Rosa Luxemburgs Spontanitätstheorie als lebendiges Denken [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]
Marie LippertIn diesem Beitrag entreißt Marie Lippert Rosa Luxemburgs Begriff der Spontaneität, dessen Implikationen zentral sind für das Verständnis des Verhältnisses von Parteiorganisation und Masseninitiative, den Kanonisierungsbestrebungen eines klassischen Marxismus-Leninismus. Dies geschieht in Form einer singulären Betrachtung der Spontanitätstheorie und einer historisch-intellektuellen Einbettung ihrer Fragmente. Die Autorin studiert Philosophie in Berlin. Dieser Text entstand als Verschriftlichung eines Vortrags, den sie am 08.08.2019 auf der Kantine »Luxemburg« gehalten hat.
I. Rosa Luxemburgs »Spontaneitätstheorie«
Die sogenannte Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs nimmt in der Rezeption ihrer politischen Schriften eine zentrale Position ein. Der Begriff der ›Spontaneität‹ ist dabei auf die Masseninitiative in der sozialistischen Bewegung bezogen; den Gegenbegriff dazu bildet dementsprechend die sozialdemokratische Parteiorganisation. Die Frage danach, wie eine Massenbewegung entsteht und wie eine sozialistische Umwälzung zu denken wäre – was offenkundig große Teile der politischen Theorie des Marxismus motiviert –,kann mit diesen beiden Begriffen schematisch entweder extrinsisch oder intrinsisch aufgelöst werden. Eine solche Gegenüberstellung lässt entweder die Annahme zu, dass eine externe Parteiorganisation die Bewegung orchestriert und dementsprechend einschätzt, wann der Moment für eine sozialistische Umwälzung gekommen ist. Oder aber es entsteht spontan aus der Masse heraus das Momentum für einen solchen Umschwung. Dabei handelt es sich um einen Schematismus, der in der Theorie Rosa Luxemburgs nicht in einer solchen ausschließenden Opposition verhandelt wird, sondern in dem beide Momente miteinander vermittelt werden.
Der Status einer eigenen Spontaneitätstheorie im Werk Rosa Luxemburgs ist zumindest prekär. Die besondere Schwierigkeit, etwas über die Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs zu sagen, ergibt sich schlichtweg daraus, dass es schwer möglich ist, den Begriff der Spontaneität im Werk Rosa Luxemburgs selbst ausfindig zu machen. Es gibt beispielsweise keinen Text von ihr, der den Titel Zur Spontaneität der Masse trägt. Im Gegenteil, es ist jedenfalls im Hauptwerk der politischen Schriften Rosa Luxemburgs nicht möglich, den Begriff der Spontaneität an zentraler Stelle aufzufinden. Demnach lässt sich vielmehr vermuten, dass die Tradition, von Rosa Luxemburgs Spontaneitätstheorie zu sprechen, eher eine kritische ist. Jürgen Hentze schreibt dazu: »Zu einem ›System‹ wurden ihre Gedanken gerade da zusammengesetzt, wo es darum ging, ein System von Fehlern zu konstruieren, in dem Rosa Luxemburgs ›Spontaneitätstheorie‹ einen wichtigen Platz einnimmt« (Hentze, zitiert nach Negt 1974, 7). Diese Beobachtung zur Systematik der Luxemburg-Rezeption lässt sich mit einer recht bekannten, dabei allerdings zumindest fragwürdigen Würdigung Lenins veranschaulichen, der zu den wichtigsten intellektuellen Gesprächspartnern Rosa Luxemburgs zählte:
»Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u. a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst beim Verlassen des Gefängnisses Ende 1918 und Anfang 1919 ihren Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war und bleibt sie ein Adler.« (Lenin 1977, 195)
Gerade in posthumen Würdigungen Rosa Luxemburgs – in neueren Publikationen begegnet sie dabei häufig nur als ›Rosa‹ (1) – wird eine doppelte Zuschreibung von Heldinnenstatus im Tod und Insignifikanz ihrer theoretischen Fähigkeiten im Kanon des Marxismus-Leninismus erkennbar. Es lässt sich also eine gewisse Tradition negativer Bezüglichkeit auf Rosa Luxemburgs Spontaneitätstheorie als Teil ihrer politischen Theorie feststellen: Im Rahmen der Kanonisierungsbestrebungen der Sowjetunion entstand dabei der pejorative Begriff des ›Luxemburgismus‹, welcher bereits während ihrer Lebenszeit entstanden ist und sich weit über ihren Tod hinaus als signifikant für die Auseinandersetzung mit Kommunist_innen und Sozialdemokrat_innen während der stalinistischen Säuberungen herausgestellt hat (Politt & Grieger 2015). Bedeutend ist hier u. a . der Umgang mit der Polnischen Kommunistischen Partei, deren Vorgängerin diejenige sozialdemokratische Partei war, welche Luxemburg mitgegründet hatte und von deren 37 Mitgliedern des Zentralkomittees im Jahr 1937 30 ermordet wurden. Argumentativ bildet auch der Vorwurf des Luxemburgismus den Überbau für diese Maßnahme.
