(Zu) Kurze Kantine-Kritik
Eugen ThomasEugen Thomas lebt in Chemnitz, ist Anarchist und Mitglied der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft »Freie Arbeiter:innen Union« (FAU). Im Rahmen des Programms der Kantine »Sabot« hat er einen Stadtrundgang über Anarchismus und Arbeiter:innenbewegung in Chemnitz durchgeführt. Auf der Kantine »Sabot« beteiligte er sich an zahlreichen Diskussionen und formulierte auch Kritik. Im Nachgang haben wir ihn deshalb gebeten, seine Kritik für diese Publikation in Textform zu bringen.
»Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.«
Gustav Landauer (1870 – 1919)
Zuerst mal vielen Dank für die Kantine Sabot. War mal wieder super organisiert. Du konntest schön reinlaufen und dich berieseln lassen von haufenweise tollen Inhalten rund um den Anarchismus. Danke an alle Leute von der Küche, der Technik, den Bars, den Vorträgen, Podien, den Schlafplätzen, und wer sonst noch alles dafür gesorgt hat, dass das Ganze so stattfinden konnte, wie’s gelaufen ist. Vielen Dank!
Es gab ein paar Punkte, die mich gestört haben und die ich hier gerne einbringen will. Zum Diskutieren oder einfach zum mal drüber Nachdenken. Vielleicht bin ich ja nicht alleine damit.
Der erste Punkt ist vielleicht so etwas wie die Schattenseite der guten Organisation. Ich hatte den Eindruck, mich in ein gemachtes Nest zu setzen, warm und wohlig, aber eben in keine Umgebung, die zur wirklich aktiven Teilnahme einlädt. Von anderen Veranstaltungen, die Wert auf eine möglichst herrschaftsarme Struktur legen, kenne ich es so, dass alle jederzeit die Möglichkeit haben, eigene Veranstaltungspunkte einzubringen und bestehende zu kritisieren, auch zu intervenieren. Es gibt zum Beispiel ein schwarzes Brett, wo alle eigene Vorträge, Workshops usw. einfach anschreiben, anbieten und damit stattfinden lassen können. Außerdem wird dort vorausgesetzt, dass sich alle an Orga- und Reproduktionsaufgaben wie Reinigung, Essen Kochen, Aufräumen, Awareness-Konzepten usw. beteiligen.
Das kann sehr chaotisch zugehen und ich kann verstehen, dass Ihr Euch aus Organisationsgründen dagegen entschieden habt. Nur wirkte die Kantine Sabot so schon fertig durchgeplant mit wenig Freiraum für Veränderungen durch die Besucher:innen. Diese wurden dadurch auf die Rolle von vielleicht kritischen, insgesamt aber passiven Empfänger:innen von Inhalten verwiesen. Planung statt Plenum. Formierende Formate. Ehrfurcht erheischende Expertisen.
Das Machtgefälle zwischen Lehrenden und Lernenden scheint nicht hinterfragt, zumindest nicht konfrontiert worden zu sein. Form und Inhalt hängen aber doch zusammen: Wie können wir über herrschaftsfreie Ansprüche sprechen ohne den Anspruch, möglichst herrschaftsfrei zu sprechen? Mein Eindruck war, dass so die Vermittlung anarchistischer Inhalte streckenweise sabotiert wurde. Es wurde tatsächlich oft ÜBER Anarchismus gesprochen. Podium über Publikum. Von oben herab, ohne Augenhöhe, aber dazu später mehr. Die Dominanz des Podiums ließ wenig Gelegenheiten für Gegenrede.
Zusammengefasst war es für das Publikum am leichtesten, in eine passive Konsumhaltung zu verfallen und die vorgesetzten Inhalte schwammartig aufzusaugen. Der Wissenstransfer verlief klassischerweise von vorne nach hinten, von oben nach unten. Von den wissenden Weisen hin zu den wartenden Anwesenden, bei denen wenig Wissen vermutet wurde. Wenn versucht wurde, dieses Fließgleichgewicht aufzuwirbeln, eigene Ansichten und Erkenntnisse mit hineinzuwerfen, führte das zwangsläufig zu Irritationen und verdutzten Versuchen, diese wirren Wogen zu glätten. Es fehlte dazu auch zeitlich der Platz im Plan.
