Vorwort: Zur Entstehung dieser Broschüre
Kantine-CrewDiese Publikation ist ein Resultat des Kantine-Festivals, das seit 2018 einmal im Jahr im Sommer auf dem Gelände des Subbotnik in Chemnitz stattfindet. Eine Woche lang setzen wir uns mit politischer Theorie und einer Kritik an der Gesellschaft auseinander. Es bietet die Möglichkeit, dass die Diskussionen nicht ihre Grenzen am Horizont eines üblichen Veranstaltungsabends finden, sondern sich über mehrere Tage hinweg fortsetzen können. Für uns als Organisationsteam ist es die gelebte Erfahrung kollektiver Selbstbildung und ein Angebot an die Gäste, mit uns und den Referent:innen in Austausch zu treten, Aspekte kritischer Theorie und politische Probleme zu diskutieren. Dabei sollen auch Geselligkeit, Tanz und Rausch nicht zu kurz kommen.
Die Kantine »Sabot« fand im August 2023 statt und widmete sich der Theorie und Geschichte des Anarchismus. Diese Ausgabe der Kantine bedeutete für uns als Vorbereitungs-Team auf verschiedenen Ebenen eine neue Erfahrung. Zum einen sind im Zuge der Vorbereitung neue Leute dazu gestoßen, sodass wir uns teilweise auch als Gruppe neu finden mussten. Zum anderen sind wir mit der Kantine »Sabot« dazu übergegangen, das Programm nicht mehr am Werk und der Biographie eine:r einzelnen Theoretiker:in auszurichten, sondern uns auf die Theorie und Geschichte einer Bewegung zu fokussieren. Für einige von uns hat das bedeutet, sich zum ersten mal mit dem Anarchismus zu beschäftigen, andere haben im Zuge der Vorbereitung altes Wissen wieder aufgefrischt, manche von uns teilen ein anarchistisches Selbstverständnis, während andere eher aus einer marxistischen oder kritisch-theoretischen Tradition kommen, jedoch Schnittmengen mit anarchistischen Ansätzen sehen und sich von der Diskussion zwischen den verschiedenen Richtungen einen Erkenntnisgewinn erhoen und erwarben. Neu war für uns auch der enorme Andrang: Noch nie haben so viele Menschen am Kantine-Festival teilgenommen.Das bedeutete auch Herausforderungen und phasenweise angespannte Nerven.
Das Feedback zur Kantine »Sabot«, das uns erreicht hat, war überwiegend positiv. Im Großen und Ganzen haben die Abläufe gut funktioniert und wir hatten das Gefühl, dass sowohl die Referent:innen als auch die Teilnehmer:innen eine gute Zeit hatten. Das Bewusstsein für manche Probleme – eine mehr schlecht als recht funktionierende Camping-Dusche, ein Rasengitterweg, der für Barrierefreiheit gedacht war, jedoch für Rollstühle dysfunktional war, fehlende Aschenbecher auf dem Gelände, ein überfüllter Zeltplatz, die Schwierigkeit, über 200 Leute selbst mit Hilfe des eingespielten Koch-Teams des Subbotnik zu verpflegen –haben wir bereits in die Organisation der Kantine »Zone«, die 2024 in der letzten Juli-Woche stattfinden wird, einbezogen und wir sind positiv gestimmt, dass wir Lösungen finden werden. Andere Rückmeldungen bemängelten zu viele frontale Formate, zu viel Input, eine zu akademische oder zu theoretische Vortragsweise, zu voraussetzungsvolle Inhalte. Diese Probleme sind Teil einer Diskussion, die wir jedes Jahr von Neuem führen und die aus einer objektiven Schwierigkeit resultiert: Wir haben den Anspruch, ein Programm zu organisieren, das einen guten Bogen schlägt und genug inhaltliche Aspekte abdeckt, um »rund« zu sein. Es ist immer wieder ein schwieriger, zum Teil auch schmerzhafter Prozess, Inhalte nicht mit aufzunehmen, um das Programm nicht zu überladen – eine gewisse Fülle und Dichte wird die Kantine wohl beibehalten. Manche Gäste finden genau das gut, wünschen sich eher mehr Pausen zwischen den Programmpunkten. Was die zum Teil voraussetzungsreichen Inhalte betrifft, sind wir im Team selbst hin- und hergerissen: Zum einen wollen wir Zugänge schaffen, Einführungen ermöglichen, nah an Bewegungen und praktischen Fragen diskutieren. Zum anderen wollen wir aber auch vertiefende Diskussionen führen und einen Raum für komplexe theoretische Inhalte schaffen, den es auch viel zu selten gibt. Dem Programm der Kantine wird man wohl auch künftig ansehen, dass es ein Kompromiss zwischen diesen beiden Ansprüchen ist. Klar ist, dass wir uns nicht an akademischen Diskussionen orientieren – das Kantine-Festival soll ein Diskussionszusammenhang jenseits der Universität sein.
