Linie Luxemburg-Gramsci: Die Kunst des Regierens von unten [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]
Peter JehlePeter Jehle, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für kritische Theorie in Berlin, Mitherausgeber des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus und der Zeitschrift Das Argument sowie Privatdozent an der Uni Potsdam geht in seinem Text anhand dieser Leitfragen der »Linie Luxemburg-Gramsci« auf den Grund. Seinen Vortrag dazu hielt er auf der Kantine »Luxemburg« am 07.08.2019.
Für den Schlussabschnitt der Ästhetik des Widerstands notiert Peter Weiss: »Mitgliedschaft in der Partei – dass es eine kleine Partei war, unwichtig. Mitgliedschaft Prinziperklärung – ideologische Zugehörigkeit – Abwesenheit von Zwang u Dogmatismus – Linie Luxemburg-Gramsci – Voraussetzung: Aufklärung der histor. Fehler – die lebendige kritische Wissenschaft, Ablehnung jeglicher Illusionsbildungen, Idealismen, Mystifikationen« (Weiss 1981, 608). Das ist die einzige Stelle, an der der Ausdruck vorkommt. Weiss beschreibt hier nichts, was es ohne weiteres bereits gäbe, sondern formuliert einen Anspruch: um Zukunft zu gewinnen, muss die Arbeiterbewegung die historischen Fehler, die sie gemacht hat, aufklären. Das gilt 30 Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer. Aber inwiefern können da ausgerechnet Luxemburg und Gramsci hilfreich sein? Woran kann angeknüpft werden?
Der Ausdruck von Peter Weiss ist eher ein Platzhalter, eine Leerstelle, die nach Ausarbeitung verlangt. Die Linie verläuft zwischen zwei herausragenden Gestalten der Arbeiterbewegung und der marxistischen Theorie, von denen die eine ermordet, die Gesundheit des anderen durch die Haftbedingungen zerrüttet wurde. Beide wurden sie keine 50 Jahre alt. Die Notiz ist kurz, gibt aber wichtige Hinweise. So spricht Peter Weiss perspektivisch von »Abwesenheit von Zwang und Dogmatismus«, von »lebendiger kritischer Wissenschaft«, von »Ablehnung jeglicher Illusionsbildungen« – alles Elemente, die für die Arbeiterbewegung ja nicht erst mit Stalin auf die Tagesordnung rückten, sondern lange vorher – am unmittelbarsten im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, dessen Finanzierung die große Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag bekanntlich befürwortete.
Luxemburgs Kritik an der Unterordnung der Theorie unter die Praxis
Illusionslos sieht Luxemburg, dass die deutsche Sozialdemokratie am 4.8.1914 »politisch abgedankt« hat (GW 4, 20). Wie ist es möglich, dass eine Partei »nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte« (ebd., 21)? Einen Grund dafür – und damit kommt das von Weiss genannte Element der »lebendigen kritischen Wissenschaft« ins Spiel – sieht sie in einer »Theorie«, die zur »willfährigen Magd der offiziellen Praxis« gemacht wurde: die Theorie als Rechtfertigungswissenschaft für die jeweils neueste Wendung der Parteilinie. Den Hauptverantwortlichen dafür sieht sie in Karl Kautsky, dem Chefredakteur der Neuen Zeit, des theoretischen Organs der Sozialdemokratie. Besonders niederträchtig ist für sie, dass er bereits mit einer »neuen Theorie [...] zur Rechtfertigung und Beschönigung des Zusammenbruchs« beschäftigt ist – mit Zusammenbruch ist die Zustimmung zu den Kriegskrediten gemeint. Kautsky ist der Ansicht der internationale Sozialismus habe sich zwar viel mit der Frage beschäftigt, was gegen den Ausbruch des Krieges, nicht aber damit, was nach seinem Ausbruch zu tun sei (ebd., 24). Es würden nun andere Regeln gelten. Jetzt stelle sich nur noch die Frage nach Sieg oder Niederlage. Luxemburg schließt sarkastisch: »Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests« – »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« – »erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun [...]: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege!« (ebd., 25) Diese »gefällige Theorie« revidiere zugleich den historischen Materialismus. Ist nach Marx alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen, so lautet die kautskysche Version: ja, ausgenommen in Kriegszeiten. Dieser »frisch konstruierte Gegensatz zwischen Krieg und Klassenkampf“«(ebd., 26) geht an den geschichtlichen Tatsachen vorbei, die einen »ständigen dialektischen Umschlag der Kriege in Klassenkämpfe« – genau das wird im November 1918, am Ende des Krieges, in Deutschland eintreten – »und der Klassenkämpfe in Kriege« zeigen (ebd., 26).
