Rosa Luxemburgs Beitrag zur Krisentheorie [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]
Markus WinterfeldRosa Luxemburg hat das eigentümliche Schicksal, einerseits als Ikone verehrt zu werden, während andererseits ihre großen Werke allesamt als widerlegt gelten. Der Rechten war sie als Agitatorin ein Dorn im Auge, der Linken als Theoretikerin, allen voran für ihre verbindliche Kritik am Einverständnis mit dem Imperialismus und für ihre Zusammenbruchstheorie. Markus Winterfelds Beitrag ist der Versuch, entgegen dieser Überlieferung die Bedeutung ihrer Kritik für unsere Epoche in groben Zügen, soweit es in der gegebenen Kürze möglich ist, darzustellen. Naturgemäß geht dies nur ausgehend von der Frage, die ihr gesamtes Werk durchzieht und deren Ausarbeitung ihr großes theoretisches Hauptwerk galt: der Krisen- und Zusammenbruchstheorie. Der Text beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 09. August 2019 in Chemnitz gehalten hat.
1 Der Scheinsieg über Rosa Luxemburg
Das Urteil der marxistischen Nachwelt über Rosa Luxemburg ist einstimmig. Sie tauge als Ikone einer sozialistischen und doch demokratischen Gesellschaft, als Theoretikerin sei sie aber gescheitert. Rosa Luxemburg, so ist es der Sekundärliteratur zur Krisentheorie (Shaikh 1978, 18) zu entnehmen, hätte versucht, die durch Marx widerlegte »Unterkonsumtionsdebatte wiederzubeleben«. Niemand, der im langen 20. Jahrhundert an der marxistischen Krisentheorie weiterarbeitete, kam umhin, sich von der »Königin der Unterkonsumtionisten« (Sweezy/Rittig 1959, 204) und ihrer »zirkulationstheoretisch verkürzten Zusammenbruchstheorie« (Kurz 2005, 173) abzugrenzen. »Um die Wende des Jahrhunderts glaubte die Marxistin Rosa Luxemburg die objektiven Ursachen für Krisen und Kriege und für die schließliche Abdankung des Kapitalismus in den Schwierigkeiten der Mehrwertrealisierung zu erkennen. Aber all dies hat mit Marx wenig zu tun.« (Mattick 1971, 101)
Rosa Luxemburg wäre davon ausgegangen, dass der Kapitalismus eine zusätzliche Nachfrage benötigt, um den Mehrwert zu realisieren; die Arbeiter können ihn nicht kaufen, da ihre Konsumtion durch den Arbeitslohn beschränkt sei, die Kapitalisten ebenso wenig, denn konsumierten sie den Mehrwert, so bliebe nichts für die Akkumulation. Der Fehler Rosa Luxemburgs wäre gewesen, dass sie nicht erkannte, dass der Kapitalismus keine äußere Nachfrage benötigte; die Kapitalisten wollen die Produktion ausdehnen und generieren somit selbst eine Nachfrage nach zusätzlichen Produktionsmitteln:
»Warum können die Unternehmen ihre Produkte nicht letztendlich an andere Unternehmen verkaufen, anstatt an Privatkonsumenten? Warum soll es z. B. nicht möglich sein, dass die Eisenerzproduzenten ihr Eisen an die Stahlproduzenten verkaufen; und die Stahlproduzenten verkaufen ihren Stahl an Produzenten von Bergbaumaschinen; und die Bergbaumaschinenproduzenten verkaufen ihre Maschinen (...) an die Eisenerzproduzenten, die diese Maschinen verwenden, um mehr Eisenerz zu fördern...und immer so weiter?« (Kliman 2012, 161)
Folgt man diesen Urteilen, so gäbe es keinen Grund, sich mit Rosa Luxemburg zu beschäftigen. Lässt man sich aber nicht abhalten und nimmt sich tatsächlich ihr Hauptwerk Die Akkumulation des Kapitals vor, so offenbaren sich Unstimmigkeiten im Bild der widerlegten Unterkonsumtionstheoretikerin. Die Kritik der klassischen Unterkonsumtionstheoretiker, Sismondi und Malthus, bildet Rosa Luxemburgs Ausgangspunkt; ihnen wirft sie vor, dass bei ihnen nicht nur der Mehrwert nicht absetzbar, sondern die Akkumulation eigentlich unmöglich ist: »In der Tat läuft die Sismondische Theorie darauf hinaus, die Akkumulation für unmöglich zu erklären. Denn wer soll das überschüssige Produkt im Falle der Erweiterung der Reproduktion kaufen, da die gesamte gesellschaftliche Nachfrage durch die Lohnsumme der Arbeiter und durch den persönlichen Konsum der Kapitalisten dargestellt ist?« (Luxemburg 1975, 153)
