterial wurde teurer, aber die Arbeiter:innen hatten nicht mehr Geld zur Verfügung. Oft wurde die Zeitung nach dem Lesen an Genoss:innen weitergegeben. Die Verkaufszahlen blieben gleich und die Kosten stiegen an. So drohte der Freien Presse damals, trotz großer Verkaufserfolge, die Pleite.
5. Roter Turm
Doch Rettung kam zustande durch seltsam verquickte Umstände. Alles fing an mit einem Haftbefehl. Wegen Landesverrat und 16 weiteren Delikten sollte Johann Most im Roten Turm, Überbleibsel einer alten Festungsanlage, einsitzen. Zwei Monate lang – oder aber das Land verlassen. Letzteres lehnte er kategorisch ab. Alternativ konnte er auch 120 Taler Strafe zahlen, die er bei einem Wochenlohn von nur sechs Talern nicht mal eben übrig hatte. Doch bei einer großen Versammlung, auf der Most eine seiner Reden mit gewohntem Erfolg gehalten hatte, wurde unter den Arbeiter:innen Geld für ihn gesammelt. Dabei kam soviel zusammen, dass er die Strafe davon hätte bezahlen können. Doch Most entschied sich anders: Er nahm das ganze Geld, um damit seine Zeitung, die Freie Presse, vor dem finanziellen Ruin zu retten. So musste er, trotz der großen Solidarität der Arbeiter:innen, seine Haftstrafe antreten.
Für ihn wurde extra im roten Turm, der heute noch nahe der Zentralhaltestelle steht, direkt unter dem Dach ein eigenes Haftzimmer eingerichtet. Grund dafür war, dass er nicht mit den anderen Gefangenen zusammen eingesperrt werden sollte, um zu verhindern, dass er selbst im Knast noch als Agitator aktiv werden könnte. Das Ergebnis war, dass Mosts relativ kurzer (aber natürlich immernoch viel zu langer) Knastaufenthalt ziemlich gemütlich wurde. Er hatte eine geräumige Zelle mit Blick über’s Chemnitzer Zentrum. Dazu durfte er in Begleitung eines Aufpassers sogar das Haus verlassen, was ihm ermöglichte, weiter als Redakteur der Freien Presse zu arbeiten.
Nicht zuletzt war seine Festungshaft durch einen besonderen Gegenstand erträglicher geworden: Ein roter Plüschsessel. Auf ihm saß der »Rote Johann« im »Roten Turm«. Arbeiter:innen verschiedener Gewerke hatten sich zusammengeschlossen, um den Sessel als Unikat extra für Most zu fertigen. Sie brachten den Sessel zum roten Turm und konnten durchsetzen, dass Most ihn mit zu sich auf’s Zimmer nehmen konnte. Der Sessel war vergegenständlichte Solidarität mit dem gefangenen Revolutionär.
Most saß nach seiner Haft in Chemnitz noch in vielen anderen Städten und Ländern im Gefängnis:
Zuerst in Zwickau, dann Berlin-Plötzensee, in London Zwangsarbeit, auch in den USA Haftstrafen.
Dabei beschreibt Most seine Zeit in Sachsen als noch am erträglichsten. Grund für seine dort privilegierte Behandlung war ein Interessenkonflikt zwischen dem Großbürgertum, der deutschnational orientierten Bourgeoisie und dem dagegen bismarckkritisch eingestellten Beamt:innentum, das eigene Ziele verfolgte. Dieser Konflikt führte dazu, dass die Staatsbeamt:innen sozialistische Gefangene oft besser behandeln ließen, als es Bismarck und das Kapital gerne gesehen hätten.