Wir können also festhalten, dass es sich bei dem Sprechen von Luxemburgismus und Spontaneitätstheorie lange Zeit zunächst um eine pejorative Zuschreibung im Rahmen der Kanonisierungsbestrebungen des Marxismus-Leninismus gehandelt hat. Abgesehen davon lässt sich nicht in Abrede stellen, dass es eine solche ›Theorie der Spontaneität‹ oder zumindest eine sehr starke Betonung der Masseninitiative im Werk Rosa Luxemburgs tatsächlich gibt. Diese Betonung nachzuvollziehen und hervorzuheben kann möglicherweise ein besseres Verständnis dessen eröffnen, was Rosa Luxemburgs Theorie an Gedanken hinsichtlich des Verhältnisses von Masseninitiative und Parteiorganisation bietet.
Ein grundsätzliches Missverständnis, das sich in Bezug auf die Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs ergeben hat, stützt sich auf eine gedankliche Verewigung einer Opposition, die gleichzeitig notwendig ist, um sie selbst zu verstehen: die Opposition von Parteiorganisation und Masseninitiative. Rosa Luxemburg schlägt nicht etwa vor, dass man sich in irgendeiner Form von Organisationsbestrebungen durch eine Partei verabschieden könne. Vielmehr betont sie die Notwendigkeit einer Gleichzeitigkeit von Massenaktion und Parteiorganisation. Daher ist vielleicht auch die Vorstellung, die viele Kritiker_innen Luxemburgs motiviert zu behaupten, sie würde eine Fundamentalkritik an der Partei an sich formulieren, irreführend. Eher korrigiert sie Lenins Parteivorstellung an ihrer – und greift dabei nicht die Partei, sondern eher die Vorstellung des Zentralkomittees und des Zentralismus an, – wobei sie aber gleichzeitig den Partikularismus zerstreuter Organisationsformen ablehnt und die Notwendigkeit eines gewissen Zentralismus anerkennt. So schreibt Luxemburg in ihrem Text Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie:
»Daraus ergibt sich schon, daß die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer ihrer Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und den vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann. Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen – auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kerns der Partei von dem ihm umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird – erscheint uns deshalb als eine mechanische Auffassung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. [...] Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. [...] Er [der sozialdemokratische Zentralismus] kann nichts anderes als die gebieterische Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein ›Selbstzentralismus‹ der führenden Schicht des Proletariats, ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation.« (Luxemburg 1979, 429)
Was an dieser Passage deutlich wird, ist, dass nach Rosa Luxemburg ein sinnvoller und notwendiger Zentralismus ein solcher wäre, der sich selbst aus einer Massenorganisation heraus entwickelt. Eine solche Zentralisation darf nicht den beiden zeitgenössischen Formen entsprechen, die Luxemburg kritisiert. Sie darf weder die blinde Unterordnung der Masse unter die Partei bedeuten, noch sich auf eine avantgardistische Abgrenzung vom Zentrum der Partei gegenüber allen anderen Teilen dieser stützen. Luxemburg führt im Folgenden an, dass gerade die Aufgeklärtheit des Proletariats und damit der notwendige Stand des Bewusstseins für eine solche selbstzentralistische Organisationsform in Russland zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht möglich sei. Hier widerspricht sie Lenin entschieden in seiner – zugegebenermaßen etwas befremdlichen – Vorstellung, der Arbeiter sei bereits durch seine Arbeit in der Fabrik zu Disziplin und Organisation – und damit zum Sozialismus (!) – befähigt. Das muss in der Tat wie das Kehrbild eines Gedankens, der in der Kritischen Theorie anzutreffen ist, erscheinen, nach welchem die Zurichtung der Subjekte im Kapitalismus sie in ihrer Fähigkeit zu einem anderen Leben beschädigt – und nicht, wie in der Lenin’schen Vorstellung, sogar befähigt. Diese Vorstellung Lenins sieht Luxemburg als »Kadavergehorsam [...] einer vielbeinigen und vielarmigen Fleischmasse, die nach dem Taktstock mechanische Bewegungen ausführt« (Luxemburg 1979, 429) – was an Verbildlichung von Anti-Spontaneität kaum zu übertreffen ist. Vor diesem Hintergrund wird auch die Bedeutung der politischen Bildung der Arbeiterklasse einsichtig, die für Luxemburg immer eine politische Selbstbildung abseits der Bevormundung durch die Partei bedeuten muss. Hier steht sie möglicherweise Modell für einen Gedanken Karl Korschs, der später die Räte als Selbsterziehungsorgane der Arbeiterklasse verstehen sollte. Auch in diesem Punkt grenzt sie sich eindrücklich von Lenin ab:
»Lenin sagt: der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse enggezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.« (Luxemburg 2000a, 358)
II. Rosa Luxemburgs ›lebendiges Denken‹
In dieser Passage kommt zum Ausdruck, dass es sich für Rosa Luxemburg in der Unterscheidung von kapitalistischem und sozialistischem System nicht um eine reine Umkehrung von wirtschaftlichen, sondern auch um eine Veränderung von zwischenmenschlichen Verhältnissen – mit Bini Adamczak vielleicht um die Veränderung von ›Beziehungsweisen« (Adamczak 2017) – handelt. Der Kapitalismus kommt ohne die Bildung und Erziehung – hier wieder als Selbstbildung bzw. Selbsterziehung lesbar – aus; der Sozialismus kann – und will – ohne dieses Element nicht existieren, das Luxemburg anschaulich als sein ›Lebenselement‹ bezeichnet. Das Lebenselement ist hier paradigmatisch. Bei dem Begriff der Lebendigkeit handelt es sich tatsächlich um einen Topos sowohl in der Rezeption Rosa Luxemburgs als auch – anders als es sich mit dem Begriff der Spontaneität verhält – im Werk Rosa Luxemburgs selbst. Außerdem ließe sich die These aufstellen, dass gerade dort, wo wir den Begriff der Spontaneität in ihrem Werk nicht auffinden, der der Lebendigkeit sich zeigt – nämlich in Bezug auf Phänomene der Masse und der Massenaktion. Dabei fungiert ihr Rekurs auf die ›Lebendigkeit‹ häufig als Korrektiv gegenüber Stagnation und Bürokratisierung, die in der Gegenüberstellung von ›lebendig‹/›tot‹ dem letzteren zugeordnet werden. Man kann allerdings, und das erlaubt wiederum gegen eine starre Opposition zwischen Parteiorganisation und Massenaktion in der Luxemburg-Lektüre zu argumentieren, aufzeigen, dass Rosa Luxemburg mit ihren Rekursen auf das lebendige Moment der Selbstorganisation ihre Gesprächspartner nicht zu delegitimieren, sondern besonders in Bezug auf ihre Kritik des Bolschewismus, sie zu korrigieren und letztlich mit ihrer Kritik zu beleben versucht. Das ist ganz im Sinne des Gedankens Elfriede Müllers in ihrem Beitrag Links des Möglichen (2) , nämlich dem, dass es sich bei dem Modus von Luxemburgs Kritik letztlich um einen solidarischen handelt.