Die selbstverständliche Etikettierung als Unterkonsumtionstheoretikerin wird umso fraglicher, als Rosa Luxemburg selbst Kautsky den Vorwurf macht, dass dieser seiner Krisentheorie »den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen ›aus Unterkonsumtion‹« anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des Kapitals verspottet« hatte (Luxemburg l.c., 449). Die Marxsche Kritik der Unterkonsumtionstheorie war Rosa Luxemburg bekannt; unwahrscheinlich erscheint es dann, dass sie genau dem gleichen Missverständnis aufgesessen sein soll. Gleiches gilt für die meisten der seit ihrem Tod gegen Rosa Luxemburg vorgetragenen Einwände, die man zum Teil wörtlich in ihrem Buch referiert findet, etwa der beliebte Kreislauf von Stahl- und Maschinenkapital:
»Nehmen wir wiederum ein einfaches Beispiel: Kapitalist A produziert Kohle, Kapitalist B fabriziert Maschinen, Kapitalist C stellt Lebensmittel her. (...) Wenn B immer mehr Maschinen herstellt, kann A ihm immer mehr Kohle verkaufen und kann ihm deshalb immer mehr Maschinen abnehmen, die er im Bergbau verwendet. Beide brauchen immer mehr Arbeiter, und diese immer mehr Lebensmittel, also findet auch C immer größeren Absatz und wird dadurch seinerseits immer mehr Abnehmer sowohl für Kohle wie für Maschinen, die er für seinen Betrieb benötigt. So geht die Sache im Kreise und steigert sich immer mehr – solange wir in leerer Luft mit der Stange herumfahren.« (Luxemburg l.c., 440)
Offenbar sind es die Kritiker, die die genaue Beschäftigung mit Luxemburg vermeiden. Warum Luxemburg die Vorstellung, dass das Kapital sich seinen eigenen Absatz schaffen sollte, als absurd abtut, erfahren wir nicht; zugleich wird man den Verdacht nicht los, dass Rosa Luxemburgs Theorie einige für ihre Kritiker unangenehme Spitzen enthält.
Ähnlich wie beim Marxschen Kapital tun wir gut daran, das eigene Urteil nicht den Experten zu überlassen und uns selbst ein Bild zu machen.
2 Der Hintergrund von Rosa Luxemburgs Krisentheorie
Der Ausgangspunkt Rosa Luxemburgs Krisentheorie ist der Streit um die Frage der äußeren Absatzmärkte, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen den russischen Volkstümlern und den russischen Marxisten ausgefochten wurde. Die Volkstümler, zu denen auch der bekannte russische Kapital-Übersetzer Danielson (Nikolai-on) zählte, hatten das Argument der Unterkonsumtionstheorie Sismondis aufgegriffen, dass der Kapitalismus ohne äußere Absatzmärkte nicht existieren könne. Denn das Ziel der kapitalistischen Produktion sei die Realisierung eines Profits: Nimmt man das gesamte Wertprodukt einer Fabrik oder einer Nation und zieht davon den Anteil ab, der nur die vernutzten Produktionsmittel ersetzt; ferner den, der von den Arbeitern konsumiert wird; schlussendlich den, der von den Kapitalisten für ihre individuelle Luxuskonsumtion verbraucht wird, so verbleibe der zur Akkumulation vorgesehene, nicht von den Kapitalisten konsumierte Teil des Mehrwerts. Zu seiner Akkumulation müsse er zuerst realisiert, d. h. verkauft werden. Da er aber weder von Arbeitern noch Kapitalisten konsumiert werde, sei sein Verkauf innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft unmöglich. Die Schlussfolgerung der Volkstümler ist, dass der Kapitalismus nicht allein mit seinem inneren Markt existieren könne, sondern auf einen äußeren Absatzmarkt angewiesen sei. Allein durch den Verkauf an nichtkapitalistisch wirtschaftende Gesellschaftsschichten und Erdteile sei der Mehrwert realisierbar, wie Danielson schreibt:
»Auf diese Weise sehen wir, daß, wie das Produkt jeder Fabrik die Bedürfnisse der darin beschäftigten Arbeiter und des Unternehmers nach diesem Produkt weitaus übertrifft, ebenso das Gesamtprodukt einer kapitalistischen Nation weitaus die Bedürfnisse der gesamten beschäftigten Industriebevölkerung übertrifft, und zwar übertrifft sie sie gerade deshalb, weil die Nation eine kapitalistische ist, weil ihre gesellschaftliche Kräfteverteilung nicht auf die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung gerichtet ist, sondern bloß auf die Befriedigung zahlungsfähiger Bedürfnisse. Genauso wie ein Einzelfabrikant also auch nicht einen Tag existieren kann als Kapitalist, wenn sein Absatzmarkt nur durch die Bedürfnisse seiner Arbeiter und seine persönlichen Bedürfnisse beschränkt wäre, ebenso vermag sich auch eine entwickelte kapitalistische Nation nicht mit ihrem eigenen inneren Markt zu begnügen.« (zitiert nach Luxemburg l.c., 240)
Die kapitalistischen Kernländer nun, so die Theorie der Volkstümler, lösen das Problem der Realisierung des Mehrwerts, indem sie ihren Überschuss auf fernen Absatzmärkten verkaufen. Hinweise zur Bestätigung hierauf finden sich in den drei Bänden des Kapitals zur Genüge. Der Expansionsdrang des Kapitals, sein Kampf um Kolonien und Einflusszonen ergeben sich, so lässt sich fortsetzen, aus dem Zwang für das Kapital, Abnehmer für sein im Inland nicht realisierbares Mehrprodukt zu finden. Da Russland aber zu spät zur Aufteilung der Welt kam und von allen äußeren Märkten abgeschnitten war, wäre eine kapitalistische Entwicklung unmöglich gemacht. Mit Hilfe der Unterkonsumtionstheorie hatten die russischen Volkstümler den Beweis zu erbringen versucht, dass der einzig mögliche Weg des gesellschaftlichen Fortschritts der direkte Übergang zum Sozialismus war. Die Grundlage hierfür sollte die in Teilen Russlands noch intakte slawische Dorfgemeinschaft, eine vormoderne Produktionsform mit Gemeineigentum an Boden, bilden.
Die Skepsis der Volkstümler hatte, wie schon die Sismondische Kritik, alle Züge der kleinbürgerlichen Kritik an der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung. »Das Lob des alleinseligmachenden Kleinbetriebes kommt sogar bei Nikolai-on [Danielson] als der Grundton seiner ganzen Kritik viel deutlicher und offener als bei Sismondi zum Ausdruck«, bemerkt Rosa Luxemburg (Luxemburg l.c., 241). Die Unterkonsumtionstheorie der Volkstümler aber war auf die scharfe Polemik der russischen Marxisten gestoßen: Bulgakov, Struve, Tugan-Baranowski und Illitschin, später bekannt geworden als Lenin. In ihrer umgekehrten Beweisführung, dass der Kapitalismus zu seiner Entwicklung keiner äußeren Märkte bedürfe, vielmehr sich selbst einen ausreichenden inneren Markt schuf, stützten sie sich auf den 1885 erschienenen zweiten Band des Kapitals mit seinen Reproduktionsschemata. Die Reproduktionsschemata waren der Marxsche Versuch, die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in einer kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. Ein Teil des Gesamtprodukts muss die jährlich verbrauchten Produktionsmittel ersetzen; ein anderer dient als Konsumtionsmittel für die Arbeiter; ein weiterer als Konsumtionsmittel für die Kapitalisten; ein letzter schließlich der Erweiterung der Produktion selbst, d.h. der Akkumulation. Die Frage, wer welchen Teil des Gesamtprodukts kauft und woher die Konsumenten die Geldmittel hierfür beziehen, musste in den Schemata beantwortet werden.