Nach der Einführung von Bismarcks »Sozialistengesetz« verließ Most im Jahre 1878 Deutschland und wollte zunächst nach New York, wohin ihn deutsche Migrant:innen eingeladen hatten, blieb dann aber in London hängen. Von hier aus konnte er als Redakteur Deutschland weiter mit sozialistischer Presse beliefern. Im Londoner Exil gab er über Schmuggelwege weiterhin eine zunächst sozialdemokratisch genannte, später offen anarchistische Zeitschrift mit dem Namen »Freiheit« heraus. Die Zeitung wurde trotz Kriminalisierung viel gelesen und wurde das Organ der SPD-Basis, während die SPD-Spitze eine eigene Zeitung herausgab: Den »Sozialdemokrat«. Die »Freiheit« gab Most dann später in New York heraus. Dort hatte er großen Einfluss auf die sich entwickelnde anarchistische Arbeiter:innenbewegung, auf die Wobblies (Mitglieder der Anarcha-Gewerkschaft IWW) und auf die bekannte Anarchistin Emma Goldman. Letztere kritisierte Most mehrfach. Einmal schlug sie auf einer Veranstaltung mit einer Peitsche auf ihn ein. Wenn ihr wissen wollt, warum, lest ihre Biografie »Gelebtes Leben«! Wenn ihr mehr zum Plüschsessel erfahren wollt, lest Horst Stowassers Buch »Leben ohne Chef und Staat«. Darin lässt sich auch die folgende Episode ausführlicher nachlesen.
6a. Klassenkampf statt Vaterland: Anti-Sedan-Feier auf dem Chemnitzer Rathausplatz
Im »neuen deutschen Kaiserreich« wurde am 2. September der »Sedantag« gefeiert. Das bedeutete, dass sich die Patriot:innen der Stadt, insbesondere besser gestellte Bürger:innen, darüber freuten, dass an diesem Tag Preußen Frankreich besiegt hatte. Dass bei der Schlacht von Sedan auf beiden Seiten insgesamt über 80-Tausend Menschen, vor allem Bauern und Arbeiter, die zu Soldaten gemacht worden waren, ermordet worden sind, schien das deutschnationale Bürgertum nicht weiter zu stören. Für sie war der Sedan kein blutüberströmtes Massengrab, sondern Symbol für das siegreiche Preußen und die militärische Größe der deutschen Nation.
Die Position vieler Arbeiter:innen war eine andere. Im Sinne der internationalen Solidarität waren sie erklärte Antimilitarist:innen. Für sie waren im Namen von Volk und Nation Arbeiter aufeinander gehetzt worden, die untereinander viel gemeinsam hatten, während ihre Befehlshaber in Friedenszeiten als Privilegierte und Unterdrücker über ihnen standen. Luxemburg und Liebknecht werden später die Metapher der Gladiatorenkämpfe nutzen, bei denen Sklaven sich gegenseitig bis zum Tod bekämpfen sollten, während die Sklavenhalter auf der Tribüne saßen und das Spektakel genossen (deshalb nannten sie ihre antimilitaristische Organisation »Spartakusbund«). Ähnlich war auch jetzt im Kapitalismus das herrschende Bürgertum, insb. das Großbürgertum nicht in direkte Kriegshandlungen involviert, aber es profitierte von Krieg, Zerstörung und vom Sieg (in diesem Fall) über Frankreich. Entsprechend begeistert war es vom Krieg, seinen Schlachten und seinem Ausgang, den es am 2. September ausgiebig feiern wollte. Von diesem patriotischen Taumel, der z.B. durch die Presse weit verbreitet wurde, ließen sich Leute aus allen Klassen und Gesellschaftsschichten, auch Arbeiter:innen, anstecken. Vor allem aber die sozialistische Arbeiter:innenbewegung kritisierte das Event und stellte dem Prinzip Nationalismus das Prinzip Internationalismus und grenzübergreifende Klassensolidarität gegenüber. Arbeiter:innen um Johann Most dachten sich einen kreativen Weg aus, gegen die Sedan-Veranstaltung zu protestieren.
