Kantine »Festival«

Die versandete Revolution [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]


Dania Alasti

Frauen protestierten vor hundert Jahren in Massen gegen den Ersten Weltkrieg und das deutsche Kaiserreich. Ihre Streiks, Demonstrationen und Ausschreitungen gehörten zur ersten Welle der Novemberrevolution. Doch während der Formung und Kämpfe um die Richtung der Revolution tauchten Frauen als Massenerscheinung nicht mehr auf; sie wurden von Zeitgenossen verdrängt und von der Geschichtsschreibung vergessen. In Erinnerung geblieben ist die unverwechselbare Stimme Rosa Luxemburgs, die den Ersten Weltkrieg nicht nur vehement abgelehnt hatte, sondern ihn als Eskalation der Krise des Kapitals auch vorausgesehen hatte.
Dania Alasti, Doktorandin an der FU Berlin zum Thema »Gewalt und Frieden«, las auf der Kantine »Luxemburg« am 07. August 2019 aus ihrem Buch Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens (2018 bei UNRAST erschienen). In ihrem Text diskutiert sie das Verhältnis zwischen dem Wirken Luxemburgs und der Rolle von Frauen in der Novemberrevolution sowie Kontinuitäten und Brüche bis heute.

Zur Kantine Luxemburg wurde ich nach der ersten Vorstellung meines Buches »Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens« eingeladen, obwohl ich Rosa Luxemburg während der Veranstaltung mit keinem Wort erwähnt hatte. Dementsprechend war auch die Anfrage ambivalent: »Großartige Lesung (1), aber hast du auch über Rosa Luxemburg geschrieben?« Tatsächlich kommt Rosa Luxemburg in meinem Buch und diesem Text vor, aber vielleicht auf eine nicht vorherzusehende Weise. Dass ich in den 45 Minuten meines Vortrags eine der herausragendsten Frauen dieses geschichtlichen Ereignisses nicht erwähnt hatte, lag an dem Schwerpunkt meines Buches, der nicht bei den bekannten, revolutionären Frauen, sondern bei einer Welle von Protesten unbekannter Frauen während des Ersten Weltkrieges lag. Sie bildeten einen »Druck von der Straße«, der sich zwischen 1915 und 1918 in Krawallen, Demonstrationen und Streiks äußerte. Am größten war das Protestpotenzial bei arbeitenden Frauen in den Städten, die häufig ohne Schulbildung und zumeist politisch unorganisiert waren. Ihre Proteste waren Teil des Ensembles der Novemberrevolution, insofern sie Kritik an der bestehenden Ordnung zum Ausdruck brachten, diese Ordnung ins Schwanken brachten und dabei solidarische Verhältnisse einübten. Gleichzeitig tauchten bei den Kämpfen um die politische und ökonomische Richtung der Revolution Frauen in dieser Masse nicht mehr auf.

Rosa Luxemburgs politisches Agieren war in vielen Punkten ungleichzeitig zu diesem Phänomen. Die meiste Zeit während des Ersten Weltkrieges war sie im Gefängnis (2). Zu den Problemen, gegen die sie ankämpfte, gehörte nicht nur der Krieg, sondern auch die Wende in der sozialdemokratischen Partei. Und im Gegensatz zu den Frauen der Protestwelle verschwand sie nicht einfach. Sie gehörte zu den Ersten, die in der Folge der Novemberrevolution für ihre antikapitalistische Haltung ermordet wurden.

Es sind vor allen Dingen Rosa Luxemburgs scharfsichtige Beobachtungen, die helfen, die Proteste während des Ersten Weltkrieges zu verstehen, besonders in der späteren feministischen Rezeption der »neuen Landnahme«, die ich weiter unten darlegen werde. (3) Hilfreich sind aber auch die Voraussichten auf den Ersten Weltkrieg, die Luxemburg in ihrer beeindruckenden Verteidigungsrede vor der Frankfurter Strafkammer am 20.2.1914, sechs Monate vor Ausbruch des Krieges, darlegte. Ihr wurde der Aufruf zum Ungehorsam gegenüber den Gesetzen und den Anordnungen der Obrigkeit vorgeworfen. Sie sollte Arbeiter zur Verweigerung des Kriegsdienstes aufgefordert haben. Der Staatsanwalt beschrieb dies als ein »Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates« (Laschitza 2010). Sie dekonstruierte diesen Vorwurf als autoritär.