Marx gliedert hierfür das gesellschaftliche Gesamtkapital in zwei Abteilungen. Abteilung I produziert Produktionsmittel, Abteilung II Konsumtionsmittel für Arbeiter und Kapitalisten. Beide Abteilungen produzieren einen Mehrwert, der in Abteilung I die Gestalt zusätzlicher Produktionsmittel, in Abteilung II die Gestalt zusätzlicher Konsumtionsmittel besitzt. Beide Abteilungen zusammengenommen hat das Gesamtkapital oder die Gesamtgesellschaft einen Überschuss an Produktions- und an Konsumtionsmitteln produziert, der eine Erweiterung der Produktion möglich macht. Abteilung I hat die zur Erweiterung ihrer Produktion nötigen Produktionsmittel selbst produziert und muss nur einen Teil der überschüssigen Produktionsmittel aus ihrem Mehrwert als neues Kapital anwenden. Die für die zusätzlich anzustellenden Arbeiter notwendigen Konsumtionsmittel kauft sie von der zweiten Abteilung. Abteilung I hat damit die zur Produktionserweiterung notwendigen Produktions- und Konsumtionsmittel erworben, Abteilung II einen Teil ihres Mehrwerts durch Verkauf an I realisiert und ist nun im Besitz des von I gezahlten Geldes. Abteilung II vollzieht sodann den analogen Prozess, kauft von Abteilung I Produktionsmittel und ergänzt die notwendigen Konsumtionsmittel aus dem eigenen Mehrprodukt. Stehen beide Abteilungen im richtigen Verhältnis, so fließt das von Abteilung I für den Kauf von Konsumtionsmitteln vorgeschossene Geld zur Abteilung I zurück, sobald Abteilung II ihrerseits Produktionsmittel kauft; es diente nur als Zirkulationsmittel zum Austausch des Mehrwerts.
Die Marxschen Schemata sind die tabellarische, mit Zahlen unterlegte Illustration dieser Austauschbewegungen. Wesentlich sind hier, wie überall, nicht die Zahlen, sondern die darin ausgedrückten Begriffe und die sich ergebenden Schlussfolgerungen. Wer kauft den nicht von den Kapitalisten der beiden Abteilungen konsumierten Teil des Mehrwerts? Die Schemata antworten: die Kapitalisten selbst, aber nicht insofern sie ihn konsumieren wollen, sondern insofern sie ihn zur Ausdehnung der Produktion nutzen. Jede Abteilung behält einen Teil des Mehrprodukts für die Akkumulation zurück; den Rest verkauft sie an die jeweils andere Abteilung. Die Reproduktion geht restlos auf, ohne dass es äußerer Abnehmer bräuchte. Die konsequentesten Schlussfolgerungen aus den Schemata zog der russische Marxist Tugan-Baranowski, der hierfür in der Geschichte der Krisentheorie geradezu sprichwörtlich geworden ist:
»Die angeführten Schemata mußten zur Evidenz den an sich sehr einfachen Grundsatz beweisen, welcher aber bei ungenügendem Verständnis des Prozesses der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals leicht Einwände hervorruft, nämlich den Grundsatz, daß die gesellschaftliche Produktion für sich selbst einen Markt schafft. [...] Als Resultat unserer abstrakten Analyse des Prozesses der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals hat sich der Schluß ergeben, daß es bei einer proportionellen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion kein überschüssiges gesellschaftliches Produkt geben kann. [...] Die verbreitete Meinung, die bis zu einem gewissen Grade auch von Marx geteilt wurde, daß das Elend der Arbeiter, welche die große Mehrzahl der Bevölkerung bilden, eine Realisation der Produkte der sich immer erweiternden kapitalistischen Produktion wegen mangelnder Nachfrage unmöglich macht – ist als falsch zu bezeichnen.« (zitiert nach Luxemburg l.c., 264f.)
Mit den Schemata des zweiten Bandes, die den Austausch des Mehrprodukts beschreiben, ist die Unterkonsumtionstheorie widerlegt. Machte diese die Krisen am nicht absetzbaren Mehrprodukt fest, so zeigen die Schemata, dass jedes Mehrprodukt absetzbar ist, sofern es nur proportional richtig eingeteilt ist nach Produktions- und Konsumtionsmitteln sowie nach den verschiedenen Industriezweigen und Produkten. Krisen, so Tugan-Baranowski, entsprangen einzig der Anarchie der kapitalistischen Produktion, die diese Proportionen beständig verletzte. Die zunehmende gesellschaftliche Planung und Monopolbildung Ende des 19. Jahrhunderts konnte dann aber nur bedeuten, dass die Krisen tendenziell seltener und schwächer würden. Die mit immer weniger Unterbrechungen fortschreitende Akkumulation aber würde nicht nur den inneren Markt des Kapitals ständig vergrößern, sondern auch mit einer steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften, also mit steigenden Löhnen einhergehen. Vom Beweis, dass der Kapitalismus in einem Land möglich sei, war man zum Beweis gelangt, dass die kapitalistische Akkumulation keine Grenzen habe und zu einer Ära des Wohlstands führen würde.