Der Missbrauch des Marxismus »für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer Tagesgeschäfte« (ebd., 24) wirft das grundsätzliche Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik, oder, noch enger, zwischen Wissenschaft und Partei auf. Man merkt schnell, dass es dabei keine einfachen Lösungen gibt. Wissenschaft und Politik oder, anders formuliert, Intellektuelle und Arbeiterbewegung sind widersprüchlich aufeinander bezogen. In der Ästhetik des Widerstands ist dieses Verhältnis durchgehend Thema. Verkompliziert wird es durch den Systemgegensatz der Nachkriegszeit, der die Sozialisten in Westdeutschland immer mit der Gretchenfrage konfrontierte: »Wie hältst du’s mit der DDR?« Peter Weiss, Mitglied der kleinen schwedischen Linkspartei/Kommunisten, notiert, dass er »nach dem absoluten Recht auf die Ausübung freier Kritik« arbeitet. »Eine andre Arbeitsform undenkbar.« (Weiss 1981, 611) Das machte ihn in der DDR immer wieder zur unerwünschten Person – was für ihn besonders schwer wog, denn hier, vor allem in Rostock, waren seine Theaterstücke im deutschen Sprachgebiet uraufgeführt worden, die er als einen Beitrag zum Sozialismus verstand. Unerwünscht war er allerdings auch in der BRD, wo er etwa nach der Aufführung der Ermittlung (einem Dokumentarstück, dem als Material ausschließlich Aussagen aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozess der 1960er Jahre zugrunde lagen) antisemitische Drohbriefe erhielt. Schon die allererste Eintragung in den Notizbüchern spricht vom Konflikt zweier »grundsätzlich verschiedener Auffassungen des Menschenbilds« in der BRD und DDR sowie vom Konflikt, in den der »radikale Künstler« mit beiden gerät – mit beiden! –: »es handelt sich um 2 verschiedne Arten von Repression. Die eine ist bedingt von Profitüberlegungen, die andre von dogmatischer Ideologie« (N, 9). Etwa um dieselbe Zeit (in den 1970er Jahren) kam es in der Zeitschrift Das Argument zu einer Diskussion um das Verhältnis von Intellektuellen und Arbeiterbewegung. Wolfgang Fritz Haug hat das Problem auf eine Formel gebracht: »Das sozialistische Kollektiv braucht denkende Individuen und durch Einsicht vermittelte Verbindlichkeit« (Haug 1976). Hier sind wir bereits ganz in der Nähe von Gramsci, der damals allerdings in der BRD noch kaum bekannt war: Verbindlichkeit, Zusammenhalt entstehen durch einen Prozess des Sich-selbst-von-der-Richtigkeit-einer-Sache-oder Idee-Überzeugens. Was dabei herauskommt, kann falsch sein – daher die Notwendigkeit permanenter Kritik. Kritik wiederum setzt einen von Zwang und Repression freien Raum voraus, in dem sie sich in Rede und Gegenrede entwickeln kann. Der ›Konsens‹, der so entsteht – ein Grundbegriff von Gramscis politischer Theorie zusammen mit dem Hegemoniebegriff –, ist ungleich belastbarer als ein Konsens, der vor allem durch äußeren Zwang zustande kommt, sei es durch den Zwang der Profitmacherei oder durch den dogmatischer Ideologie. Was beispielsweise in der Situation des Kalten Krieges von Teilen der sozialistischen Intellektuellen im Westen als Zwang abgelehnt wird – darum geht es auch in der Argument-Diskussion –, ist die Übernahme der in den sozialistischen Gesellschaften entwickelten Theorie, gewissermaßen als Fertigbauteil, in die kapitalistische Gesellschaft. Der Übernahme fähig ist nur, was einsichtig ist. »Ist ein solcher Anspruch auf Einsicht mit der notwendigen Disziplin vereinbar?«, fragt Haug. »Ersetzt er am Ende jede Verbindlichkeit?« (ebd., 650) Er schließt: »Den Anspruch der Einsicht stellen heißt eine kritische Haltung einnehmen. Ist damit nicht dem Individualismus in der Politik und, auf theoretischem Gebiet, der Kritischen Theorie Tür und Tor geöffnet?« (ebd.)