»Ich sage: Der Schluß, daß das einzige wirksame Mittel, um Kriege zu verhindern, darin bestehe, sich direkt an die Soldaten zu wenden und sie aufzufordern, nicht zu schießen – dieser Schluß ist nur die andere Seite jener Auffassung, wonach [...] das Fundament der Staatsmacht und des Militarismus der Kadavergehorsam des Soldaten ist« (Luxemburg 1951, 496, Hervorhebung im Original).

Im Gegensatz dazu war ihre Auffassung demokratisch. Sie hatte die Soldaten nicht aufgefordert, die Waffen bei Kriegsbeginn niederzulegen. Sie hatte die Tatsache dargelegt, dass die Entscheidung, den Krieg zu führen, von der Bevölkerung und nicht von den Befehlenden abhängt.

»Nach der Auffassung des Staatsanwalts ist die Armee die kriegführende Partei, nach unserer Auffassung ist es das gesamte Volk. Dieses hat zu entscheiden, ob Kriege zustande kommen oder nicht: [B]ei der Masse der arbeitenden Männer und Frauen, alten und jungen, liegt die Entscheidung über das Sein oder Nichtsein des heutigen Militarismus – nicht bei dem kleinen Teilchen dieses Volkes, der im sogenannten Rock des Königs steckt« (ebd., 497).

Damit nahm sie die Auflösung des gesellschaftlichen Konsenses am Ende des Ersten Weltkrieges vorweg. Nach vier Jahren Krieg verweigerten Soldaten Befehle, meuterten, desertierten in großem Ausmaß, was die Novemberrevolution ins Rollen brachte. Eine sukzessive Auflösung des gesellschaftlichen Konsenses lässt sich auch in den Protesten zwischen 1915 bis 1918 erkennen. Gehorsam wurde nämlich nicht nur von Soldaten verlangt, sondern von allen Teilen der Gesellschaft. Das umfasste auch die gesellschaftliche Reproduktion unter den Bedingungen des Krieges. Dass diese sehr schwer werden würde, weil für die Versorgung der Bevölkerung kaum vorausgeplant wurde, erkannte Luxemburg ebenfalls vor Ausbruch des Krieges: »Man bezeichnet den unbedingten sklavischen Gehorsam als den Lebensnerv des Staates. Dagegen ist man unbesorgt um die Nahrungsmittelversorgung des darbenden Volkes« (Luxemburg 1972, 443). Die schlechte Nahrungsmittelversorgung war ein wesentlicher Auslöser für Proteste. Es war nicht der einzige, aber bekannteste.

So waren es vor allen Dingen sogenannte Hungerkrawalle, die als Protest von Frauen in Erinnerung geblieben sind. Dass besonders viele Frauen an Hungerkrawallen beteiligt waren, ist auf ihre Rolle als ›im Haus‹ Arbeitende, als Hausfrauen und Hausangestellte, zurückzuführen. Beim Warten vor Lebensmittelgeschäften entstanden Formen von Öffentlichkeit, die sich häufig weiterentwickelten zu Ansammlungen vor Rathäusern, um für eine bessere Versorgung zu demonstrieren. In vielen dieser Proteste drückte sich mehr als Hunger aus. So gab es an vielen Orten Proteste wegen einer ungerechten Verteilung der Lebensmittel. Im September 1916 verlangte die dritte Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff eine deutliche Steigerung der Waffenproduktion und der Einziehung von Soldaten, da »dem feindlichen Menschenmaterial gegenüber [die] Menschenvorräte beschränkt« seien (zitiert nach Daniel 1989, 281). In der Folge wurden die begrenzten Nahrungsmittel primär an sogenannte Fabrikküchen geliefert, um die Produktivität zu steigern. Den Menschen mussten diese Maßnahmen vor Augen geführt haben, dass der einzige Wert, der in ihnen gesehen wurde, ihre Arbeitskraft war.