Am Sedantag war das gesamte Chemnitzer Stadtzentrum rund um den Rathausplatz herum mit altdeutschen Flaggen verschandelt worden. Patriotische Bürger:innen hatten es sich mit Fähnchen, Sekt, Böllern und Bengalos auf ihren Balkonen gemütlich gemacht und erwarteten nun den angekündigten nationalistischen Umzug. Bei den Fressbuden und Bierzelten und zwischen den Besucher:innen in Feierlaune wurde eine »Festzeitung« verteilt. Die wurde gerne angenommen, stellte sich jedoch bei genauerem Ansehen als Fälschung heraus, die von Most und Kollegen in der »Freien Presse«-Werkstatt gedruckt worden war. Das Redaktionshaus der »Freien Presse« war mit schwarzen und roten Fahnen geschmückt worden. Viele Arbeiter:innen hatten auf Vorschlag von Most ihre Steuerbescheide zu Fahnen zusammengebunden und aus dem Fenster gehängt – als Gegenstück zu den schwarz-weiß-roten Patriotenflaggen. Inhalt der falschen Festzeitung war Kritik am Nationalismus und Militarismus des deutschen Kaiserreiches, also haufenweise Anti-Sedan-Argumente mit bissiger Ironie serviert.
Arbeiter:innen, die frei hatten, versammelten sich in der Kneipe »Stadt Köln«, die als Treffpunkt der Sozialist:innen bekannt war. Sie bildeten mehrere Straßenzüge und liefen von den verschiedenen Seiten auf den Rathausplatz ein. Es dämmerte schon und so verwechselten viele patriotische Bürger:innen das proletarische Aufgebot mit dem nationalistischen Fackelzug, der ihnen von Stadtseiten versprochen worden war. Sie zündeten ihre Bengalos und Böller, jubelten und ließen die Korken knallen. »Hoch die internationale Solidarität! Hoch die soziale Revolution« riefen die Arbeiter:innen auf dem Chemnitzer Rathausplatz im Chor. Aus den Fenstern und von den Balkonen kamen ihnen »Hurra«-Rufe entgegen. Doch peinlich berührt mussten die bürgerlichen Patriot:innen schließlich erkennen, dass sie nicht dem Sedan-Fackelzug zugejubelt hatten, sondern einem proletarischen Aufmarsch für internationale Solidarität. Als schließlich der echte Fackelzug den Rathausplatz erreichte, wirkte er recht klein gegenüber der proletarischen Versammlung und muss wohl ein klägliches Bild abgegeben haben. Die Arbeiter:innen verließen dann den Rathausvorplatz Richtung Schützenplatz und ließen das kleine Häufchen Nationalist:innen hinter sich. Am Schützenplatz hielt Johann Most eine Rede für »die internationale Verbrüderung gegen Tyrannen und Ausbeuter«. Weil er darin die Soldaten des Krieges Mörder nannte, wurde ihm der Vorwurf der Majestätsbeleidigung gemacht. Schwer konstruiert durch einen Bismarck-nahen Staatsanwalt: Weil der Kaiser der höchste Befehlshaber des Heeres war, bedeute es, ihm Mord zu unterstellen, wenn seine Soldaten zu Mördern erklärt würden, so die fragwürdige Argumentation. Es reichte, um Most zu verurteilen und als Majestätsbeleidiger in Zwickau einzusperren. Dort in Haft verfasste er seine Zusammenfassung von Marx’ Kapital Band 1 in einfachen Worten und es gibt Stimmen, die aussagen, dass sich erst durch seinen Text »Kapital und Arbeit« Marx’ Theorie unter dem deutschsprachigen Proletariat so erfolgreich verbreiten konnte.
6b. Dresdener Mairevolution: Michael Bakunin 1849
Most war nicht der einzige Anarchist, der im Chemnitz des 19. Jahrhunderts staatlicher Repression ausgesetzt worden war. Michael Bakunin, der sich 1849 an der Dresdener Mairevolution beteiligt hatte, war auf der Flucht vor den Staatsbehörden nach Chemnitz gelangt. Hier wurde er 1849 in der Nacht zum 10. Mai von der Polizei gefasst, verhaftet und schließlich eingeknastet. Ort seiner Gefangennahme war die Kneipe »Blauer Engel«, die sich, den Archiv-Recherchen zufolge, damals am Rande des Rathausplatzes befand. Und zwar an der Ecke von Galeria Kaufhof, an der wir vorbeikommen, wenn wir von der Zentralhaltestelle aus auf den Rathausplatz laufen.