Es ist wohl nötig, diese Kritikpunkte, die aktuell noch abstrakt und allgemein gehalten sind, an einem konkreten Beispiel zu veranschaulichen, um sie nachvollziehbarer werden zu lassen:
Da gab es diese Podiumsveranstaltung am Mittwoch, den 2.08.23, die von der Kantine-Crew, also quasi von Euch, veranstaltet worden ist. So genau weiß ich ja gar nicht, wer Ihr seid, darum geht’s ja auch nicht. Jedenfalls fand diese Veranstaltung im Namen der Orgagruppe der Kantine statt und ich spreche ihr damit ein gewisses Gewicht zu.
Nun, an dieser Veranstaltung lässt sich gut hervorheben, was mich auch an anderer Stelle, wo es weniger deutlich war, gestört hat. Bisschen überspitzt würde ich Eure Aussagen dort auf dem Podium mal so zusammen fassen: »Leute wir haben uns Euren Anarchismus mal gründlich angeschaut. Und was sollen wir sagen? Alles Rotz! Hier – lest lieber mal was Ordentliches«. Und dann habt Ihr einen interessanten Text verteilt, um darüber zu diskutieren. Das Ganze erinnerte aber mehr an betreute Gruppenarbeit wie in der Schule damals.
Versteht mich nicht falsch – beide Teile der Veranstaltung, einzeln besehen, hätten mir gefetzt. Also entweder provokante und weniger provokante Thesen zum Anarchismus diskutieren, vielleicht sogar darüber streiten, wäre super gewesen. Ich mag Kritik an meinen Dogmen gerne anhören. Das hilft doch, eigene Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. So schaffe ich es vielleicht irgendwann mal aus diesem anarchistischen Sumpf heraus.
Auch nur den Text von Isaak Steinberg von 1921 zu lesen und im Anschluss daran in den Austausch zu gehen, hätte ich richtig gut gefunden. Ich fand, der Text war gut gewählt, als einer, der theoretisch, wie Ihr sagt, zwischen Marxismus und Anarchismus angesiedelt war. Super Idee. Ich denke, es gibt aus anarchistischer Sicht viele gute Gründe, gerade marxistisch beeinflusste Texte aufzugreifen, Parallelen und Kritikpunkte zu suchen. Diesen Text zu lesen und zu besprechen war eine super Sache.
Nur beides zusammen war doof geplant, fand ich. Und zwar, weil es für mich so erschien, als sollten wir im ersten Teil alle abnicken, dass Anarchismus theoretisch unterkomplex und praxisuntauglich sei; weil er ja keine konkreten Strategien dafür bereit halte, wie der Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft zu gestalten sei, dass sich Anarchist:innen keine Gedanken darüber gemacht hätten, welche möglicherweise notwendigen Funktionen der Staat heute erfüllt und wie diese nichtstaatlich übernommen werden könnten. Es war im Plan gar nicht genug Platz dafür freigehalten, die ersten Thesen ernsthaft zu diskutieren. So war es für mich mehr ein angetäuschter Austausch. Es erschien mir so, als würdet Ihr die Antworten auf Eure Fragen schon kennen.
Dazu muss ich sagen, selbst bei meinem begrenzten Wissen über anarchistische Theorie (und das als selbsternannter Anarchist), weiß ich, dass Eure Darstellung auf dem Podium nicht zutreffend war. Erstens waren die von Euch gelesenen und auf dem Rumreicheblatt aufgelisteten anarchistischen Klassiker:innen nur ein kleiner Ausschnitt anarchistischer Theorie, vor allem, wenn wir die Entwicklungen bis heute berücksichtigen. Das ist methodisch verständlich. Irgendwie musstet Ihr eine Auswahl treffen. Zum anderen haben aber selbst diese Personen mit großer Sicherheit andere Antworten auf die von Euch gestellten Fragen parat gehabt, als Ihr dargestellt habt. Vielleicht habt Ihr in der Vorbereitung nicht gründlich gelesen? Glaub ich aber gar nicht.
Ich schätze mal, Eure Ergebnisse waren Folge einer Art Projektion. Ihr konntet in anarchistischen Texten nicht mehr finden, als Ihr schon vor der Lektüre erwartet hattet. Und da Ihr den Anarchismus, so war jedenfalls mein Eindruck, als historisch weitestgehend überwundene frühsozialistische Vorform kritischer Theorie auffasst, konntet Ihr ihm keine komplexen Antworten auf wesentliche Fragen zutrauen. So habt Ihr dann auch keine gefunden. Ihr habt stattdessen das gefunden, was Ihr gesucht habt: Verkürzte antistaatliche Polemik ohne Tiefgang.