Wut lösten aber auch andere Aspekte der Kriegsgesellschaft aus. Ein herausgegriffenes Beispiel war die versuchte Befreiung eines Kriegsinvaliden in Ingolstadt im Mai 1918 aus der Polizeiwache im Rathaus (Ay 1968, 186f.). Misshandlungen bei der Verhaftung hatten zu einem Aufruhr geführt, bei dem das Rathaus gestürmt und teilweise in Brand gesteckt wurde (ebd.,187). Unter den 97 Verhafteten waren 35 Frauen verschiedenen Alters, vorwiegend Fabrikarbeiterinnen (ebd.). Zusammenschlüsse solcher Art waren nicht selten. Bei vielen Krawallen kam es zu Solidarisierungen zwischen Frauen, Jugendlichen, oftmals schlecht behandelten Invaliden und kriegsunwilligen Soldaten.

Tumulte gab es außerdem bei der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Als in Ingolstadt im Winter 1917/18 die Sonntagsarbeit eingeführt wurde, kam es zu stundenlangen Ausschreitungen von Arbeiterinnen, die die Arbeitszeiten mit ihren Versorgungsarbeiten nicht vereinbaren konnten (ebd., 185). Für die Verkürzung der Arbeitszeit gab es ebenso zahlreiche Streiks. Fast 2.100 Wäscherinnen in den oberschlesischen Erzgruben streikten vom 1. Juli bis zum 7. September 1918 gegen den dort elfstündigen Arbeitstag (Kuhlbrodt 1981). Frauen streikten auch für eine Erhöhung der Löhne, die, wie kaum anders zu erwarten, niedriger waren als die der Männer. Zusätzlich zu den allgemein schlechten Arbeitsbedingungen, die durch Ausnahmen bei den Arbeitsschutzbestimmungen einem Rückfall ins 19. Jahrhundert gleichkamen (Daniel 1989, 73), traten die geschlechtsspezifischen Benachteiligungen umso brutaler hervor.

Auch bei explizit politischen Streiks gab es eine rege Beteiligung von Frauen, besonders in der Streikwelle gegen den Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Januar 1918. Nach einem Bericht von Cläre Derfert-Casper sollen in Berlin hauptsächlich Frauen gestreikt haben (ebd., Kuhlbrodt 1981, 76). Derfert-Casper gehörte als Vertreterin der Metallarbeiterinnen dem elfköpfigen Aktionsausschuss des Arbeiterrates Groß-Berlin an. In Hannover sollen mehr Frauen als Männer in der Streikleitung gewesen sein (Rosenbusch 1998, 415). Für andere Orte gibt es ähnliche Berichte. (4) Die Streikwelle vom Januar 1918 hatte die besondere Bedeutung, dass sie in Solidarität mit den Friedensbestrebungen der russischen Revolutionär_innen geführt wurde. In Deutschland und Österreich solidarisierten sich Arbeitende in Generalstreiks mit den Forderungen nach Frieden aus Russland. So sagte die Arbeiterin Anna Niedermeier nach ihrer Verhaftung wegen der Beteiligung am Januarstreik 1918 in München bei dem Polizeiverhör: »Ich habe mich dem Streik angeschlossen, weil davon gesprochen worden ist, durch den Streik solle der Regierung gezeigt werden, dass die Arbeiter zusammenhalten, ferner solle die Regierung veranlasst werden, Frieden zu schließen« (ebd.).

Darüber hinaus sagte sie, dass die Frauen in ihrem Betrieb als Erste den Streik beginnen wollten, »denn die Männer würden zum Militär eingezogen, wenn sie voran gingen« (Kuhlbrodt 1981, 161). Dieses solidarische Verhalten war exemplarisch für das Streik- und Protestverhalten der Frauen.