Im selben Jahr 1976 fand in Ostberlin die Konferenz der kommunistischen Parteien Europas statt, deren Teilnehmer »die feste Entschlossenheit ihrer Parteien« unterstrichen, die jeweilige politische Linie »in Übereinstimmung mit den sozialökonomischen und politischen Bedingungen sowie den nationalen Besonderheiten des jeweiligen Landes völlig selbständig und unabhängig« auszuarbeiten (zitiert nach Haug 1976, 657). Das war ein ganz neuer Ton, denn bisher war der Bezug auf die in Moskau vorgegebene Linie selbstverständlich gewesen. Santiago Carrillo, der Chef der spanischen KP, betonte das Besondere der Theorien des Wissenschaftlichen Sozialismus im Gegensatz zu bloßen Glaubenssetzungen. Es war unsere »Kinderzeit«, sagt er, als uns die Kommunistenverfolgungen zu einer Art Kirche mit »Märtyrern und Propheten« gemacht hatten, für die Moskau das Licht am Ende des Tunnels, das neue »Rom« war. »Heute sind wir erwachsen«, sagt er. »Wir verlieren immer mehr den Charakter einer Kirche. Der wissenschaftliche Charakter unserer Theorien setzt sich gegenüber dem Glauben und der Mystik von der Vorbestimmung durch.« (ebd.) Das berührt sich mit dem von Peter Weiss Gesagten: »Ablehnung jeglicher Illusionsbildungen, Idealismen, Mystifikationen«. Damit sich der wissenschaftliche Charakter der Theorie durchsetzen kann, ist »Selbstkritik« nötig, wie Luxemburg mit einem Ausdruck betont, der später – unter den kommunistischen Parteien an der Macht – zum Ritual verkam, in dem Schuldige, deren Schuld von vornherein feststand, ihre Schuld bekennen mussten. Bei Luxemburg hat das Wort noch seine frische Bedeutung: »Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.« (GW 4, 53)
Gramsci – die Intellektuellen und die Einfachen als die vermittelnden Subjekte des Theorie-Praxis-Verhältnisses
Beschäftigen wir uns mit der Seite der Subjekte, denn der »wissenschaftliche Charakter unserer Theorien«, wie Carrillo sagt, setzt sich ja nicht von selbst durch. Hier wird nun Gramsci wichtig, der die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis als Frage der Intellektuellen gestellt hat. Im Prozess des Sich-selbst-von-der-Richtigkeit-einer-Sache-oder Idee-Überzeugens spielen sie eine wesentliche Rolle, denn der »aktive Mensch der Masse« wirkt zwar praktisch, muss aber kein »klares theoretisches Bewusstsein dieses seines Wirkens« haben (Gramsci, H. 11, §12, 1384). Unter den Intellektuellen versteht Gramsci also nicht primär eine Berufsgruppe oder gar große Geisteshelden, sondern er begreift sie unter dem Aspekt ihrer organisierenden Funktion. Es gibt keine »Organisation ohne Intellektuelle« – nicht nur in dem Sinne, dass bestimmte Organisationen wie die katholische Kirche, eine Partei, ein Unternehmerverband oder eine soziale Bewegung auf die Tätigkeit ihrer Intellektuellen angewiesen sind, sondern grundlegender: »Kritisches Selbstbewusstsein bedeutet geschichtlich und politisch Schaffung einer Elite von Intellektuellen: eine menschliche Masse ›unterscheidet‹ sich nicht und wird nicht ›per se‹ unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren« (ebd., 1385). Daher »keine Organisation ohne Intellektuelle«, d.h. ohne dass die »Masse«, die auf dem Weg ist, sich einen bestimmten Standpunkt zu erarbeiten und sich von anderen zu »unterscheiden« (in dem starken Sinn, dass ein zu den herrschenden Konformismen alternatives Projekt verfolgt wird), ihre eigenen Intellektuellen hervorbringt. Indem sie sie hervorbringt, schafft sie Ausgangspunkte, um sich aus Abhängigkeit und Subalternität herauszuarbeiten. Auch das eigene Ich, das in seiner Wirklichkeit kein Individuum (im Wortsinn ein Unteilbares) ist, sondern eine, wie Brecht sagt, »kampfdurchtobte Vielheit« (Brecht, 22.2, 691), verlangt nach kritischer Organisation. Fehlt diese, hat es zwar teil an einer Weltauffassung, »die mechanisch von der äußeren Umgebung ›auferlegt‹ ist« – aber, so fragt Gramsci, wäre es nicht vorzuziehen, »die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen?« (Gramsci, H.11, §12, 1375). Die Vermittlung durch die Intellektuellen ist zwar unverzichtbar, aber ohne die »Anstrengung des eigenen Gehirns«, ohne das Sich-selbst-Überzeugen geht es nicht.
Immer kommt es darauf an, eine bestimmte Linie des Handelns auszuarbeiten, zu begründen und zu rechtfertigen. Nichts anderes macht Kautsky, aber seine Auffassung, können wir mit Gramsci sagen, ist nicht einheitlich und kohärent und vor allem trägt sie nicht dazu bei, die Subalternen zu einer – Gramsci sagt – »höheren Lebensauffassung zu führen« (ebd., 1383), die sie befähigt, zu einer geschichtlichen, d. h. geschichtsbildenden Person zu werden, die die Dinge aktiv gestaltet. Kautsky dagegen hält sie mit seiner Theorie der Suspendierung des Klassenkampfs im Krieg fest, in der primitiven nationalistischen Ideologie, die sie in die Schützengräben treibt, statt sich mit denen zusammenzutun, die auf der anderen Seite der Barrikade stehen und doch zur gleichen Klasse gehören. Das ist umso schwerwiegender, als gerade in der modernen Welt, wie Gramsci meint, den Parteien eine Schlüsselrolle »bei der Ausarbeitung und Verbreitung der Weltauffassungen« und einer diesen Weltauffassungen konformen Ethik und Politik (ebd., 1385) zukommt. Santiago Carrillo kann hier als ein zu Kautsky positives Gegenbeispiel fungieren. Bei der Berliner Konferenz beging er den Tabubruch und verabschiedete die Vorstellung des sozialistischen Monopols einer Avantgarde des Proletariats; er sprach stattdessen »Gesamtheit der Kräfte der Arbeit und der Kultur«. Das war gewiss abstrakt, aber angesichts einer Situation, in der die kommunistische Partei nur ein Element (und dazu ein schwaches) neben anderen war, die richtige Auffassung, weil sie die Möglichkeit einer sozialistischen Umwandlung an eine Aktionseinheit unterschiedlicher Organisationen und Kräfte band – nicht zuletzt an ein Bündnis mit den neuen sozialen Bewegungen.