Bei der Programm-Vorbereitung zur Kantine »Sabot«, haben wir erwartet, dass es in der Woche der Kantine zu hitzigen Diskussionen und Kontroversen kommen wird, die sich vor allem am Gegensatz von Kommunismus bzw. »Marxismus« (1) und Anarchismus entzünden könnten. In unserer inhaltlichen Ankündigung – die wir nachfolgend als leicht bearbeiteten Beitrag abdrucken – haben wir deshalb betont, dass wir an einer problem- und sachbezogenen Diskussion interessiert sind und dass die historische Gegnerschaft zwischen Marx und Bakunin für uns nicht maßgeblich ist. Wir waren dann ein wenig überrascht, wie harmonisch die Diskussionen im Großen und Ganzen doch verlaufen sind – der große Clash blieb aus. Dennoch gab es sowohl auf dem Festival als auch im Nachgang Stimmen, die unsere inhaltliche Ausrichtung und die Argumente einzelner Referent:innen kritisiert haben – vor allem von Genoss:innen, die sich eher mit »dem Anarchismus« identifizieren. Die Bolschewiki seien in der Darstellungder Oktoberrevolution viel zu gut weggekommen, bestimmte theoretische Aspekte des Anarchismus seien nicht (oder nicht ausreichend) dargestellt worden, es gab den Eindruck einer belehrenden Haltung gegenüber dem Anarchismus, und auch die Kritik, dass die Vortragsweise mit ihrer festen Rollenverteilung selbst autoritär gewesen ist. In dieser Broschüre, die einige Beiträge der Kantine »Sabot« in Textform dokumentiert, können wir nicht umfassend auf diese Vorwürfe eingehen – auch weil es Teil eines Diskussionsprozesses ist, den wir im Team nicht abschließend führen können. Wir wollen stattdessen skizzenartig noch einmal unser Anliegen darlegen.
Als wir uns dazu entschieden haben, die Kantine 2023 dem Anarchismus zu widmen, war dies – wie jedes Jahr –eine Entscheidung zwischen mehreren Themen, die uns nicht unbedingt leicht fiel. Zur Diskussion stand auch die Auseinandersetzung mit den Theorien und Ansätzen von Alexandra Kollontai oder Silvia Federici. Wir haben uns für den Anarchismus entschieden, weil wir uns von diesem Thema die Möglichkeit einer gegenwartsbezogenen Diskussion versprachen, die auch Fragen von Strategie, Organisierung, sozialen Kämpfen und Bewegung berührt und weil der Anarchismus ein grundlegender Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse ist. Dieses Thema war in der Vorbereitung nicht zum ersten Mal eine von mehreren Optionen. Außerdem tauchte der Anarchismus auch in vorangegangenen Kantinen immer wieder auf. Zwar stehen Marx, Luxemburg, Benjamin und Gramsci, die titelgebend für bisherige Kantinen waren, für unser Interesse an marxistischer Theorie – mit Walter Benjamin haben wir uns jedoch mit einem Denker beschäftigt, für den Bakunin ein wichtiger Bezugspunkt war und der anarchistischen Ansätzen ein großes Interesse entgegen brachte. Und bei der Kantine »de Pizan«, die sich mit feministischen Utopien beschäftigt hat, wurde deutlich, dass der Marxismus nicht der ausschließliche Rahmen ist, den wir uns stecken wollen. Dort hat zudem auch ein Vortrag über anarch@feministische Bildungsansätze stattgefunden – so haben verschiedene Spuren und Linien zur Kantine »Sabot« geführt.