Für den revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie war diese Erklärung ein gefundenes Fressen. Nicht Konfrontation mit dem Imperialismus stand der Tugan-Baranowskischen Interpretation der Schemata zufolge auf der Tagesordnung, sondern die politische Begleitung der kapitalistischen Akkumulation zur Beseitigung ihrer Hindernisse. Hatte die Unterkonsumtionstheorie den Zusammenbruch des Kapitalismus und damit den automatischen Übergang zum Sozialismus vorausgesagt, so schien der Sozialismus nach der Reduktion der Krisen auf bloße Disproportionalitäten nicht mehr notwendig:
»Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose Akkumulation des Kapitals annimmt, man auch die schrankenlose Lebensfähigkeit des Kapitals bewiesen hat. Die Akkumulation ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkräfte, des ökonomischen Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich.« (Luxemburg l.c., 276f.)
An der Schwelle des 20. Jahrhunderts war die Katastrophe der auf dieser Weltsicht beruhenden Sozialdemokratie absehbar. Die Erwiderung war nicht durch marxistische Buchgelehrsamkeit möglich, sondern verlangte eine theoretische Klarstellung des Status‘ der Schemata im Marxschen Werk, und damit die erste große Erweiterung der Marxschen Theorie.
3 Rosa Luxemburgs Gegenüberstellung von Schemata und kapitalistischer Realität
Rosa Luxemburg kritisierte die Schemata nicht, wie noch heute in der eingangs zitierten Sekundärliteratur fast durchgehend unterstellt, weil sie daran zweifelte, dass sie mathematisch aufgingen, dass man also, wenn man das proportional eingeteilte Gesamtprodukt berechnet hatte, dieses zwischen den beiden Abteilungen, den verschiedenen Industriezweigen usw. hin- und herschieben konnte. Sie kritisierte die Schemata, weil die jährliche harmonische Addition des Kapitals mit der Realität der kapitalistischen Gesellschaft nicht zusammenzubringen war.
Der Grundfehler der Schemata war, so Luxemburg, dass sie vom Geld absehen; sie beschreiben einen rein stofflichen Austausch zwischen den Abteilungen, der in seiner Abstraktheit für jede Produktionsmittel und Konsumtionsmittel produzierende Gesellschaft gilt, »ebenso natürlich und notwendig in einer planmäßig geregelten wie in der kapitalistischen, auf Warenaustausch und Anarchie gegründeten Wirtschaftsweise« (Luxemburg l.c., 100). Die Absehung vom Geld bedeutet aber zugleich die Absehung von einem der charakteristischen Phänomene der kapitalistischen Akkumulation, nämlich der die Akkumulation begleitenden Entstehung überschüssigem, nach Anlage suchenden Geldkapitals:
»Nach dem Marxschen Schema geht der jeweilige kapitalisierte Mehrwert in der nächsten Produktionsperiode unmittelbar und restlos in der Produktion auf, hat er doch von vornherein die Naturalgestalt, die seine Verwendung (außer der konsumierbaren Portion) nur in dieser Weise zulässig macht. Eine Bildung und Aufschatzung des Mehrwerts in Geldform, als anlagesuchendes Kapital, ist nach diesem Schema ausgeschlossen.« (Luxemburg l.c., 291)
Die Entstehung freien Geldkapitals aber ist Luxemburg zufolge gleichbedeutend mit dem zunehmenden Überschuss an Kapital überhaupt, wohingegen die Schemata einen der Realität widersprechenden Mangel an Kapital behaupten, als ob das Kapital »noch ganz von der Hand in den Mund« lebte, als ob es »noch keine Banken« gäbe, »die hienieden auf Erden längst akkumulierte riesige Kapitalreserven bergen, die nur auf Absatzmöglichkeit lauern, um sich unter allen Lohnhöhen in die Produktion zu stürzen« (Luxemburg l.c., 490). Weil es aber kein überschüssiges, Nachfrage suchendes Kapital gibt, ist auch der Imperialismus auf Basis der Schemata unerklärlich:
»Wenn die kapitalistische Produktion einen genügenden Markt für sich selbst bildet und jegliche Erweiterung um den ganzen akkumulierten Wert gestattet, dann wird noch eine andere Erscheinung der modernen Entwickelung rätselhaft: die Hast und Jagd nach entferntesten Absatzmärkten und die Kapitalausfuhr, d.h. die markantesten Erscheinungen des heutigen Imperialismus. In der Tat unbegreiflich! Wozu der Lärm? Wozu die Eroberung der Kolonien, wozu die Opiumkriege der vierziger und sechziger Jahre und die heutigen Balgereien um Kongosümpfe, um mesopotamische Wüsten? Das Kapital bleibe doch zu Hause und nähre sich redlich. Krupp produziere doch munter für Thyssen, Thyssen für Krupp, mögen sie doch ihre Kapitalien nur immer in die eigenen Betriebe stecken und diese füreinander erweitern und so im Kreise fort. Die geschichtliche Bewegung des Kapitals wird einfach unbegreiflich und mit ihr der heutige Imperialismus.« (Luxemburg l.c., 446)
Ist der Imperialismus aber kein notwendiges Phänomen, so gibt es keine Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft zur steigenden Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche und damit auch keine Notwendigkeit für den Sozialismus:
»Wenn die kapitalistische Produktion für sich selbst einen genügenden Absatzmarkt bildet, dann ist die kapitalistische Akkumulation (objektiv genommen) ein schrankenloser Prozeß. Da die Produktion auch dann, wenn die ganze Welt restlos vom Kapital beherrscht, wenn die ganze Menschheit bloß aus Kapitalisten und Lohnproletariern bestehen wird, ungestört weiterwachsen, d.h. die Produktivkräfte schrankenlos entwickeln kann, da der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus somit keine Schranken gesetzt sind, so bricht damit der eine spezifisch Marxsche Grundpfeiler des Sozialismus zusammen. Nach Marx ist die Rebellion der Arbeiter, ihr Klassenkampf – und darin liegt gerade die Bürgschaft seiner siegreichen Kraft – bloß ideologischer Reflex der objektiven geschichtlichen Notwendigkeit des Sozialismus, die sich aus der objektiven wirtschaftlichen Unmöglichkeit des Kapitalismus auf einer gewissen Höhe seiner Entwickelung ergibt.« (Luxemburg l.c., 445f.)
Was bei Tugan-Baranowski als marxistische Orthodoxie begann, endet in der Abkehr vom Sozialismus. Die Schemata hatten die Unterkonsumtionstheorie widerlegt, waren aber selbst kein adäquates Bild der kapitalistischen Entwicklung. Es kam nun alles darauf an, eine alternative Formulierung zu finden, die weder mit der Unterkonsumtionstheorie die Akkumulation als unmöglich noch mit den Schemata als widerspruchslos und unendlich bewies.
4 Rosa Luxemburgs Lösungsversuch des Krisenproblems
Der tiefere Grund für das statische Modell, das die Schemata von der kapitalistischen Gesellschaft zeichneten, war laut Luxemburg das Absehen von der Geldzirkulation gewesen; nach Engels‘ Auskunft im Vorwort zum zweiten Band hatte Marx die Schemata zuerst ganz ohne Geldvermittlung, als bloßen Warentausch zwischen den beiden Abteilungen, aufgestellt und das hin und her fließende Geld später äußerlich ergänzt. Das Absehen von der Geldform des Produkts aber ist nach Luxemburgs Kritik gleichbedeutend mit dem Absehen von der kapitalistischen Gestalt der Produktion:
»Wir finden daß das völlige Absehen von der Geldzirkulation im Schema der erweiterten Reproduktion, das uns den Akkumulationsprozeß so glatt und einfach erscheinen ließ, zu großen Unzuträglichkeiten führt (...) bei der Akkumulation spielt die Geldform eine wesentliche Funktion: Sie dient nicht mehr bloß als Vermittler in der Warenzirkulation, sondern als Erscheinungsform des Kapitals, als Moment in der Kapitalzirkulation. Die Verwandlung des Mehrwertes in Geldgestalt ist die wesentliche ökonomische Voraussetzung der kapitalistischen Akkumulation, wenn auch kein wesentliches Moment der wirklichen Reproduktion.« (Luxemburg l.c., 107f.)