Die Kunst des Regierens von unten entwickeln
Wir waren ausgegangen von dem von Luxemburg aufgedeckten Missbrauch des Marxismus »für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer Tagesgeschäfte«. Die darin steckende Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis wurde von Gramsci nach der Seite der hier agierenden Subjekte übersetzt in die Frage nach dem Verhältnis von Intellektuellen und Einfachen. Auf sie kommt es an. Emanzipation ist nichts Bequemes. Es funktioniert nur, wenn die Letztgenannten»sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen« (Gramsci, H. 10, Teil II, §41.XII, 1325). Und in diesem Zusammenhang heißt es vom Marxismus, er ziele nicht darauf, »die in der Geschichte und in der Gesellschaft bestehenden Widersprüche friedlich zu lösen«, sondern er sei »im Gegenteil die Theorie dieser Widersprüche selbst«; und sozusagen mit Luxemburg und gegen Kautsky unterstreicht er, dass der Marxismus »nicht das Regierungsinstrument herrschender Gruppen« ist, »um den Konsens zu haben und die Hegemonie über subalterne Klassen auszuüben« (denn genau das war ja offensichtlich der Sinn der kautskyschen Revision des historischen Materialismus, um ihn für die Kriegssituation passend zu machen); sondern er »ist der Ausdruck dieser subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen« (ebd., 1325).
Die Linie Luxemburg-Gramsci bezeichnet hier also die Anstrengung, die Kunst des Regierens von unten, von den Subalternen her zu entwickeln.
3 Luxemburgs Zentralismus-Kritik
Bei Luxemburg hängt das eng mit ihrer Zentralismuskritik zusammen. Der Zentralismus, der die Entscheidung über den jeweils einzuschlagenden Weg in einem Zentrum monopolisiert, ist die Folge eines falsch verstandenen, nämlich bevormundenden Verhältnisses von Intellektuellen und Masse. Aber auch historische Fehler haben ihre Gründe, und es ist daher nützlich, sich klar zu machen, in welchem Kontext sie entstehen. »Es fehlt an Menschen, und Menschen sind in Massen da«, heißt es in Lenins Was tun? (LW 5, 484). Damit bringt Lenin 1902 den im rückständigen Russland besonders stark ausgeprägten Widerspruch auf den Begriff, dass »immer breitere Massen« (ebd., 485) mit der herrschenden Politik unzufrieden sind, und es gleichzeitig an Führern mangelt, die imstande wären, dem Protest Nachhaltigkeit und Konzentration zu verleihen. Zwar verfüge die russische Sozialdemokratie über ein »präzises, von allen angenommenes Programm« (LW 9, 6), doch die Hegemonie-Frage, die nach der »Führung der Massen« (ebd., 5), ist damit noch nicht beantwortet. Entscheidend ist, ob »die kämpfende politische Partei [...] die Revolution etwas lehren«, ob sie ihr den »proletarischen Stempel« aufdrücken und also ihre »Verbindung mit der Masse« festigen kann (ebd., 4). Doch wie soll diese Verbindung zustande kommen, wo ein Großteil der sozialdemokratischen Politiker und Publizisten nach Sibirien bzw. ins westeuropäische Ausland verbannt ist? Aus dieser Situation erwächst, zu Beginn des 20. Jh., Lenins Vorstellung von der Notwendigkeit einer »straff organisierten Partei« (LW 5, 6), die fähig wird, einen Stellungskrieg auf längere Sicht zu führen und den Aktionismus terroristischer Anschläge zu überwinden. Ihre Voraussetzung ist eine periodische Presse, die als ein »kollektiver Organisator« (ebd., 11, 518) dem wach gewordenen Interesse an »Fragen des Sozialismus« (ebd., 9) entsprechen kann. Als eine Partei von Berufsrevolutionären konzipiert, deren »rücksichtslosen Zentralismus« Luxemburg schon früh, in den Jahren 1903/04, kritisierte (ebd., GW 1/2, 425), wird sie in und nach der Oktoberrevolution zur Massen-Partei – nicht im Sinne einer Partei der Massen selbst, sondern einer Partei, die ihre im engen Kreis getroffenen Entscheidungen mit dem Bezug auf »die Massen« legitimiert. Die Konzentration aller Leitungskompetenzen in der Staat gewordenen Partei enteignet die Massen und verurteilt sie zur Passivität. Dies entzieht dem sozialistischen Projekt die Anziehungskraft und lässt die Rede von der »Schöpferkraft der Massen« zur leeren Rhetorik verkommen. Auch die sozialistische Bewegung muss eine Antwort auf den Gegensatz von Elite und Masse finden.