Die Bedeutung der Idee der ›Lebendigkeit‹ als Korrektiv veranschaulicht das folgende Zitat:
»Das alles zeigt, daß der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.« (Luxemburg 2000a, 355)
Neben ihren Überlegungen zur Lebendigkeit der Massenbewegung liefert Luxemburg auch Ideen zur Natur der Institutionen selbst: In der Statik der sozialen Institutionen besteht ihre angeborene Unzulänglichkeit, welche in der Natur dieser selbst begründet liegt. Demgegenüber kommt es der Masse als dynamischer Instanz zu, die Statik der Institutionen auszugleichen und über ihre eigenen Machtmittel, ihren ›unausgesetzten Druck‹ zu vermitteln. Durch die wiederholte Betonung der Lebendigkeit könnte der Eindruck entstehen, dass sich diese Vorstellung des Lebens der Masse durch vitalistische Züge auszeichnet, die der Massenbewegung beinahe einen Zug der Naturwüchsigkeit zuschreiben. Dieses Element findet wiederum bei näherer Betrachtung seine Korrektur darin, dass Rosa Luxemburg keineswegs von einer Mühelosigkeit und Automatizität der sozialistischen Massenbewegung ausgeht, sondern stets die Anstrengungen, Fehlgriffe und Rückschläge, die die Bewegung begleiten, betont. Auch das ist Teil ihrer Abgrenzung von Lenin. Es gibt kein ›fertiges Rezept für die sozialistische Umwälzung in der Tasche der Revolutionspartei‹:
»Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt, durch Ukase einführen. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen – gegen Eigentum usw. Das Negative, den Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend Probleme. Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe.« (ebd., 360)
Luxemburg unterscheidet zwei Momente sozialistischen Umbaus: den Abbau kapitalistischer Strukturen, bpsw. des Privateigentums, um nur ein Element zu benennen, und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Letzterer ist in besonderem Maße abhängig von der Lebendigkeit der Masseninitiative und nicht bereits im Vorhinein durch ›Ukase‹, durch Dekrete, setzbar. Die Gleichzeitigkeit der Dekretierbarkeit des Abbaus und der Unmöglichkeit der Dekretierbarkeit des Aufbaus bildet zudem einen guten Ansatzpunkt zum Verständnis der Rolle der Partei bei Luxemburg. Aus der Betonung dieser Gleichzeitigkeit geht hervor, dass mitnichten auf die Partei (also den Abbau der Klassenherrschaft, der sie notwendig voraussetzt) verzichtet werden kann, sondern auch ihr anderes Moment, nämlich die Spontaneität, die lebendige Bewegung zum Aufbau des Sozialismus notwendig ist. Diese Gleichzeitigkeit betont die folgende Passage:
»Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus.« (ebd., 363)
Zudem wird sichtbar, dass Rosa Luxemburg keine Anarchistin ist, die auf Parteiorganisation verzichten möchte:
»Sie [die sozialistische Demokratie] beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.« (ebd., 364)
Schlüsselbegriffe ihres Denkens der Lebendigkeit sind damit also ein lebendiger Bezug als erfahrungsbasierte, an der Geschichte belehrte Aktion und die politische Selbstbildung der Arbeiterklasse, die zur Selbstorganisation und schließlich auch dazu befähigt, sich in Form einer Partei eine selbstzentralistische Form zu geben. Oskar Negt bringt das Verhältnis von Masse und Partei bei Rosa Luxemburg nicht nur auf den Punkt, sondern weist zudem auf den Modus Luxemburgs Denkens überhaupt hin, wenn er schreibt:
»Es ist eben die Dialektik von Spontaneität und Organisation, die die gesellschaftlichen Prozesse über jede Mechanik des Selbstlaufs und der einseitig-verdinglichten Denk- und Verhaltensweise hinaustreibt; sie bestimmt nicht nur das politische Bewegungsgesetz der Emanzipation der proletarischen Klassen, sondern auch die Struktur der ihr zugehörigen Theorie, deren Kern die materialistische Dialektik ist.« (Negt 1974, 10)
III. Hic rhodus, hic saltus – ein geflügeltes Wort bei Luxemburg, Marx und Hegel
Das dialektische Denken Rosa Luxemburgs schlägt sich nicht nur in ihren politischen Schriften, sondern auch in einigen sprachlichen Bildern nieder, die sie verwendet. Das geflügelte Wort aus Rosa Luxemburgs Werk, das im Folgenden besprochen werden soll, betont anders als der unmittelbare Kontext des Begriffs des ›Lebens‹ weniger die Wichtigkeit der Masseninitiative als den von Negt betonten Aspekt ihres dialektischen Denkens überhaupt. Obwohl diese Bilder mitnichten von Masse oder Revolution handeln, besteht in ihnen trotzdem ein gewisser Hinweis auf das, was für Luxemburg auch immer in Bezug auf Lebendigkeit und Spontaneität mitschwingt: die Form der Gegenwärtigkeit ihrer Kritik. Sie wendet sich gegen das Dekret, das Rezept, die Bürokratisierung einerseits, als auch andererseits im Falle der Revisionisten und Eduard Bernsteins gegen die nicht an der wirtschaftlichen Wirklichkeit geprüften Utopien von Gerechtigkeit, die ihre Erfüllung in einer Abmilderung der kapitalistischen Unterdrückungsmomente im Kapitalismus selbst betreffen.