6c. Chemnitzer Arbeitslosenbewegung und anarchistische Gewerkschaft: Helmut Rüdiger
Eine letzte Person, auf die ich gerne noch aufmerksam machen möchte, ist Helmut Rüdiger. Auch wenn er erst im 20. Jahrhundert, nämlich 1903, geboren wurde, lässt sich in seiner Biographie die Verbindung herstellen zwischen der sozialistischen Bewegung im Chemnitz des 19. Jahrhunderts und der Anarchosyndikalistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Rüdiger war Mitglied der FAUD, der Freien Arbeiterunion Deutschlands, war am Widerstand gegen den deutschen Faschismus beteiligt und in der spanischen CNT aktiv (eine der wohl größten anarchosyndikalistischen Gewerkschaften der Welt). Ähnlich wie Most war er Aktivist in Chemnitz, bevor er einflussreiches Mitglied der globalen anarchistischen Bewegung wurde.
1903 wurde Helmut Rüdiger in Frankenberg bei Chemnitz geboren. Er wurde liberal erzogen, obwohl sein Vater Theologe war. Als Jugendlicher schloss sich Rüdiger der Wandervogelbewegung an. 1918 und 1919 wurde er auf die Bayrische Räterepublik aufmerksam und stieß auf die Texte des dort aktiven Anarchisten Gustav Landauer. Landauer, der bei der gewaltvollen Auflösung der Räterepublik von nationalistischen Freikorps ermordet wurde, hatte großen Einfluss auf den jungen Rüdiger und machte ihn auf anarchosyndikalistische Ideen aufmerksam.
Rüdiger wurde zunächst Teil der Chemnitzer Arbeitslosenbewegung und trat darüber 1922 in die FAUD ein. Bei seinem Studium in Leipzig wurde er Teil eines Diskussionszirkels, an dem Jungakademiker und Jungarbeiter beteiligt waren. An diesem Zirkel waren mit ihm unter anderem auch Gerhard Wartenberg, später Faschismusexperte der FAUD, und Ferdinand Götze, nach 1933 anarchosyndikalistischer Widerstandskämpfer, beteiligt. Später studierte Rüdiger in München, wo er 1925 Vorsitzender der dortigen FAUD wurde. 1927 ging er nach Berlin und schrieb dort ab 1928 an der anarchosyndikalistischen Zeitschrift »Der Syndikalist« mit. 1930 wählte ihn die FAUD-Versammlung auf dem reichsweiten Kongress zum Mitglied der Geschäftskommission. Doch bereits 1932 verließ er Deutschland in Richtung Spanien, wo er zusammen mit Arthur Müller-Lehning Redakteur der »Internationale« wurde, die aufgrund von Repressionen aus der Emigration heraus erschien. Zu den mittlerweile kriminalisierten und illegal fortexistierenden FAUD-Gruppen hielt Rüdiger weiter Kontakt. Er wurde Subsekretär der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) in Barcelona und übernahm auch die deutschsprachige Kommunikation der CNT/FAI. 1937 reiste er nach Paris, um dort den außerordentlichen Kongress der IAA mit vorzubereiten. Er musste 1939 nach Schweden fliehen, wo er für die syndikalistische Tageszeitung »Arbetaren« schrieb. Er nahm 1949 die schwedische Staatsbürgerschaft an. Helmut Rüdiger galt als bedeutender Theoretiker des modernen Syndikalismus. Er starb 1966 in Madrid.
