Kantine »Festival«

Kolonien, Küche, Kinder – Feministische Anschlüsse an Rosa Luxemburg [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]


Carolin Blauth

Das Verhältnis von Feminismus und Marxismus ist oft genug als eines von Neben- und Hauptwiderspruch diskutiert worden. Der materialistische Feminismus versucht, diese Frontstellung zu überwinden, indem er den folgenden Fragen nachgeht: In welchem Zusammenhang steht die kapitalistische Produktionsweise mit der Unterdrückung von Frauen? Welche Rolle spielt reproduktive Arbeit – also Kochen, Kümmern, Kinder- kriegen – im Kapitalismus bzw. in der marxistischen Gesellschaftstheorie? Welche Perspektiven ergeben sich daraus für alternative Gesellschaftsentwürfe und Lebensweisen?
Carolin Blauth hat Sozialwissenschaften in Chemnitz, Toulouse und Berlin studiert, ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Kritischer und feministischer Theorie sowie deren praktischer Umsetzung. Im Rahmen eines Workshops auf der Kantine »Luxemburg« am 08. August 2019 hat sie mit den Teilnehmenden diskutiert, wie feministische Theoretikerinnen an den Marxismus anschließen, welche blinden Flecken sie dabei erkennen und wie sie diesen ergänzen. Ihr Text gibt einen Überblick über diese Bezüge.

Was hat Rosa Luxemburg mit Feminismus zu tun? Auf den ersten Blick nicht sehr viel, denn Rosa Luxemburg hatte kein großes Interesse an geschlechts- oder frauenspezifischen Fragestellungen. Sie äußerte sogar Unverständnis darüber, dass sich ihre Genossin und Freundin Clara Zetkin mit der sogenannten Frauenfrage beschäftige. In einem Brief an Leo Jogiches schrieb sie: »Clara ist gut, wie immer, aber sie läßt sich irgendwie ablenken, sie bleibt in Frauenangelegenheiten stecken und befaßt sich nicht mit allgemeinen Fragen« (Evans 1979, 320). Auch wenn Rosa Luxemburg die Geschlechterungerechtigkeit also nicht als eine allgemeine Frage der gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse verstand, so kann sie doch als eine Vordenkerin des materialistischen Feminismus angesehen werden: Über ein halbes Jahrhundert später inspirierte ihre Imperialismustheorie Feministinnen zu einer materialistischen Theorie über die Funktion der von Frauen geleisteten Arbeit im kapitalistischen Akkumulationsprozess und ihre spezifische Ausbeutung.

Imperialismus und fortwährende ursprüngliche Akkumulation

In ihrem ökonomischen Hauptwerk Akkumulation des Kapitals untersucht Luxemburg den Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaft und Kolonialismus, wobei sie die kolonialen Eroberungs- und Enteignungsprozesse als immanenten Bestandteil der Funktionsweise des Kapitalismus begreift. Sie schreibt, »daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die gleichzeitige Existenz nicht-kapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist« (Luxemburg 1975, 313). Die von Marx beschriebene ursprüngliche Akkumulation, also die gewaltvolle Aneignung von Land und Produktionsmitteln zur primären Kapitalakkumulation in der Durchsetzungsphase des Kapitalismus, sei daher kein abgeschlossener Prozess, sondern setze sich insbesondere in den (ehemaligen) Kolonien fort: »Nur durch ständige Expansion auf neue Produktionsdomänen und neue Länder ist die Existenz des Kapitalismus seit jeher möglich gewesen« (ebd., 518). Luxemburg widerspricht also Marx‘ Auffassung, dass der etablierte Kapitalismus nur auf Mehrwertabschöpfung im Lohnarbeitsprozess basiere, sondern argumentiert, dass dieser stets auf eine Fortführung der gewaltvollen ursprünglichen Akkumulation in nicht-kapitalistischen Gesellschaften in Form von Eroberung, Enteignung und Versklavung angewiesen ist.

Hausarbeit als nicht-kapitalistisches Milieu

Im Anschluss an Luxemburgs Überlegungen entwickeln die Bielefelder Soziologinnen Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof die Subsistenzperspektive, in der sie Luxemburgs Argumentation auf die »innere Kolonie« der Hausfrauenarbeit ausweiten (von Werlhof et al. 1988). Die Autorinnen betonen darin die strukturelle Ähnlichkeit zwischen unbezahlt geleisteter Hausarbeit und der Subsistenzarbeit in den ehemaligen Kolonien. Beides seien externalisierte Sphären des kapitalistischen Systems, die aus dem Lohnarbeitsverhältnis ausgeschlossen fortwährend ausgebeutet werden und gleichzeitig dessen Voraussetzung darstellen. Wie andere feministische Theoretiker_innen weisen Mies, Bennholdt-Thomsen und von Werlhof auf die Unzulänglichkeit des marxistischen Arbeitsbegriffs hin, der die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit nicht berücksichtigt (vgl. Della Costa/James 1973; Federici 2015). Sowohl konzeptionell als auch gesellschaftlich bleibt die von Hausfrauen unentlohnt geleistete Arbeit, also das Zubereiten von Mahlzeiten, die Reinigung der Wohnung, das Austragen, Gebären und Aufziehen von Kindern sowie die emotionale und sexuelle Befriedigung des Partners unsichtbar und wird als individuelle liebevolle Zuneigung und nicht als gesellschaftlich notwenige Arbeit angesehen (vgl. Bock/Duden 1977).