Ein geflügeltes Wort, das für einen Text von Rosa Luxemburg titelgebend geworden ist, lautet: »Hic rhodus, hic salta« (auch: »hic saltus«) und stammt ursprünglich aus einer Fabel des antiken Dichters Äsop. Diese äsopische Fabel, insbesondere der zitierte lateinische Ausspruch, der als abschließende Mahnung das Ende des Textes bildet, steht am Anfang einer langen Überlieferungs- und Übersetzungsgeschichte dieses Diktums, die sich von Äsop über Hegel und Marx, schließlich in Rosa Luxemburgs Texten wiederfindet. Der Titel der Fabel lautet Der prahlerische Fünfkämpfer:
Ein Fünfkämpfer, der wegen seiner Schlappheit von seinen Mitbürgern verspottet wurde, reiste einmal ins Ausland und kehrte nach einiger Zeit wieder in die Vaterstadt zurück. Nun prahlte er mächtig; er habe in vielen Städten Hervorragendes geleistet, vor allem aber in Rhodos einen Sprung getan, wie ihn kein Olympionike vollführt habe. Bezeugen, sagte er, könnten das die Leute, die zugegen waren, wenn sie einmal hierherkämen. Da entgegnete einer der Umherstehenden: »Höre, Du, wenn das wahr ist, braucht es keinen Zeugen. Denn hier ist Rhodos, und hier ist auch die Gelegenheit zum Sprung! [Hic rhodus, hic saltus!]«
Hic rhodus, hic saltus bedeutet im unmittelbaren Kontext der Fabel Äsops also eine Mahnung gegenüber einer Person, die behauptet, Großes leisten zu können, dieses aber nicht unmittelbar beweisen kann oder will. Bei diesem letzten Satz handelt es sich traditionell um ein sogenanntes Epimythion, in deutscher Übersetzung: ein dem Mythos Nachgestelltes. Hans Blumenberg versucht in seinem kurzen Aufsatz Nachdenklichkeit (Blumenberg 2016) gerade diese Form des Epimythions zu kritisieren, da es die Bedeutungsvielfalt der Fabel abkürze und den Spielraum für Nachdenklichkeit beschneide.
Eine solche Nachdenklichkeit hat auch Hegel in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie walten lassen, als er in einem vollkommen anderen Kontext dieses Epimythion vollkommen anders interpretiert, eigentlich auch gänzlich anders, nämlich falsch und noch dazu absichtlich falsch übersetzt hat:
»[...] die Belehrung, die in ihr [der philosophischen Schrift] liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staats zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll.
ἰδοὺ Ῥόδος, ἰδοὺ καὶ πήδημα
Hic Rhodus, hic saltus.
Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum angeht, so ist ohnehin jeder ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst. Es ist ebenso töricht zu wähnen, eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. [...] Mit weniger Veränderung würde diese Redensart lauten: Hier ist die Rose, hier tanze. [...] Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen [...]« (Hegel 1970, 26)
Hegel geht es in seiner Version des Hic rhodus, hic saltus in gewisser Weise darum, mögliche Leistungen auf ihre Glaubhaftigkeit zu prüfen. Allerdings handelt es sich bei dem zu prüfenden Gegenstand nicht um einen prahlerischen Fünfkämpfer, sondern um die Philosophie selbst. In Hegels etwas freier Übersetzung von »Rhodus« als Rose – korrekt wäre: die Stadt Rhodos – lautet das Diktum »Hier ist die Rose, hier tanze«. Dabei liefert dieses Diktum nichts weniger als einen Hinweis auf die Aufgabe der Philosophie: Die »Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen«, also nicht »den Staat zu belehren, wie er sein soll«, sondern ihn in Hinsicht auf seine wirklichen Momente zu verstehen. Hegels Hic rhodus, hic saltus ist damit als eine Mahnung an die Philosophie, die ihren eigenen Hoheitsbereich, in Hegels Fall, denjenigen der Gegenwart, nicht zu übertreten habe.
Karl Marx greift im 18. Brumaire diese Hegelsche Übersetzung auf, wendet sie in seiner Interpretation allerdings gegen die idealistische Lesart Hegels:
»Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!« (Marx 1960, 118)
Der Imperativ, hier sei die Rose, hier solle man tanzen, ist mit Hegel affirmativ: Er identifiziert die Rose mit der Vernünftigkeit der Gegenwart, was im Kontext der Entstehung seiner Rechtsphilosophie auf seine Überzeugung verweist, nach der im preußischen Staat die Idee des Staates zu ihrer Verwirklichung gekommen sei.