Johann Most und Helmut Rüdiger sind zwei Beispiele für Anarchisten, die einen großen Einfluss auf die deutschsprachige, europäische und selbst internationale anarchistische Bewegung hatten. Sie haben die anarchistische Theorie durch ihre Tätigkeit als Schriftsteller und Redakteure bedeutend mitverfasst, die anarchistische Praxis haben sie als Organisatoren und Gewerkschafter mitbestimmt. Während Johann Most selber Arbeiter war, war Helmut Rüdiger ein Bürgerlicher, der sich der Arbeiter:innenbewegung gegenüber solidarisch gezeigt hat. Die beiden lebten zu verschiedenen Zeiten und beeinflussten verschiedene Bewegungen an verschiedenen Orten. Was sie verbindet, ist ihr klassenkämpferischer Anarchismus, ihre Tätigkeit als Herausgeber anarchistischer und sozialistischer Zeitschriften und dass sie beide auch durch ihre Zeit in Chemnitz politisch geprägt worden sind. Hier standen sie damals mit Chemnitzer Arbeiter:innen in Kontakt. Geschichtlich wird es oft so dargestellt, als wenn Organisierung eine Einbahnstraße wäre, als ob die Organisatoren das Licht der Erkenntnis in die unwissenden Massen tragen würden. So war es nicht. Es gab hier auch Prozesse von wechselseitigem Austausch. Das bedeutet, dass die Chemnitzer Arbeiter:innenbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die anarchistische Theorie- und Praxisgeschichte mit geprägt hat. Lasst uns doch an diese Tradition anknüpfen!
Anmerkungen
(1) Wenn Ihr Euch für anarchistische Geschichtswissenschaft interessiert, empfehle ich Euch das Institut für Syndikalismusforschung, das regelmäßig Bücher und Zeitschriften zur Geschichte der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Arbeiter:innenbewegung herausbringt: https://www.syndikalismusforschung.info/
(2) Ob damals auch Frauen unter den Demonstrierenden waren, weiß ich leider nicht. Vielleicht waren sie als mitbetroffene Ehefrauen der Maschinenbauer mit auf der Straße, vielleicht waren sie selbst in den Metallbetrieben angestellt und besonders stark von schlechten Arbeitsbedingungen und unterdurchschnittlicher Bezahlung betroffen? Ich weiß es leider nicht, gehe aber davon aus, dass der Streik, ähnlich wie die gesamte Metallindustrie damals (wie heute) männlich dominiert war. In Anlehnung an das, was uns Antje Schrupp bei der Kantine Sabot zu denken gegeben hat, nutze ich deswegen jetzt nicht einfach die Endung Metallarbeiter:innen. Ich fand gut, wie sie die drei Fragen in den Raum gestellt hat: Waren Frauen überhaupt anwesend? Wenn ja, haben sie auch gesprochen? Wenn ja, wurde ihnen auch zugehört? Sehr wahrscheinlich haben sie die Versammlungen durch reproduktive Arbeit freiwillig oder unfreiwillig mit getragen: Durch Kinderbetreuung, Zubereitung von Essen, Kochen von Tee, u. a.. Vielleicht standen sie auch in erster Reihe, haben Reden gehalten und die männlichen Kollegen oder Ehemänner zu mehr Kampfbereitschaft angespornt, weil sie die Folgen der schlechten Zustände am härtesten zu spüren bekamen? Auch, wenn ich an einigen späteren Stellen im Text die inklusive :innen-Endung gewählt habe, bleibt meistens die Frage, ob es sich dabei nicht um vorgetäuschte Vielfalt handelt und es sich stattdessen um reine Männergruppen gehandelt hat. Aus den meisten Quellen lässt sich das nicht herauslesen. Bilderquellen wie Fotos wären gut.
(3) vgl. Strauss & Finsterbusch, 1954, Die Chemnitzer Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz, S. 21
(4) Confederación Nacional del Trabajo/Federación Anarquista Ibérica
Verwendete Literatur:
- Bakunin, Michael (1849). Barrikadenwetter und Revolutionshimmel. Berlin: Karin Kramer.
- Chemnitzer Stadtarchiv (Genaue Angaben kann ich hierzu nicht machen. Ich selbst war nicht dort.)
- Heilmann, Ernst (1912). Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz und dem Erzgebirge. Chemnitz: Landgraf & Co.
- Stowasser, Horst (1997). Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten (2. Auflage). Berlin: Karin Kramer.
- Strauss, Rudolph & Finsterbusch, Kurt (1954). Die Chemnitzer Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz. Berlin: Tribüne.