In der Einleitung zur Veranstaltung habt Ihr beispielsweise geschrieben: »In der anarchistischen Theorie ist der Staat nicht das Ergebnis von Interessensgegensätzen und Formen von Vergesellschaftung, sondern umgedreht: alle bestehenden Konflikte scheinen nur durch den Staat verursacht.« Dem würde ich einerseits das am Anfang dieses Textes angefügte Zitat entgegen stellen. Landauer hätte aus meiner Sicht als anarchistischer Theoretiker und Praktiker (bayrische Räterepublik) auf der Kantine Sabot eine größere Aufmerksamkeit verdient. Aber Ihr könnt natürlich nicht alle Anarchist:innen berücksichtigen. Hier noch ein anderes anarchistisches Beispielzitat, das dieser These von Euch widerspricht:
»Die anarchistischen Sozialisten glauben, dass der Staat, die zentralisierte Regierung, stets der Geschäftsführer der besitzenden Klasse war und immer sein wird; dass er lediglich der Ausdruck bestimmter materieller Bedingungen ist, und dass er mit dem Verschwinden dieser Bedingungen ebenfalls verschwinden muss; dass der Sozialismus, das heißt die vollständige Übernahme aller Formen des Eigentums aus den Händen von Menschen in den unteilbaren Besitz der Menschheit, als logische und unvermeidliche Folge die Auflösung des Staates mit sich bringt.« (1)
Aus meiner Sicht verwechselt Ihr nämlich etwas: Anarchismus ist keine Bewegung, die den Staat quasi als Hauptwiderspruch der Gesellschaft ansieht und alles andere zum Nebenwiderspruch erklärt. Die Ablehnung des Staates und jeder Hierarchie ist einfach das Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen sozialistischen und sozialrevolutionären Bewegungen. Wo andere den Staat als Mittel der Reform (Sozialdemokratie) oder der Transformation (Staatskommunismus) nutzen wollen, erkennt der Anarchismus, dass der Staat immer nur Werkzeug für reaktionäre Ziele sein kann und revolutionär nicht nutzbar ist, sondern bekämpft werden muss.
Anarchismus richtet sich aber, wie auch die anderen sozialistischen Strömungen, gegen die kapitalistische Klassenherrschaft der Bourgeoisie, also gegen die Übermacht des Kapital-besitzenden Bürgertums. Und, wenn wir den herrschaftsfreien Anspruch wirklich ernst nehmen, auch gegen Patriarchat, Rassismus und alle anderen Herrschaftsstrukturen, die ja mit dem Kapitalismus auf’s engste verknüpft, aber nicht darauf reduzierbar sind. Dazu mal ein Zitat vom Anarchisten Erich Mühsam, nach dem in der DDR-Zeit auch eine Chemnitzer Straße auf dem Kaßberg benannt wurde:
»Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. […] Sozialismus ist, wirtschaftlich gesehen, die klassenlose Gesellschaft, in welcher der Grund und Boden sowie alle Produktionsmittel der privaten Verfügung entzogen sind, somit weder Grundrente noch Unternehmerprofit noch auch die Abgeltung vermieteter Arbeitskraft durch Lohn oder Gehalt die schaffenden Hände und Hirne um den Ertrag ihrer Mühen berauben können.« (2)
Auch die anarchistische Ablehnung von Arbeitsteilung kenne ich nur als Vorwurf, aber nicht aus der anarchistischen Theorie. Soweit ich weiß, wird nur dazu aufgefordert, zu reflektieren, wie unterschiedliche Rollen im Produktionsprozess zu Machtungleichheiten, zu Privilegien und Hierarchien führen können. Wer die Arbeit anderer verwaltet, steht hierarchisch meist über diesen anderen. Muss das so sein? Dann müssen wir uns alle zusammen selbst verwalten. Wenn nicht, dann müssen wir Wege finden, wie die Verwaltung von Arbeit von der Machtzentralisierung getrennt werden kann.