Der Subsistenzansatz betont zudem die spezifisch andere Qualität der Reproduktionsarbeit bzw. Subsistenzproduktion im Vergleich zur als produktiv geltenden Arbeit. So ist Reproduktions- und Subsistenzarbeit nicht auf die Produktion von Gütern, sondern auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet und dient nicht der Tausch-, sondern der Gebrauchswertproduktion. Mies argumentiert daher, dass sich die Berücksichtigung der Reproduktions- und Subsistenzarbeit nicht nur als erweitertes Ausbeutungsverhältnis begreifen lasse, sondern eine andere Arbeitsform darstelle (vgl. Mies 2015). Der im Subsistenzansatz geprägte Arbeitsbegriff stellt also eher ein Gegenstück zum marxistischen Arbeitsbegriff dar, als eine Erweiterung desselben (vgl. Meißner 2019). Daraus entwickeln die Bielefelder Soziologinnen die These, dass neben dem Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zusätzlich ein Widerspruch zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre bestehe (vgl. Mies 2009).

Divergierende Produktivitätssteigerungsraten

Dieser Widerspruch zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre verstärkt sich in den heutigen Verhältnissen der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit in den Industrienationen zunehmend (vgl. Soiland 2018). Dies liegt daran, dass in der Reproduktionssphäre geringere Produktivitätssteigerungsraten generiert werden können als in der Produktionssphäre (vgl. Baumol 2012): Während bei der Warenproduktion Mehrwertabschöpfung durch Rationalisierung der Arbeitsabläufe und technische Innovationen möglich ist, lässt sich die mehrheitlich personenorientierte Reproduktionsarbeit nicht im gleichen Maße rationalisieren und effizienter gestalten (vgl. Fraser 2016). Die Arbeit, die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist, wird mit zunehmender technischer Entwicklung nicht weniger und lässt sich auch nicht ohne weiteres effizienter gestalten – zumindest nicht ohne Qualitätsverluste. Insbesondere personenbezogene Sorgearbeit folgt einer anderen Logik als die Warenproduktion, da die Beziehung der Beteiligten stets elementarer, nicht kommodifizierbarer Teil des Arbeitsprozesses ist. Somit stehen für die Profitmaximierung im Bereich reproduktiver bzw. Care-Arbeitsbereiche lediglich die Mittel der Erhöhung des Arbeitspensums und die Senkung der Löhne zur Verfügung. Dies ist laut William J. Baumol der Grund dafür, dass in den letzten Jahrzehnten die Kosten für Endprodukte tendenziell sinken, während sie für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen eher steigen.

Durchkapitalisierung der Reproduktionssphäre

Heute wird die Reproduktionsarbeit zunehmend nach kapitalistischer Profitlogik organisiert, was laut Tove Soiland mit der Entwicklung zum Postfordistischen Modell der Arbeitsorganisation und neoliberalen Restrukturierungsprozessen zusammenhängt (vgl. Soiland 2018; Fraser 2009). Während der Phase des Fordistischen Modells der Arbeitsorganisation mit dem korrespondierenden Ideal des männlichen Familienernährers, wurde Reproduktionsarbeit überwiegend privat und unentlohnt verrichtet, wodurch die wertschöpfungsschwachen Reproduktionsarbeiten aus dem Bereich der Lohnarbeit ausgelagert waren. Ein Großteil der Reproduktions- und Sorgearbeit war somit nicht an sich kapitalistisch organisiert, aber trotzdem Teil des spezifisch industriekapitalistischen Arbeitsmodells mit seiner geschlechtsspezifischen Hierarchie: Das mit dem Familienernährer korrespondierende Reproduktionsarbeitsideal, die Hausfrau, war faktisch besitzlos und unfrei.

Mit der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen entsteht ein Markt entlohnter Sorgearbeit, wodurch der Anteil an Lohnarbeitsverhältnissen mit geringen Profitsteigerungsraten am gesamtgesellschaftlichen Lohnarbeitsvolumen wächst. Im Rahmen neoliberaler Privatisierungsprozesse werden Care-Dienstleistungen zunehmend einer Profitlogik unterstellt, wodurch ein höherer Kostensenkungsdruck entsteht. Da die Rationalisierungspotentiale wie oben dargelegt gering sind, erfolgen Einsparungen über die Senkung der Personalkosten und die Erhöhung des Arbeitspensums. Diese Entwicklung lässt sich an den Privatisierungstendenzen im Gesundheitssektor deutlich erkennen, beispielsweise an der Auslagerung von Pflegedienstleistungen in Krankenhäusern an Subunternehmen mit nicht-tarifgebundenem Personal oder an der Einführung von Fallpauschalen.