Das Streik- und Protestverhalten lässt sich als Teil der Emanzipation der Arbeiterinnen während des Ersten Weltkrieges verstehen. Nach der Historikerin Ute Daniel ist es eine weit verbreitete, aber falsche Annahme, diese Emanzipation darauf zurückzuführen, dass Frauen vermehrt gearbeitet hätten (Daniel 1989, 259). Es gab einen Anstieg der Frauenarbeit in den Betrieben der Kriegsindustrie, weil Frauen aus anderen Arbeitsplätzen, wie Hausanstellung, Landarbeit, Textilindustrie etc., dorthin wechselten. Dass gerade die »im Haus« stattfindenden Lohnarbeitsverhältnisse als Arbeitsverhältnisse damals wie später übersehen wurden, war ein Teil des Problems der Bewegungen der Novemberrevolution, worauf ich später noch zurückkommen werde. Formen der Emanzipation gab es nicht per se dadurch, dass Frauen arbeiteten, sondern dadurch, dass sie die Verfügung über das Familieneinkommen hatten. Die Abwesenheit der Männer in den Familien brachte die Form der patriarchalen Kleinfamilie ins Wanken.

Nach dem Umsturz im November 1918 konsolidierten sich mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg patriarchale Strukturen erneut. Beispielsweise war Cläre Derfert-Casper nicht mehr Mitglied des Aktionsausschusses, sondern Bürogehilfin des Vollzugsrates Berlin. (5) Den meisten Frauen blieb der Zugang zu den Räten, die sich als Organe der Revolution in vielen Städten und Gegenden gebildet hatten, versperrt, da nach der Frankfurter Revolutionärin Toni Sender das Wahlrecht meist nur Personen erhielten, »die produktive, gesellschaftlich nützliche Arbeit leisteten« (Sender 1919, 23). Diese Beschränkung der Wahlberechtigung sollte vermutlich verhindern, dass Antagonisten der Novemberrevolution die Räte durch Beteiligung von innen heraus abschafften. So waren durch diese Bestimmung Kapitalisten, Verwaltungsbeamte, Polizisten, etc. ausgeschlossen. Aber gleichzeitig wurden Frauen nach Ende des Kriegs von den »produktiven« Industriearbeitsplätzen wieder in ihre vorherigen Beschäftigungsverhältnisse, die als »unproduktiv« galten, abgedrängt. Es gab sogar zahlreiche von Männern organisierte Demonstrationen, Eingaben und Streiks zu diesem Zweck (Kuhlbrodt 1981, 361, Fußnote 347).

Dabei gab es durchaus Versuche, Frauen Strukturen der politischen Organisation zu ermöglichen. In Jena gab es einen Hausfrauenrat ab November 1918, der mindestens zwei Jahre lang aktiv war. Leider blieb dies eine Ausnahme. In der Rede, in der Toni Sender die Wahlrechtsbeschränkungen in den Räten als Ausschlusskriterium für Frauen identifizierte, forderte sie, die Tätigkeiten der Versorgung als produktive Arbeit anzuerkennen (Sender 1919, 23). Mit dieser Anerkennung wären nicht nur die Tätigkeiten im familiären Haushalt gemeint gewesen, sondern auch die nicht proletarischen häuslichen Arbeitsformen, wie Hausanstellungen, die geflissentlich ignoriert wurden. Ihr Vorschlag fand keine breite Umsetzung, dafür einen Nachhall bis in die heutige Zeit. Damals wie heute hätte dies gesellschaftliche Konflikte sichtbar gemacht, die auf der unsichtbaren Ausbeutung von Frauen als Versorgerinnen beruhen.