Gleichzeitig kann man das Bild mit Hegel so lesen, dass die Wahrheit einer Zeit in dieser Rose, in ihren Erscheinungsformen steckt: Jedes Individuum ist Kind seiner Zeit, jede Philosophie in irgendeiner (ob bürgerlicher oder sozialistischer, utopischer oder wissenschaftlicher) Ausprägung, ihre Zeit in Gedanken erfasst. Das ist ein Gedanke, der auch mit Marx und Luxemburg denkbar ist, am Ende auch beispielsweise bei Karl Korsch resoniert, der eben diesen Gedanken in Thesen zu Hegels Revolutionstheorie versucht hat, auf die marxistische Orthodoxie anzuwenden und auch ihre Wahrheit als nicht rein-überzeitliche hervorzuheben.
Bei Marx ist ersichtlich, dass es über Hegels Deutung hinaus auch zu einer weiteren Notwendigkeit gekommen ist, nämlich zu derjenigen, in der die Verhältnisse objektiv bereit sind zum Sprung. Aus ihnen heraus ruft das erste wahrhaft vernünftige Moment: Hier ist nun die Rose, hier tanze! Dieses wahrhaft vernünftige Moment besteht für Marx, und auch für Rosa Luxemburg, in der Entwicklung der Produktivkräfte und des Proletariats als des Ausgangspunkts zu einer Veränderung hin zu einer befreiten Gesellschaft. Bei Hegel besteht diese Vernunft schon in der Gegenwart des preußischen Staates.
Ähnlich wie Marx verwendet schließlich Rosa Luxemburg dieses geflügelte Wort, wenn sie es mehrfach in ihren Texten aufführt, sogar einen kurzen Aufsatz zur Situation vom November 1918 mit Der Rhodus überschreibt. An dieser Stelle besteht die Möglichkeit zur Verdeutlichung, dass dieses Diktum aufs engste mit der Vorstellung der Spontaneität zusammenhängt:
»Immer wieder und immer wieder muß den Genossen gesagt werden: Erwartet von nirgends ein Heil als von euch selbst. Nur wenn ihr endlich wagt, in kühnen Massenaktionen von steigender Wucht, ohne Gefahren zu fürchten und Opfer zu zählen, eure ganze Macht zu entfalten, nur dann wird es gelingen, die Partei gegen die Ebert-Scheidemann zu retten, den Frieden und die Freiheit aus dem Chaos der imperialistischen Bestialität zu erringen. Hier ist der Rhodus, hier gilt es zu springen!« (Luxemburg 2000a, 214)
Der selbe Impuls, der sie dazu bewegt, der Bürokratisierung und dem Dekret die Lebendigkeit entgegenzusetzen, verweist hier auf das ›Hier‹ im Hic rhodus, hic saltus, das auch Karl Marx betont, wenn er auf dieses Moment als Moment der Möglichkeit einer ›Situation, die jede Umkehr unmöglich macht‹, verweist. Die Lebendigkeit in Luxemburgs Denken besteht damit in einer tiefen Skepsis sowohl gegen die Statik der Lenin’schen Parteikonzeption als auch in der Verankerung ihres Denkens in seinem historischen Augenblick. Was uns ihre Theorie zu lehren vermag, sind nicht nur die Ergebnisse ihres Schreibens. Es ist vielmehr der Modus ihres Denkens selbst, der überhistorische Dogmen hinterfragt und sich der Anstrengung aussetzt, von Neuem zu beginnen.
Anmerkungen
(1) Bspw. das von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Rosa Remix. Buch über die politische Aktualität Rosa Luxemburgs, New York, 2017
(2) Hier nachzuhören
Literatur
Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Blumenberg, Hans (2016): »Nachdenklichkeit«, Deutsches Jahrbuch Philosophie 6. S. 41–45.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1970) Grundlinien der Philosophie des Rechts. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Lenin, Vladimir Iljitsch (1977): Notizen eines Publizisten. In: Lenin-Werke, Bd. 33. Dietz, Berlin.
Luxemburg, Rosa (1979): Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie. In: Gesammelte Werke, Bd. 1/II. Dietz, Berlin.
Luxemburg, Rosa (2000a): Der Rhodus. in: Gesammelte Werke, Bd. 4. Dietz, Berlin.
Luxemburg, Rosa (2000b), Zur Russischen Revolution. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, Dietz, Berlin.
Marx, Karl (1960): Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon. in: Marx-Engels-Werke, Bd. 8. Dietz, Berlin.
Politt, Holger; Grieger, Manfred (2015): Luxemburgismus. In: Historisch kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/II. Argument-Verlag, Hamburg, S. 1393–1416.
Negt, Oskar (1974): Rosa Luxemburg: Zur Dialektik von Spontaneität und Organisation. Publikationskollektiv des SDS Hannover, Hannover.