In den Schemata ist das Geld nur Zirkulationsmittel, das zwischen den Abteilungen hin und her fließt und an dessen Stelle sie sich auch Schuldscheine hätten ausstellen können. Genau im Geld, als der Rückkehrform des Kapitals zu sich selbst, besteht aber die kapitalistische Formbestimmtheit der erweiterten Reproduktion, die andernfalls bloß das für alle Gesellschaften gültige Wachstum der Produktionskapazitäten, eingeteilt nach Produktions- und Konsumtionsmitteln, beschreibt. Versucht man aber das Geld in die Schemata einzubeziehen, so gelangt man zu Widersprüchen. Denn damit ein vermehrtes Produkt jedes Jahr realisiert werden kann, braucht es auch eine vermehrte Geldmenge. Hierbei geht es aber nicht um Geld als Zirkulationsmittel, sondern um eine zusätzliche Nachfrage, die die Bedingung für die Erweiterung der Produktion ist:
»Damit tatsächlich akkumuliert, d.h. die Produktion erweitert wird, dazu ist noch eine andere Bedingung notwendig: eine Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage nach Waren. Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt?« (Luxemburg l.c., 102)
Die zusätzliche Nachfrage kann aber weder durch Arbeiter noch durch Kapitalisten gebildet werden. Auch der Zuwachs der Arbeiterbevölkerung, der sich für die kapitalistisch entwickelten Länder im niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegte, schied als zusätzliche Nachfragequelle aus. Es braucht also eine zusätzliche, äußere Nachfrage, um die Akkumulation gemäß der Schemata in Gang zu setzen, d.h. die Schemata fordern für »die Realisierung des Mehrwerts als erste Bedingung einen Kreis von Abnehmern außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft« (Luxemburg l.c., 300):
»Die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts ist also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine Akkumulation, insofern also der entscheidende Punkt im Problem der Kapitalakkumulation.« (Luxemburg l.c., 314)
Die Unterkonsumtionstheorie endete hier. Es folgt der zweite Schritt des Prozesses, nämlich die Rückverwandlung des in Geldform vorliegenden Mehrwerts in neue Produktionsmittel. Der gesamte gesellschaftliche Überschuss wurde aber soeben durch Verkauf ans nichtkapitalistische Ausland oder nichtkapitalistische Gesellschaftsschichten weggeführt. »Die Transaktion, die uns zur Realisierung des Mehrwerts verholfen, hat uns gleichsam durch die andere Tür die Voraussetzungen zur Verwandlung dieses realisierten Mehrwerts in die Gestalt des produktiven Kapitals entführt.« (Luxemburg l.c., 304) Erneut ist das Kapital auf das nichtkapitalistische Milieu angewiesen, diesmal um neue Produktions- und Konsumtionsmittel für die Akkumulation des Mehrwerts zu beschaffen:
»Wir sehen jedoch, daß der Kapitalismus auch in seiner vollen Reife in jeder Beziehung auf die gleichzeitige Existenz nichtkapitalistischer Schichten und Gesellschaften angewiesen ist. Dieses Verhältnis erschöpft sich nicht durch die nackte Frage des Absatzmarktes für das ›überschüssige Produkt‹, wie das Problem von Sismondi und den späteren Kritikern und Zweiflern der kapitalistischen Akkumulation gestellt wurde. Der Akkumulationsprozeß des Kapitals ist durch alle seine Wertbeziehungen und Sachbeziehungen: konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert an nichtkapitalistische Produktionsformen gebunden. Letztere bilden das gegebene historische Milieu jenes Prozesses. Die Kapitalakkumulation kann so wenig unter der Voraussetzung der ausschließlichen und absoluten Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise dargestellt werden, daß sie vielmehr ohne das nichtkapitalistische Milieu in jeder Hinsicht undenkbar ist.« (Luxemburg l.c., 313f.)
Das Kapital ist auf die Existenz nichtkapitalistischer Abnehmer angewiesen; diese aber muss es in den Warentausch, die Realisierungs- und Rückverwandlungsbewegung seines Mehrwerts einbeziehen. Die buntscheckigen Formen naturalwirtschaftlicher Gesellschaftsverhältnisse, auf die das Kapital trifft, reichen nicht aus; es muss diese gewaltsam in einfache Warenproduktion verwandeln, ihnen den Warenverkehr aufzwingen. Mit dieser einfachen Warenproduktion tritt das Kapital aber alsbald selbst in ökonomische Konkurrenz um die Billigkeit der Waren, erzwingt ihren Untergang oder wandelt sie in kapitalistische Produktion um. Damit aber zerstört das Kapital seine eigene Grundlage. Der Imperialismus, der Kampf um die letzten Absatzgebiete, zeigt die Grenze der kapitalistischen Expansion an:
»Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des Sozialismus – derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird.« (Luxemburg l.c., 411)
Luxemburg kannte die Unzulänglichkeiten der Unterkonsumtionstheorie, in der das Mehrprodukt ans Ausland verkauft werden musste und die Akkumulation damit unmöglich wurde, ebenso die der Schemata, in denen das Kapital ohne äußere Nachfrage aus sich selbst heraus wachsen soll. Ihr Lösungsversuch für das Krisenproblem war die Synthese beider widersprechender Positionen.