Die von Toni Sender formulierte feministische Forderung steckt seit mindestens hundert Jahren in einer Art Zeitschleife. Vor über 50 Jahren rief Helke Sander die Ausbeutung der Hausfrauen und Mütter in ihrer berühmt gewordenen Tomatenwurf-Rede wieder ins Gedächtnis. Schließlich kann die feministische Philosophin Silvia Federici in einer geistigen Linie zu Toni Sender heute sagen: »Der Skandal des Kapitalismus liegt darin, dass er Krieg als produktiv wertet, nicht aber Kindererziehung, Kochen und Sex« (Federici 2018). Der von ihr beschriebene Skandal ist Ausdruck eines grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruchs. Kapitalistisch organisierte Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass die in ihr lebenden Subjekte sozialisiert und versorgt werden, die damit verbundene Aufgabe ist jedoch privatisiert. Um diesen Widerspruch besser zu verstehen, ist eine basale Grundlage der marxschen Darstellung von Kapital und Lohnarbeit notwendig.

Das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit führt zu einer bestimmten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Arbeitenden stellen Waren her, die regelmäßig für mehr Geld verkauft werden, als in Form der Löhne zu ihnen zurückfließt, obwohl sie die wertbildende Arbeit geleistet haben. Die hergestellten Waren gehören denjenigen, die Kapital in Produktionsmittel und Arbeitskräfte investiert haben. Ihnen gehört auch der Mehrwert, der sich in der Geldmenge äußert, die nach Verkauf der Waren idealerweise über der Investition liegt. Der Lohn entspricht nicht dem Wert der Arbeit, sondern hat die Funktion die Lebensmittel zu kaufen, die benötigt werden, um die eigene Arbeitskraft immer wieder zur Verfügung zu stellen. Dies entspricht der materiellen Seite der Versorgung.

Materialistische Feministinnen wie Silvia Federici oder Nancy Fraser (Federici 2012, Fraser 2016) fügten dem hinzu, dass auch unbezahlte Tätigkeiten, wie kochen, putzen, u.v.m. zu der Reproduktion der Arbeitskraft zählen. Diese Tätigkeiten werden zumeist als »natürliche« Tätigkeiten entwertet. Gleichzeitig sind sie notwendige Grundlage kapitalistischer Gesellschaften, da in den Haushaltstätigkeiten das wichtigste Element der kapitalistischen Produktionsweise produziert wird, die Ware Arbeitskraft. Dass dies im allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein selten wahrgenommen wird, liegt unter anderem daran, dass Menschen sich und andere nicht in der Absicht versorgen, dem Markt Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Sie tun es, weil es Teil des Lebens ist. Dass diese Tätigkeiten sowohl als das Andere der kapitalistischen Produktionsweise erscheinen, als auch gleichzeitig ihre Quelle sind, hat einige Theoretikerinnen dazu geführt, die Versorgungsarbeit mit dem Konzept der Landnahme zu begreifen, das Rosa Luxemburg mit Blick auf den Kolonialismus beschrieben hatte.

In Die Akkumulation des Kapitals thematisiert Luxemburg den Widerspruch zwischen entgrenzter Akkumulation und den begrenzten Voraussetzungen der Produktion und Konsumtion. »Die Lösung« des Problems liegt nach Luxemburg »in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärtsschreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet« (Luxemburg 1975, 315). Luxemburg erkannte im Kolonialismus die Funktion nicht-kapitalistische soziale Formationen auf mindestens drei Weisen für die kapitalistische Akkumulation verfügbar zu machen. Durch den Raub von Ressourcen, ein »Reservoir der Arbeitskräfte« (ebd., 316f.) und durch Absatzmärkte für Waren. Insofern die sozialen Strukturen von Warenform und Handel nicht bereits vorhanden sind, »erfolgt als einleitende Methode des Kapitals die systematische, planmäßige Zerstörung und Vernichtung der nichtkapitalistischen sozialen Verbände, auf die es in seiner Ausbreitung stößt. Hier haben wir es aber nicht mehr mit der primitiven Akkumulation zu tun, der Prozeß dauert fort bis auf den heutigen Tag. Jede neue Kolonialerweiterung wird naturgemäß von diesem hartnäckigen Krieg des Kapitals gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Eingeborenen begleitet sowie von dem gewaltsamen Raub ihrer Produktionsmittel und ihrer Arbeitskräfte« (ebd., 318f.). Rosa Luxemburgs Ansatz wurde als Konzept der »Neuen Landnahme« breit rezipiert. So sah David Harvey die Privatisierung des Gemeineigentums als »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey 2005). Tove Soiland erinnert in ihrem Text »Innere Kolonien. Care als Feld einer ›neuen Landnahme‹« (Soiland 2018) an die Hausarbeitsdebatte in den 70ern, die bereits zeigte, dass es auch in den Haushalten eine Art primitiver Akkumulation gibt, die nicht (nur) im Raub der Güter, sondern auch in einem Anzapfen der anderen Produktionsweise der Haushalte besteht. Gerade weil die Haushalte das wichtigste Element der kapitalistischen Produktionsweise, die Ware Arbeitskraft, hervorbringen, geht Soiland wie Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof davon aus, dass dieser Bereich zu dem unsichtbaren, tragenden Fundament des Gesellschaftsaufbaus gehört. (6)

Unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges zeigte sich das Fundamentale der Hausarbeit auf extreme und damit deutliche Weise. Die staatlichen Stellen hatten versagt, eine gerechte Verteilung der knappen Nahrungsmittel zu gewährleisten. Über Propaganda wurde versucht, den Hausfrauen die Schuld an der knappen Versorgungslage zuzuschieben, indem ihr Hauswirtschaften als verschwenderisch, kenntnislos und ohne Blick für das gesellschaftliche Ganze dargestellt wurde. Dabei waren die Hausfrauen Sündenböcke, ganz gleich, wie sie sich verhielten: Misslang es ihnen, ihre Familien zu versorgen, waren sie unfähig zur Hauswirtschaft, gelang es ihnen, was nur durch illegale Wege wie dem Überschreiten der Rationen, Hamsterei und Diebstahl möglich war, »fehlte« ihnen der Blick für das gesellschaftliche Ganze. So gab es eine gewisse Aufwertung der Hausarbeit als notwendige Tätigkeit für das gesellschaftliche Ganze, die aber damit verbunden war, die Verantwortung für die Schwierigkeiten der Reproduktion den Hauswirtschaftenden zuzuschreiben (Daniel 1989, 272).

Deutlicher als heute wurde damals artikuliert, dass die Ware Arbeitskraft eine Ressource ist, die immer wieder angeeignet werden muss. Gerade die Offenheit Hindenburgs und Ludendorffs von »Menschenmaterial« zu sprechen, konnte keine Zweifel darüber bestehen lassen, welche Bestimmung die Kinder der Arbeiter_innenklasse in dieser gesellschaftlichen Formation hatten. Ob in der Fabrik oder an der Front, für die herrschende Klasse war ein großer Teil der Population belebtes Objekt, das für die eigenen Interessen eingesetzt wurde. Was die Wirtschaft während des Ersten Weltkrieges ebenfalls besonders deutlich zeigte, war die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen auf (bestimmte) Bereiche des Arbeitsmarktes unter prekären Bedingungen mobilisiert und demobilisiert werden konnten, denn auch das beruhte auf ihrer notwendigen, aber nicht anerkannten Versorgungsarbeit. Dadurch, dass die Versorgungsarbeiten ihre Aufgabe, aber keine »richtige« Arbeit waren, konnten häusliche Arbeitsplätze entwertet und Frauen leichter bei Bedarf in die Schwerindustrie mobilisiert und wieder verdrängt werden, um den Männern ihre Rolle als Hausherr zurückzugeben.

So zeigte die Kriegswirtschaft besonders deutlich die Notwendigkeit der Versorgungsarbeiten, die Aneignung der Ressourcen aus den Haushalten und das Reservoir der Arbeitskräfte, dass Frauen für das Kapital gerade durch ihre Rolle als Versorgende waren und immer noch sind. (7) Die Proteste waren Ausdruck dieser verstärkten Belastungen, gerade in Hinblick auf die Schwierigkeiten der Frauen, der Rolle der Versorgung nachzukommen oder diese mit den erschwerten Arbeitsbedingungen zu vereinbaren.