Als Lenin 1920 in einer Broschüre der Frankfurter Ortsgruppe der KPD auf die Entgegensetzung von »Führerpartei« und »Massenpartei« stößt, sieht er darin eine »›linke‹ Kinderei« (LW 31, 25f), die den Bolschewiki an der Macht nichts zu sagen hat. Sie konnte in Mode kommen, weil der moderne Imperialismus in der Zweiten Internationale den »Typus der verräterischen Führer« hervorgebracht und zur »Isolierung der opportunistischen Parteien von den ›Massen‹« geführt hat (ebd., 27) – ein Vorgang, den Luxemburg immer kritisiert hat. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? »Mit der Avantgarde allein kann man nicht siegen« (ebd., 80), sagt Lenin. Es bedarf – in diesem Punkt ist sich Lenin mit Luxemburg einig – »der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen« (ebd.), doch was tun, wenn die Partei inzwischen zugleich »Massenpartei« und »Regierungspartei« geworden ist, deren »Geschlossenheit« auf dem Spiel steht, und das Austragen von Meinungsverschiedenheiten als »Diskussionssucht« und mithin als »Bedrohung« wahrgenommen wird (LW 32, 176f)?
Noch ein Jahr nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts im Zuge der Niederschlagung des Berliner Revolutionsversuchs ist Lenin sich sicher, dass »alle Länder« in einigen wesentlichen Fragen »dasselbe werden durchmachen müssen, was Russland durchgemacht hat« (LW 31, 15). Er beharrt auf »strengster Zentralisation und Disziplin«, um den »Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft«, die »fürchterlichste Macht«, die der »Gewohnheit«, zu führen (ebd., 29). Doch im Kampf gegen die Gewohnheit, gegen die von den »Kleinbesitzern« ins Werk gesetzte, »tagtägliche, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende«, die Restauration der Bourgeoisie befördernde Tätigkeit (ebd., 29f.), wirkt das Beharren auf Zentralisation und Disziplin wie ein Schmerzmittel, das die Ursachen der Krankheit unangetastet lässt. Diese Ursache sei der Zentralismus, der, wie Gramsci 1926 befürchtet, die Einheit »mechanisch« erzwingt, statt auf Konsens und Überzeugung zu setzen (Neubert 1991, 76).
Luxemburgs Lerntheorie
»Die Masse muss, indem sie Macht ausübt, lernen, Macht auszuüben. Es gibt kein anderes Mittel, ihr das beizubringen.« (GW 4, 509f.) Das sagt Luxemburg beim Gründungsparteitag der KPD 1918/19, zwei Wochen vor ihrer Ermordung. Es ist nicht neu, dass sie das sagt. Beim Dresdner Parteitag von 1903 betonte sie, dass es auf die »eigene Einsicht der Massen in ihre Aufgaben und Wege« ankommt (GW 1/2, 396). Die Einsicht, erinnern wir uns, die Haug als das vermittelnde Glied zwischen Selbstdenken und Verbindlichkeit bezeichnete. Luxemburg ging damals so weit, das Verhältnis von Führenden und Geführten auf den Kopf zu stellen: Das Ansehen der Führer wachse »im Verhältnis, wie sie die bisherige Grundlage jeder Führerschaft, die Blindheit der Masse, zerstören« und »die Masse zur Führerin und sich selbst zu Ausführern, zu Werkzeugen der bewussten Massenaktion machen« (ebd.). Indem Luxemburg postuliert, dass die bisher Führenden nun nur noch ›Ausführende‹ sein sollen, wird sie allerdings ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Denn worauf es ankommt, ist eine Organisationsstruktur, die den wechselseitigen Austausch befördert, Führung also nicht als Amt, als bürokratische Funktion, sondern als Resultat wirklicher Praxis versteht.