All diese und andere Erwiderungen zu Euren Thesen, die vielfach aus dem Publikum zu hören waren, wurden leider von Euch abgewürgt. Vor allem, nachdem die dafür vorgesehene knappe Zeitspanne verstrichen war. Ich selber habe mir ziemlich einen abgestottert bei dem Versuch, was zu sagen. Ich bin halt nicht so gut im Reden – schon gar nicht vor großen Gruppen. Außerdem wusste ich gar nicht, wo ich anfangen soll, zu begründen, warum ich Eure Thesen weitestgehend für falsch halte. Zum Glück gab es andere Leute, die geschickter und auch theoretisch bewanderter waren und die schnell gute Einwände bei der Hand hatten. Aber, so erschien es mir, das war in Eurer Planung nicht vorgesehen und sorgte für Irritationen. Ihr hattet vielleicht geschlossene Zustimmung oder nur wenig Widerspruch erwartet, aber nicht eine so verbreitete Infragestellung der Thesen, die aus meiner Sicht aber sehr angebracht und auch vorhersehbar war. Schließlich habt Ihr - etwas versteckt - den Anarchismus im Ganzen infrage gestellt.
Das lässt sich schon an dem Vorstellungstext zur Veranstaltung ablesen. Ihr stellt darin folgende Frage:
»Machen Konflikte und Notwendigkeiten der Planung innerhalb einer sozialistischen Übergangsgesellschaft staatliche oder staats-analoge Strukturen notwendig?« Aus meiner Sicht eine überraschend konkrete Frage für eine offene Diskussion. Sie beinhaltet im Kern eine Verwerfung der anarchistischen These, dass der Staat nur den Übergang in die klassenlose Gesellschaft behindern, aber niemals befördern kann. Die Frage von Euch scheint zudem eher rhetorisch gemeint gewesen zu sein, denn direkt danach fragt Ihr: »Wie kann die Macht solcher Strukturen jedoch beschränkt und Arbeitsrechte wie individuelle Freiheiten garantiert werden?« Ihr habt Eure eigene Frage von davor also offenbar schon selbst beantwortet und zwar mit einem klaren »Ja«. Damit behauptet Ihr die Notwendigkeit staatsanaloger Strukturen in der Übergangszeit vom Kapitalismus zur Klassenlosigkeit.
Klassisch staatskommunistisches Argument würde ich sagen, weil ja das »Absterben des Staates« nach dem Erreichen der befreiten Gesellschaft, soweit ich weiß, in nahezu allen sozialistischen Strömungen Konsens ist. Die Frage ist nur: Wie lange kann der Staat Werkzeug der Transformation sein und wann beginnt er, sich durch die erfolgte Umstrukturierung überflüssig zu machen? Ab wann ist jede Staatlichkeit reaktionär?
Da hat der Anarchismus aus meiner Sicht immer die Position vertreten: Ab sofort. Der Staat muss zusammen mit dem Kapital schon heute bekämpft werden. Ihn zu erobern führt in die Irre. Für den Übergang müssen andere Strukturen, bspw. Assoziationen von Gewerkschaftssyndikaten, Kollektivbetrieben und/oder Kommunen aufgebaut werden, die den Staat in seinen regulativen- und Verwaltungsfunktionen ersetzen und obsolet machen; ihn praktisch aufheben und sein revolutionäres Gegenstück darstellen. Soziale Revolution kann aus Sicht des Anarchismus niemals mit dem Staat oder »staats-analogen«, also hierarchischen Strukturen verwirklicht werden, sondern muss gegen den Staat und sein Prinzip, seine Logik durchgesetzt werden.
Typisch anarchistische Demoparole dazu: »Das Proletariat braucht keine Hierarchie, kein Kommunismus ohne Anarchie.« Verdeutlicht ganz gut, was wir von Staat und allen Formen des Regierens halten. Vielleicht können diese hierarchiefreien Organisationen des Übergangs auch Räte von Arbeiter:innen sein? Anarchist:innen und Rätekommunist:innen verstehen sich ja oft ganz gut miteinander.
Der Anarchosyndikalismus, den Ihr aus meiner Sicht zu Unrecht theoretisch vom Anarchismus abtrennt, hat sehr konkrete Modelle entwickelt und umzusetzen begonnen, wie die neue Gesellschaft »in der Schale der alten« aufgebaut werden kann, bis sie schließlich in der Revolution die Eierschale des Bestehenden zerbricht.