Die Proteste vor über hundert Jahren mit theoretischen Elementen derselben Zeit zu interpretieren, ist kaum ohne melancholische Grundstimmung möglich. Denn zu ihrer Zeit ließen sich Theorie und Praxis durch eine sehr schnell einsetzende Konterrevolution, der auch Rosa Luxemburg zum Opfer fiel, kaum zusammen denken. Die Möglichkeit eines basisdemokratischen Aufbaus unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse scheiterte nicht nur an inneren Spannungen, sondern auch an äußerer Gewalt. Die zur Niederschlagung der Aufstände und Räterepubliken eingesetzten paramilitärischen Freikorps setzten ins Schwanken geratene patriarchale Vorstellungen erneut brutal durch. Freikorps in Oberschlesien bestraften Frauen, die mit französischen Kriegsgefangenen tatsächlich oder gerüchteweise Verhältnisse hatten, indem sie sie nackt auszogen, kahlschoren, mit Teer anstrichen und mit Peitschen durch die Straßen hetzten (Deutsche Zeitung, 13.07.1922, zitiert nach Gumbel 1980, 130). Rosa Luxemburg wurde von einer der Gruppen, der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, gefangen genommen, misshandelt und ermordet. Ihre Hinrichtung als politische Gegnerin und die geringen Konsequenzen für die Täter zeigten, dass sich der Rückfall in die Barbarei mit dem Ersten Weltkrieg nicht erschöpft hatte. Während ihrer Haft 1915 hatte Luxemburg in Die Krise der Sozialdemokratie daran erinnert, dass die Möglichkeit eines Rückfalls in die Barbarei anstelle des Übergangs zum Sozialismus bestand.

»Friedrich Engels sagte einmal: die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein »Rückfall in die Barbarei« auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei.« (Luxemburg 1974, 62)

Dabei sollte es nicht bleiben. Nicht nur versandeten die während des Reichsrätekongresses im Dezember 1918 beschlossenen Sozialisierungen aller »hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus« (Hofmeister/Bruch 2015, 45). Die Pazifistin Lida Gustava Heymann sah in ihren Erinnerungen, die sie 1941 im Exil veröffentlichte, gerade in dem Verrat der SPD-Führung an den sozialistischen Zielen den Rückfall in die Barbarei der Nazizeit. (8)

»Fritz Ebert und Genossen machten nicht nur gemeinsame Sache mit diesem Bürgerstande, den sie in Erscheinung und Lebensform schon lange nachahmten und ihm gleichten wie ein Ei dem anderen, sondern auch mit den Generälen, der Großindustrie und den Junkern. Anstatt das deutsche Volk nach erlittenem Bismarckschen Sozialistengesetz, nach jahrzehntelangem Kampf für Beseitigung preußischer Militärgewalt, Ausbeutung und Unterdrückung (Dreiklassenwahlrecht), nach den endlosen Opfern und Leiden des Weltkrieges – der Freiheit und Selbstverantwortung entgegenzuführen, trieben es die früheren Genossen Schritt für Schritt, aber langsam und sicher, dem Abgrund des III. Reichs zu« (Heymann 1992, 174).

Es ist also kaum möglich, die unterschiedlichen Fragmente der Geschichte über hundert Jahre später ohne melancholischen Beigeschmack zusammen zu denken. Wenn man es allerdings tut, zeigt sich, dass die feministische Rezeption Rosa Luxemburgs eine theoretische Untermauerung der Forderung Toni Senders bedeutet hätte, die Tätigkeiten der Versorgung als produktive Arbeit, und damit als Teil der Räteorganisation anzuerkennen (Sender 1919, 23). Dies hätte den protestierenden Frauen Organe der Willensbildung und -äußerung zur Verfügung gestellt, Möglichkeiten gegeben, auf gesellschaftliche Prozesse einzuwirken und gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Dann wäre vielleicht nicht nur die Entscheidung über den Krieg bei »der Masse der arbeitenden Männer und Frauen, alten und jungen« (ebd., 497) gelegen, sondern auch die Entscheidung über die Zukunft.