Bei unserer Auseinandersetzung mit dem Anarchismus haben sich uns manche Entgegensetzungen bei näherer Betrachtung als nur scheinbare Widersprüche dargestellt, die eher aus einer historisch überlieferten Frontstellung resultieren, als aus einem sachlich begründeten Gegensatz. Wir wollten aber auch nicht so tun, als ob es keine Widersprüche und Entgegensetzungen gäbe, und alles in Harmonie aufzulösen wäre. Dass es eine Spannung zwischen anarchistischen und marxistischen Ansätzen gibt, ist klar. Es war auch unser Ziel, herauszunden, worin der Widerspruch zwischen beiden Ansätzen besteht und einen Streit produktiv werden zu lassen. In einigen Texten dieses Heftes wird diese Diskussion fortgesetzt.
In der Geschichte hat es sich gezeigt, dass anarchistische Gruppen oftmals das Richtige getan haben und sie sich – anders als der Marxismus – kaum vorwerfen lassen können, einen revolutionären Impuls in eine neue Herrschaftsform überführt zu haben. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Theorie und Praxis nicht immer in eins fallen – siehe dazu auch den Beitrag von Detlef Hartmann in diesem Heft – und dass es nicht ausreicht, einfach nur die »richtige« oder »bessere« Theorie zu haben, auch wenn wir begriffliche Arbeit wichtig finden. Gerade der Anarchismus hat hier immer wieder wichtige Impulse für eine lebendige emanzipatorische Praxis gegeben. Welche Theorie »richtig« oder »schlüssig« ist, was richtigerweise zu tun ist, das wäre konkret zu diskutieren – mit Hilfe von theoretischen Erkenntnissen und Argumenten, bezogen auf konkrete historische Situationen und praktische Gemengelagen. Theorie und Praxis müssen sich gegenseitig durchdringen und spiegeln sich ineinander – siehe dazu die kleine Komposition der Redaktion Tsveyfl in diesem Heft.
Und genau darum ging es uns bei der Kantine »Sabot«. Das heißt: Voraussetzung ist die Erkenntnis, dass eine grundlegende Veränderung des Bestehenden notwendig ist, dass Herrschaft und Ausbeutung überwunden werden müssen, dass wir uns Ideologien und Diskriminierung entgegenstellen müssen. Wenn wir dieses Anliegen teilen, stoßen wir auf Widersprüche und Schwierigkeiten, die wir diskutieren und über die wir auch streiten müssen. Dabei kommt es aber nicht darauf an, eine Ehrenrettung von Marxismus oder Anarchismus zu betreiben und die jeweiligen Labels als Identifikationsmodell zu verteidigen. Es geht uns also weder darum, eine verkehrte Harmonisierung realer Widersprüche zu betreiben, noch darum, einen Schaukampf der politischen Identitäten zu veranstalten.
Wer die Beiträge dieses Heftes liest, merkt schnell, dass die einzelnen Autor:innen unterschiedliche Positionen vertreten. Manche sind dem Anarchismus näher, manche kommunistisch-marxistischen Ansätzen, manche formulieren eine Kritik des einen oder anderen, für manche spielt dies vielleicht gar keine Rolle. Dies spiegelt auch wider, dass wir weder in der Redaktion noch im Kantine-Orga-Team eine einheitliche Position vertreten. Aber wir erachten alle Beiträge als diskutierenswert. Wir wünschen euch eine erkenntnisreiche Lektüre und hoffen auf die Fortführung einer leidenschaftlichen Diskussion.
Das Kantine-Festival ist 2018 anlässlich des Marx-Jubiläums aus einem Freundeskreis heraus entstanden. Damals waren gerade mal 20 Leute bei der Eröffnungsveranstaltung. Seitdem haben sich manche Sachen entwickelt und verändert. Wir sind gespannt, welche Kontroversen die Kantine 2024 begleiten werden, bei der wir über die Analyse und Kritik der DDR diskutieren wollen. Die Kantine »Zone« findet vom 22. bis 27. Juli auf dem Gelände des Subbotnik statt.
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(1) »Marxismus« ist hier in Anführungszeichen geschrieben, weil dieser Begriff schon die Überführung marxistischen Denkens in eine auf verkehrte Weise vereinheitlichte Lehre, hin zu einem »Ismus«, anzeigt, die Marx selbst ablehnte. Nach Engels soll Marx einmal gesagt haben: »Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin.»