Solche Formulierungen, isoliert genommen, haben die Meinung befördert, Luxemburg habe die Massen überschätzt. Tatsächlich geht es ihr aber darum, die Dialektik zwischen Führung und Masse in Bewegung zu halten. Auch der »idealste Parteivorstand« muss im »bürokratischen Schlendrian« versinken, wenn »das selbständige geistige Leben der Parteimasse nicht rege genug« ist (GW 3, 40). Um aber die Funktion des kritischen Korrektivs von unten ausüben zu können, bedarf es »der politischen Erziehung der Massen« – nicht um sie zu gängeln, sondern um sie zu befähigen, »selbst strategisch zu handeln«, wie Frigga Haug schreibt (Haug 2007, 47). Schulung und Lernen sind möglich nur als »Selbsttätigkeit der Massen« (ebd., 48).
Selbsttätigkeit – im Ersten Weltkrieg beharrt Luxemburg darauf, dass »die Millionen Arbeiter in allen Ländern [...] sich selbst befreien müssen«, um der »gegenseitigen Abschlachtung der Völker« ein Ende zu bereiten (GW 4, 208). Die Oktoberrevolution, die ihren Weg »unter völligem Versagen des internationalen Proletariats« gehen musste (GW 4, 334), zeige, dass nicht durch »Erzeugung einer revolutionären Hurrastimmung, sondern umgekehrt nur durch Einsicht in den ganzen furchtbaren Ernst [...] die geschichtliche Aktionsfähigkeit des deutschen Proletariats geboren werden« kann (ebd., 335). Allein der »Lenin-Partei« sei es gelungen, die Revolution aus dem Engpass seit Februar 1917 herauszuführen, indem sie die einzige die Revolution vorantreibende Taktik proklamierte, die »ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- und Bauernmasse, in die Hände der Sowjets« zu legen (ebd., 338). Sie konnte damit Arbeiter, Bauern, Soldaten und revolutionär gesinnte Demokraten, d.h. »alle wirklichen Volksmassen [...] unter ihrer Fahne sammeln« (ebd., 339).
Aber diese Situation »erschöpfte sich nach wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats« – und stellte die Revolutionäre wie in allen früheren Revolutionen vor die Aufgabe, entweder »alle Hindernisse« entschlossen niederzuwerfen oder hinter den Ausgangspunkt der Revolution »zurückgeworfen« zu werden (ebd.). Wenn Luxemburg nun aber trotzdem die Auflösung der Konstituierenden Versammlung im November 1917, die aus »allgemeinen Volkswahlen hervorgegangene Volksvertretung« (ebd., 354), kritisiert, so deshalb, weil diese die »Beseitigung der Demokratie überhaupt«, das Übel, das es steuern soll, noch verstärkt. »Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen« (ebd., 355f).
Abschließend noch einen Blick auf Gramsci, der ja in demselben Problem des Verhältnisses von Führenden und Geführten, Intellektuellen und Einfachen die Kernfrage linker Politik sieht. Er spricht vom
»Übergang vom Wissen zum Verstehen, zum Fühlen, und umgekehrt, vom Fühlen zum Verstehen, zum Wissen. Das volkshafte Element ›fühlt‹, aber versteht oder weiß nicht immer; das intellektuelle Element ›weiß‹, aber es versteht und vor allem ›fühlt‹ nicht immer. [...] Der Irrtum des Intellektuellen besteht {im Glauben}, man könne wissen ohne zu verstehen und besonders ohne zu fühlen und leidenschaftlich zu sein [...]; man macht keine Politik-Geschichte ohne diese Leidenschaft, das heißt ohne diese Gefühlsverbindung zwischen Intellektuellen und Volk-Nation. Bei Abwesenheit einer solchen Verbindung sind bzw. reduzieren sich die Beziehungen des Intellektuellen zum Volk-Nation auf Beziehungen rein bürokratischer, formaler Art; die Intellektuellen werden zu einer Kaste oder einer Priesterschaft (sogenannter organischer Zentralismus). Wenn das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Volk-Nation, zwischen Führenden und Geführten, zwischen Regierenden und Regierten durch einen organischen Zusammenhalt gegeben ist, in dem das Gefühl Leidenschaft zum Verstehen und folglich zum Wissen wird [...], nur dann ist die Beziehung eine der Repräsentanz und kommt es zum Austausch individueller Elemente zwischen Regierten und Regierenden, zwischen Geführten und Führenden, das heißt, es verwirklicht sich das gemeinsame Leben, das allein die soziale Kraft ist, es bildet sich der ›geschichtliche Block‹« (Gramsci, H. 11, §67, 1490).