Anmerkungen

(1) Gedächtnisprotokoll

(2) Vom 18.2.1915 bis zum 18.2.1916 und vom 10. 7.1916 bis zum 8.11.1918 (vgl. Laschitza 2010)

(3) Zum Verhältnis Rosa Luxemburgs zur zeitgenössischen Frauenbewegung und zur feministischen Rezeption Luxemburgs siehe den Beitrag von Carolin Blauth in diesem Band.

(4) Das von den Berliner Arbeiterräten beschlossene Streikprogramm umfasste auch die Forderung nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen. Für Dresden, Kassel, Mannheim und Nürnberg ist die Frauenwahlrechtsforderung ebenfalls als Teil des Streikprogramms nachgewiesen (Kuhlbrodt 1981, 77ff.).

(5) Nach Kuhlbrodt waren im Vollzugsrat in Berlin Cläre Derfert-Casper als Bürogehilfin, Else Beck als Protokollführerin und Hanna Hünecke als Telefonistin tätig. Helene Overlach, Friedel Gräf und Helene Zirkel arbeiteten für den Arbeiter- und Soldatenrat Berlin (Kuhlbrodt 1981, 170).

(6) Vgl. in diesem Band den Text von Carolin Blauth.

(7) Luxemburgs dritter Punkt, die Nutzung von Absatzmärkten, zeigt die Kriegsgesellschaft eher unscharf, da die Wirtschaft auf Kampfmittel ausgerichtet war.

(8) Es ist bemerkenswert, dass es kaum möglich ist, über Nazis zu sprechen oder zu schreiben, ohne die Ideologie der Nazis zu reproduzieren. Statt Nationalsozialismus, der kein Sozialismus war, oder Drittes Reich, was projektiver Wunsch der Nazis war, bleibe ich bei umgangssprachlichen Ausdrücken wie Nazi-Zeit.

Literatur

Ay, Karl-Ludwig Ay (1968): Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges. Berlin.

Daniel, Ute (1989): Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen.

Federici, Silvia (2012): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster.

Dies. (31.05.2018) Interview in der Wochenzeitung Zürich Fraser, Nancy (2016): Contradictions of Capitalism and Care. In: New Left Review 100, 99–117.

Gumbel, Emil Julius (1980): Vier Jahre politischer Mord. Reprint von: Vier Jahre politischer Mord. Berlin-Fichtenau: Verlag der neuen Gesellschaft 1922. Die Denkschrift des Reichsjustizministers über »Vier Jahre politischer Mord«, Berlin: Der Malik-Verlag 1924. Heidelberg.

Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus. Hamburg.

Heymann, Lida Gustava (1992): Erlebtes Erschautes. Frankfurt am Main.

Bruch, Rüdiger vom / Björn Hofmeister (Hg.) (2015): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 8. Stuttgart.

Kuhlbrodt, Peter (1981): Die proletarische Frauenbewegung in Deutschland am Vorabend und während der Novemberrevolution 1. Dissertation eingereicht beim Wissenschaftlichen Rat der Pädagogischen Hochschule Leipzig. Berlin.

Laschitza, Annelies (2010): Rosa Luxemburg. Im Lebensrausch, trotz alledem. Berlin.

Luxemburg, Rosa (1951): Ausgewählte Reden und Schriften, Band 2. Berlin.

Dies. (1972): Gesammelte Werke, Band 3. Berlin.

Dies. (1974): Gesammelte Werke, Band 4. Berlin.

Dies (1975): Gesammelte Werke, Band 5. Berlin.

Rosenbusch, Ute (1998): Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland. Baden-Baden.

Sender, Toni (1919): Rede auf der Leipziger Frauenkonferenz am 29.11.1919. Berlin.

Soiland, Tove (2018): Innere Kolonien. Care als Feld einer »neuen Landnahme«. In: Luxemburg, 3, 72–77.