Nicht durch revolutionäre Gewalt, wie ich glaube, sondern indem bereits eine bedürfnisgerechtere, ökologischere, rationalere Ökonomie etabliert worden ist, der der Kapitalismus nichts mehr entgegen zu setzen hat. Etwa ein Generalstreik könnte dann die Zündung für einen umfassenden Systemwandel sein, indem die de facto bereits von den Syndikaten übernommene Produktion auch ganz offiziell nicht mehr durch Kapitalbesitzende, sondern nur noch durch Arbeiter:innen verwaltet wird. Indem sich alle dann an der Produktion beteiligen, werden alle zu Arbeiter:innen und das heißt: Alles gehört allen, alle werden satt und alle entscheiden mit. Zum Beispiel über maximale Arbeitszeitverkürzungen. Das aber ist mit Sicherheit nicht die einzige hier verknappt dargestellte Transformationstheorie des Anarchismus. Geht mal auf die Suche – da gibt es noch einiges mehr.
Doch es ist auch Kritik angebracht an allen zu konkreten Zukunftsplänen, die in dem revolutionären Moment, wo wir durch gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozesse unsere gemeinsame Zukunft gestalten werden, in autoritäre Dogmen umschlagen könnten. Deswegen ist Vorsicht geboten mit unflexiblen Programmen, die unter reaktionärer Prägung von einer politischen Minderheit erarbeitet werden. Lieber Träume statt Transkripte für die Transformation!
Die nächste Sache, die ich wichtig finde, zu kritisieren ist folgende: Ihr habt den Geschichtswissenschaftler Ewgeniy Kasakow zu einem Vortrag über die Auseinandersetzungen zwischen anarchistischen und kommunistischen Gruppen in der Sowjetunion eingeladen. Kasakow vertritt aus meiner Sicht viele interessante Thesen, über die es sich lohnt nachzudenken und verfügt darüber hinaus über ein großes, wertvolles Wissen über anarchistische Strömungen in Russland und Osteuropa im 20. und 21. Jahrhundert.
Allerdings halte ich seinen Anarchismus-Begriff für sehr fragwürdig. Und zwar spricht er allen Gruppen, die sich »anarchistisch« nennen, zu, auch anarchistisch zu sein. Er setzt damit Schein und Sein, Omen und Nomen gleich. Das halte ich für sehr irreführend. Nach derselben Logik wäre »Freie Marktwirtschaft« frei, wäre »Soziale Marktwirtschaft« sozial und wäre der »Nationalsozialismus« tatsächlich eine sozialistische Strömung. Wenn Bezeichnungen mehr sind als Zeichen, mehr als Etiketten, die sich alle beliebig ankleben können, wenn sie also mit Inhalten und Bedeutungen behaftet sind, dann funktioniert diese Subsumierung aller sich anarchistisch nennenden Gruppen nicht. Denn es verbindet sie nur das Wort und kein dazugehöriger Inhalt. Ausgehend von einer kurzen Kritik an diesem Anarchismus-Begriff Kasakows, möchte ich dem ein materialistisch orientiertes Verständnis von Anarchismus entgegensetzen.
Zunächst einmal reduziert Kasakow, mehr noch als die Kantine-Crew, Anarchismus auf die Ablehnung des Staates. Das lässt sich bspw. anhand des oben gegebenen Mühsam-Zitates, an vielen anderen Zitaten und vor allem anhand der anarchistischen Geschichte widerlegen. Mindestens die Abschaffung der Klassengesellschaft war von Beginn an gleichwertiges Anliegen. Erklärtermaßen war die von aller Herrschaft befreite Gesellschaft das Ziel der anarchistischen Bewegung. Der Staat war ein Ausdruck und Produkt der Herrschaft und als solcher zu überwinden. Kasakow ignoriert diese Tradition und bringt dadurch aus meiner Sicht einige Verwirrung in das Verständnis von Anarchismus, die letztlich in einer Beliebigkeit enden muss, in der Anarchismus jeder tatsächlichen Bedeutung beraubt wird und nur noch Anstecker und Schlagwort bleibt.
Besonders provokant: Selbst rechte und neoliberale Konstruktionen, wie den Nationalanarchismus oder den Anarchokapitalismus, bei denen sich so ziemlich alle Anarchist:innen und auch viele andere Leute einig sind, dass sie nichts mit Herrschaftsfreiheit zu tun haben, zählt Kasakow zu den anarchistischen Strömungen. Das lässt sich schnell widerlegen: Nationalanarchist:innen sind Faschos – das bedeutet, sie streben eine auf der Verschärfung bestehender Herrschaftsverhältnisse basierende, faschistische Gesellschaft an, bei der die Ungleichwertigkeit von Menschen, die Nationen zugeordnet werden, die ideologische Grundlage bildet. Menschen werden also nach ihrem vermeintlichen Wert hierarchisiert. Da Nationen laut Definition immer Regierung, Bevölkerung und Landmasse umfassen, ist eine regierungsfreie Nationalität ein Widerspruch in sich. Nicht nur darum vertreten Anarchist:innen klassischer Weise einen Antinationalismus, der Menschengruppen nicht mehr nach den Grenzen, in denen sie zufällig geboren wurden, kategorisiert und der ehemals durch Kriege, Könige und Kolonialmächte eroberte Landmassen nicht zu erhaltenswerten sozialen Gebilden (v)erklärt.