Es etabliert sich auf diese Weise ein Arbeitssektor, in dem die Gehälter so niedrig sind, dass die private Reproduktion dadurch nicht abgesichert werden kann. Gleichzeitig bleibt durch den Anstieg der gesamtgesellschaftlichen Lohnarbeitszeit weniger Zeit, um privaten Sorgeverpflichtungen und -bedürfnissen angemessen nachzukommen. Somit führt die Integration der Reproduktionsarbeit in die kapitalistische Wirtschaft zu einem gleichzeitigen Abzug von zeitlichen und monetären Ressourcen, was als »neue Landnahme« (vgl. Dörre 2009) im voranschreitenden Prozess der Durchkapitalisierung des Lebens angesehen werden kann. Die Reproduktionssphäre bleibt als innere Kolonie des kapitalistischen Systems bestehen, die mittlerweile zwar teilweise in Lohnarbeit überführt wurde, jedoch nur funktionieren kann, indem sie weiterhin schlecht oder nicht bezahlt und unsichtbar stattfindet: in Form von babysittenden Angehörigen, illegalisierten Reinigungskräften ohne arbeitsrechtliche Absicherung, migrantischen Live-In-Pflegekräften und unausgeschlafenen Alleinerziehenden.

Ziele des materialistischen Feminismus

Wie kann dieser Entwicklung entgegengewirkt werden? Feministische Materialist_innen sehen Marx‘ Glaube an die positiven Auswirkungen des technischen Fortschritts skeptisch, da ein Großteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit Reproduktions- und insbesondere Sorgearbeit ist, deren Arbeitsvolumen durch technische Entwicklungen nicht erheblich reduziert werden kann. Zudem ist und bleibt Reproduktionsarbeit immanenter Bestandteil des menschlichen Lebens. Soiland stellt daher die Frage, inwiefern die »befreite Gesellschaft« als zeitgemäße feministischmaterialistische Utopie gelten kann: »Wäre die Zurückforderung der Sorgearbeit [...] nicht ein adäquateres emanzipatorisches Postulat, jedenfalls für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts?« (Soiland 2018, 4). Damit hebt sie hervor, dass das Ziel des materialistischen Feminismus nicht in der Befreiung von Reproduktionsarbeit liegen kann, sondern in der (Wieder-)Aneignung der Bedingungen, unter denen reproduktive Tätigkeiten verrichtet werden. Dies bedeutet einerseits, höhere zeitliche Ressourcen für Reproduktionsarbeit einzufordern und andererseits für Selbstverwaltung und Mitgestaltung offene, kollektive Strukturen zu etablieren, in denen Reproduktionsarbeit geschlechtergerecht verteilt, nicht profiorientiert und an Bedürfnissen ausgerichtet gestaltet werden kann.

Literatur

Baumol, William J. (2012): The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t. New Haven: Yale University Press.

Bock, Gisela, & Duden, Barbara (1977): Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In G. B. Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976. Courage, Berlin, S.118–199.

Dalla Costa, Mariarossa, & James, Selma (1973): Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Merve Verlag, Berlins.

Dörre, Klaus (2009): Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus. In K. Dörre, S. Lessenich & H. Rosa (Hg.), Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. S. 21–86. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Evans, Richard J. (1979): Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im Kaiserreich. Berlin: Dietz.

Federici, Silvia (2015): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. edition assemblage, Berlin.

Fraser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik, 8, 43–57.

Fraser, Nancy (2016): Contradictions of Capital and Care. New Left Review, 100.

Luxemburg, Rosa (1912 [1975]): Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Dietz, Berlin.

Meißner, Hanna (2019): Marxismus und Kritische Theorie: Gesellschaft als [vergeschlechtlicher] Vermittlungszusammenhang. In B. Kortendiek, B. Riegraf, & K. Sabisch (Hg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. S.244–252. Springer, Wiesbaden.

Mies, Maria (2009): Hausfrauisierung, Globalisiserung, Subsistenzproduktion. In M. v. d. Linden & K. H. Roth (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Assoziation AS, Hamburg, 257–289.

Mies, Maria (2015 [1990]): Patriarchat und Kapital. bge-verlag, München.

Soiland, Tove (2018): Der Sockel des Eisbergs. Umrisse eines feministischen Marxismus für das 21. Jahrhundert. Soziopolis. www.soziopolis.de/erinnern/jubilaeen/artikel/der-sockel-des-eisbergs. Zuletzt aufgerufen: 1.7.2020.

Werlhof, Claudia von; Mies, Maria & Bennholdt-Thomsen, Veronika (1988 [1983]).: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Reinbek bei Rowohlt, Hamburg.