Die Block-Metapher ist übrigens die einzige Stelle in Weiss‘ Notizbüchern, an denen Gramsci direkt genannt wird. Weiss nannte es
»richtig für uns, sich des Begriffs der Diktatur des Proletariats zu entledigen. Es gibt in unsern Ländern die bestimmte Klasse, die sich Proletariat nennen ließe, nicht mehr, hier bestehn nur die großen Blockbildungen von Menschen, die miteinander durch die gleichen Interessen, die gleichen Wünsche, den gleichen Überdruss verbunden sind (wie von Gramsci definiert), und wie sie deutlich in Erscheinung treten in der kommunistischen Bewegung Italiens, Spaniens, Frankreichs.« (Weiss 1981, 749)
Der »Block« tritt bei Gramsci in verschiedenen Kontexten auf, als »geschichtlicher Block«, »städtischer« und »ländlicher« Block, »reaktionärer« Block, »ideologischer«, der »Block aus Bürgertum und Volk«, und viele andere mehr. Mit dem Begriff des Blocks versucht er dem Umstand Rechnung zu tragen, dass nicht die ökonomischen Klassen als solche Politik machen, sondern ihre Forderungen ins Politische übersetzt werden müssen, um eine Chance auf Durchsetzung zu haben. Die Politik ist die Ebene, auf der sich Konsens und Hegemonie geltend machen, Bündnisse eingegangen und wieder gelöst werden. Vom »Block« zu sprechen, heißt auch, dass die in ihm sich verbindenden Elemente gleichrangig, gleich wichtig sind. Wenn der »geschichtliche Block« nicht zustande kommt, wenn die Verbindung von Intellektuellen und Einfachen sich auflöst, werden die einen zu einer abgehobenen Kaste, die anderen zum Objekt von Politik, das immer mal wieder zu legitimatorischen Zwecken gebraucht wird. Das mit der Linie Luxemburg-Gramsci verbundene Ziel, die Entwicklung einer »Kunst des Regierens von unten«, ist dann blockiert.
Literatur
Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe [Herausgegeben von. W. Hecht, J. Knopf, W. Mittenzwei u. K.-D. Müller, 30 Bände., 1989ff].
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. [Kritische Gesamtausgabe auf der Grundlage der von Valentino Gerratana besorgten Edition, herausgegeben. von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug u. Peter Jehle (ab Band. 7), 10 Bände. 1991–2002]. Hamburg. (zit. Heft/Paragraph/Seite)
Haug, Frigga (2007): Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik. Hamburg.
Haug, Wolfgang Fritz (1976): Das sozialistische Kollektiv braucht denkende Individuen und durch Einsicht vermittelte Verbindlichkeit. In: Das Argument 98, 18/4, 19648–667.
Lenin, Vladimir Ilyich Ulyanov: Werke, 40 Bände., 2 Ergänzungsbände 1953ff. Berlin. (zit. LW)
Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke, Band 1–5 [Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 1970–75]. Berlin. (zit. GW)
Neubert, Harald (Hg.) (1991): Antonio Gramsci – vergessener Humanist? Eine Anthologie. Berlin.
Weiss, Peter (1975–1981): Ästhetik des Widerstands, 3 Bände. Frankfurt am Main.
Ders (1981): Notizbücher 1971–1980, 2 Bände Frankfurt am Main.