Ebenso widersprüchlich ist der Anarchokapitalismus. Denn Kapitalismus ist schließlich immer Klassenherrschaft der Kapital-besitzenden Klasse über diejenigen, die zur Arbeit oder zu prekärer Arbeitslosigkeit gezwungen sind. »Ancaps«, wie sie sich schnittig selber nennen, wollen darüber hinaus bestehende kapitalistische Verhältnisse noch verschärfen. Sie träumen von Privatstädten, fordern den Rückbau des Sozialstaates ohne Ersatz durch solidarische, selbstorganisierte Strukturen, sie wollen die völlig deregulierte Marktwirtschaft, in welcher die Macht des Kapitals völlig entfesselt walten kann. Den Staat halten sie für ein wettbewerbsverzerrendes, sozialistisches Element. Wo Unternehmen sich mit Privatarmeen bekriegen anstatt mit staatlichen Heeren, glauben diese Leute, die Freiheit zu erlangen. Dabei paktieren sie in den USA, aber mittlerweile auch in Deutschland und ganz Europa gerne offen mit Faschist:innen und Nazis. Ich denke, es ist wichtig, diesen Menschen und allen anderen zu sagen, dass ihre menschenfeindliche Ideologie nichts mit Anarchismus zu tun hat. Unser Ziel sollte sein, ihr trojanisches Pferd rechter und marktradikaler Ideologie zu enttarnen. Auch um den Anarchismus als bedeutungsvollen Begriff zu erhalten.
Kasakows unkritische Zurechnung dieser rechten Strömungen zum Anarchismus soll an dieser Stelle also problematisiert werden. Es stellt sich die entscheidende Frage, inwieweit vieles von dem, was Kasakow über Anarchismus aussagt, in diesem Zusammenhang genau überprüft werden muss: Trifft er Aussagen über den tatsächlichen (historischen) Anarchismus oder meint er bloß dessen Verpackungsschwindel-Pendant?
Daraus geht die Frage hervor, wer ist überhaupt anarchistisch? Wenn wir, was ich für sehr sinnvoll halte, nicht die Selbstbezeichnung von Menschen zum Maßstab dafür nehmen, wer anarchistisch ist und wer nicht, brauchen wir andere Maßstäbe. Mein Vorschlag wäre ein materialistischer Anarchismus-Begriff. Marx sagte, dass Kommunismus keine Utopie ist, nach der die Gegenwart sich auszurichten habe, sondern die reale (!) Bewegung, die die bestehende Klassengesellschaft des Kapitalismus aufhebe. Parallel dazu würde ich sagen: Anarchistisch sind Bewegungen und sind alle Leute, die real dazu beitragen, Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. Indem sie Beziehungen auf Augenhöhe anstreben und entwickeln und indem sie zur materiellen Vergesellschaftung und (Gerecht-)Verteilung von Ressourcen, Möglichkeiten, Macht und Zugängen beitragen.
Das bedeutet auch, dass es viele Menschen gibt, nicht nur die erwähnten Gruppen, die sich anarchistisch nennen, aber in ihrer realen Praxis Herrschaftsverhältnisse eher potenzieren oder zementieren als zu ihrer Überwindung beizutragen. Etwa indem sie praktischen Antikapitalismus verhindern oder indem sie andere Herrschaftsverhältnisse ignorieren, Hierarchien etablieren und sich (überdurchschnittlich) autoritär gegenüber anderen verhalten. Andererseits heißt das, dass es viele Menschen gibt, die anarchistisch sind, ohne es zu wissen. Vielleicht lehnen sie den Begriff sogar ab, weil sie ihn mit negativen Dingen assoziieren. Aber indem sie anderen auf Augenhöhe begegnen, indem sie Ressourcen verteilen und Hierarchien infrage stellen, indem sie antiautoritäre Strukturen aufbauen, handeln sie anarchistisch. Sobald ein Mensch sich seiner eigenen Unterdrückung oder der anderer Personen entgegenstellt, nicht mit dem Ziel, sie durch andere Herrschaft zu ersetzen, sondern sie ersatzlos abzuschaffen, ist dieser Mensch Anarchist:in. »Man sagt, daß Frauen oft Anarchismus praktizieren, ohne es zu wissen, während manche Männer sich selbst Anarchisten nennen, ohne das zu praktizieren.« (3)
Diese Definition macht den Begriff fast zeitlos, weswegen ihm sicher ein zweiter Begriff wie bspw. „Moderner Klassenkampf-Anarchismus“ zur Seite gestellt werden sollte, denn für diesen materialistisch verstandenen Anarchismus gilt das, was die Früchte des Zorns singen: »Unsere Revolte ist so alt wie die Zeit und geht erst mit dem letzten lebenden Menschen sterben.« Vielleicht nicht mal das, denn auch nicht-menschliche Tiere zeigen antiautoritäre Impulse. Niemand möchte gerne geschlagen, eingesperrt, erniedrigt oder unterdrückt werden. Deswegen ist uns der Anarchismus, wo wir ihn als Streben nach Herrschaftsfreiheit verstehen, doch so vertraut. »Wir wollen unter uns keine Sklaven sehen und über uns keine Herren.« (Einheitsfrontlied)
Mit einem solchen Anarchismus-Verständnis als Basis hätte auch der Vortrag von Lucien van der Walt weniger den Eindruck erweckt, der Anarchismus wäre ein koloniales Exportprodukt Europas. Als könnte er sich nur in dem Maße auf dem afrikanischen Kontinent etablieren, in welchem der europäische Kolonialismus seine Produktionsverhältnisse, Arbeiter:innen und kulturellen Praxen afrikanischen Geographien aufzwingen und einflößen konnte. Stattdessen würden wir sehen, dass viele lokale Kulturen in den verschiedenen afrikanischen Ländern herrschaftsfreie oder nach Herrschaftsfreiheit strebende Elemente beinhalten. Auch wenn diese andere Namen tragen. Und nicht zuletzt ist jede antikoloniale Bewegung, die nicht das Ziel verfolgt, die Besatzung durch neue Besatzung oder lokale Eliten zu ersetzen, sondern ersatzlos zu streichen, in diesem Sinne anarchistische Praxis. So könnten wir die Bedeutung der anarchistischen Bewegung vom Begriff trennen und globale Stränge herrschaftskritischer Traditionen aufgreifen und gemeinsam neue entwickeln. Das würde auch die anarchistische Entstehungsgeschichte dezentralisieren.
Ich verstehe aber auch den Vorwurf, dass damit der Anarchismus versucht, Bewegungen in anderen Ländern für sich zu vereinnahmen. Wenn ich Anarchismus aber als eine alte und globale Bewegung ansehe und nicht als eine ausschließlich europäische, dann greift der Vorwurf der Vereinnahmung allerdings auch zu kurz. Anarchismus ist dann der Impuls der alle Klassenkämpfe motivierte, deren Ziel nicht neue Klassenherrschaft war, sondern Klassenlosigkeit. Egal, ob sie sich gegen Sklaverei, gegen Feudalismus oder gegen Kapitalismus gerichtet haben. Wenn alle Geschichte Klassenkampfgeschichte ist (Kommunistisches Manifest), dann war Anarchismus wohl von Anfang an mit dabei.
Dieser materialistische Anarchismus-Begriff ist hier nur als Diskussionsbeitrag zu sehen. Selbst wenn ihm nicht zugestimmt wird, was ich verstehen kann, weil er die Bewegung des Anarchismus von dem selbstbewussten Ziel der Herrschaftsfreiheit abtrennt und so zu zeitlichen und räumlichen Entgrenzungen führt (die mir selber gut gefallen), ist der rein am Wort fest gemachte Anarchismus abzulehnen. Anarchismus verfolgt das Ziel der Anarchie. Diese angestrebte Anarchie ist nicht bloß die staatenlose, sondern die herrschaftsfreie Gesellschaft. Gruppen, die dem entgegengesetzte Ziele vertreten, sollten nicht anarchistisch genannt werden.
Anarchismus ist nicht alleine auf die Ablehnung des Staates zu reduzieren. Antistaatlichkeit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um eine Bewegung als anarchistisch anzusehen.
Abschließend möchte ich gerne sagen: Die gesamte anarchistische Theoriegeschichte in einer Woche abzuhandeln, war aus meiner Sicht ein zu sportlicher Anspruch der Kantine, der scheitern musste. Dass er gescheitert ist, ist gar kein Problem. Auch wenn nur Ausschnitte anarchistischer Theorie und Geschichte präsentiert wurden, halte ich das schon für ein tolles Ergebnis. Für einen Fehler halte ich nur die Behauptung und den Glauben daran, diesem überhöhten Anspruch gerecht geworden zu sein.
Indem Ihr als Kantine-Crew am Schluss gefragt habt »Was bleibt vom Anarchismus?«, habt Ihr die Illusion verkauft, Ihr hättet Euch 1. in einem Jahr erschöpfend mit der gesamten Theorie und Praxis des Anarchismus (bis 1945) auseinandersetzen können und 2. in der einen Woche wäre all dieses Wissen so abschließend vermittelt worden, dass Ihr nun zu einem Fazit übergehen könntet. Eine Woche Inhalt, welche die Jahre davor nur einer einzelnen Person linker Theoriebildung gewidmet war, soll nun eine ganze Bewegung mit tausenden, wenn nicht Millionen von Theoretiker:innen abhandeln können? Wie soll das gehen?
OK, dass Ihr gesagt habt, der Anarchosyndikalismus ist eine ernstzunehmende Kiste und die Leute sollen Mitglied in der FAU, der Freien Arbeiter:innen Union werden, das fetzt mir natürlich. Kann ich nur unterschreiben. Aber dass Ihr Anarchismus und Anarchosyndikalismus voneinander trennt, halte ich angesichts der Bewegungsgeschichte für unhaltbar. Der Anarchosyndikalismus ist konsequente anarchistische Praxis (würde ich sagen); mit einem ausgeklügelten Konzept für den Umbau des Kapitalismus in eine herrschaftsfreie, klassenlose Gesellschaft.
Ich fand es paternalistisch, wie Ihr immer wieder gesagt habt, dass der Anarchismus doch wenigstens meistens auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden habe. Fragt Euch doch mal, warum! Ich denke, wenn wir den Anarchismus mit den Maßstäben, die an marxistische Theorie gestellt werden, bewerten, kann er nur als das weniger ausgereifte, oberflächlichere Gegenstück erscheinen. Denn seine Funktion ist eine andere. Er ist keine Landkarte der Geschichte, wie der historische Materialismus; er ist ein Kompass, der uns immer daran erinnert, wogegen wir kämpfen und was unsere Aufgabe ist: »Alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch [und vielleicht nicht nur der Mensch] ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Karl Marx – Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie).
Für seine Analysen greift der Anarchismus deswegen auch gerne andere linke Analysewerkzeuge auf, etwa das Hegemonie-Konzept von Gramsci oder eben den historischen Materialismus von Marx und Engels. Auf der Kantine Sabot konnten wir hören, dass auch Bakunin und Johann Most das Kapital von Marx als wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Kapitalismus angesehen haben.
Leute, um das nicht untergehen zu lassen. Danke, dass Ihr all die Zeit und Mühe da reingesteckt habt, eine Kantine Sabot zum Anarchismus zu organisieren. Danke für all die tollen Vorträge, die guten Impulse, das leckere Essen.
Der Kampf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft geht weiter. Theorie-Arbeit und Kritik sind wichtige Teile davon. Danke für Eure Arbeit!
Solidarische Grüße!
Möchtegernarbeiter-Versagerstudent Eugen Thomas
Verwendete Literatur
(1) Voltairine de Cleyre (1901): Anarchismus. verfügbar auf: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/voltairine-de-clyre/32-voltairine-de-cleyre-anarchismus
(2) Erich Mühsam (1932): Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. zuerst erschienen in: Die Internationale. Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau. Herausgegeben von der Freien Arbeiter-Union Deutschlands, Anarcho- Syndikalisten. Berlin. Jg. 5. Heft 6 (Juni 1932), Heft 7 (Juli 1932) und Heft 8 (August 1932)
(3) Elaine Leeder (1979): Anarchafeminismus. verfügbar auf: https://www.anarchismus.at/anarcha-feminismus/anarchafeministisches/8113-elaine-leeder-anarcha-feminismus-1979