5 Rosa Luxemburgs Kampf mit ihren Kritikern
Der Schwachpunkt von Rosa Luxemburgs Synthese war, dass der Umweg des Mehrwerts übers nichtkapitalistische Ausland innerhalb der Schemata unbegründbar bleibt. Als Grund, warum sich die Kapitalisten das Mehrprodukt nicht einfach gegenseitig verkaufen konnten, hatte Rosa Luxemburg auf den Mangel an Geld zur Realisierung verwiesen. Ihre Kritiker antworteten hierauf, dass das Geld bei der Realisierung nur als Zirkulationsmittel fungiere. Wenn die im Land befindliche Geldsumme zu klein sei, so müsste das Geld nur schneller umlaufen, denn auch unter normalen Bedingungen realisiert die vorhandene Geldmenge einen vielfach größeren Wertbetrag an Waren. Und falls die technischen Grenzen des Zirkulationsmittels tatsächlich erreicht sein sollten, wäre eben ein Teil des Mehrwerts für die unproduktive Produktion zusätzlichen Geldmaterials (Gold) aufzuwenden. Rosa Luxemburg antwortet darauf, dass es ihr gar nicht ums Geld ginge, sondern um zusätzliche Nachfrage: »Es handelt sich bei dem Problem der Akkumulation nicht darum: Wo kommt das Geld her?, sondern darum: Wo kommt die Nachfrage für das zuschüssige Produkt her, das aus dem kapitalisierten Mehrwert entspringt?« (Luxemburg l.c., 116 f.) Aber auch diese Frage war von ihren Kritikern bereits beantwortet worden: Die Kapitalisten wollten akkumulieren, sie generierten daher selbst gegenseitig eine Nachfrage. Es mangelt weder am Geld noch an der Nachfrage.
Derart in die Enge getrieben, flüchtet Rosa Luxemburg in ihrer Antikritik nach vorn. Man müsse sich die Realisierung überhaupt so vorstellen, dass alle Waren an einem Tag, auf einem großen Marktplatz gemeinsam gegen Geld verkauft werden:
»Stellen wir uns vor, alle in der kapitalistischen Gesellschaft hergestellten Waren wären jedes Jahr auf einem Platz, auf einem großen Haufen zusammengestapelt, um in der Gesellschaft als Gesamtmasse Verwendung zu finden.« (Luxemburg l.c., 420)
Finden aber alle Warenverkäufe gemeinsam statt, so ist klar, dass das Geld vom Vorjahr unmöglich die gewachsene Wertsumme des aktuellen Jahres realisieren kann. Wert- und Geldmenge müssen identisch sein und die Sache scheint bewiesen; aber die Vorstellung, dass alle Waren an einem Tag, auf einem Platze gemeinsam verkauft würden, war das zentrale Dogma der Unterkonsumtionstheorie Sismondis, aus dem schon er die Unmöglichkeit, den Mehrwert zu realisieren, geschlussfolgert hatte: »Das Einkommen des vergangenen Jahres muß die Produktion dieses Jahres bezahlen.« (zitiert nach Luxemburg l.c., 153)
Findet die Realisierung aber nun simultan oder stückweise statt? Ist das Geld Zirkulationsmittel, das zwischen den Kapitalisten hin und her läuft, oder ist es absolute Wertgestalt, die dem Warenberg insgesamt gegenübertreten muss? Der Streit ist nur eine andere Formulierung der Frage, ob die Schemata immer aufgingen oder nie. Rosa Luxemburgs Theorie war der Versuch einer Synthese aus Schemata- und Unterkonsumtionstheorie, die sich beim ersten Angriff nach einer der beiden Seiten auflösen musste. Von ihren Gegnern in die Enge getrieben fällt Rosa Luxemburg schlussendlich in die Unterkonsumtionstheorie zurück, von der sie sich abstoßen wollte. Widerlegt sind aber sowohl die Vorstellungen der Schemata-Theoretiker vom Mangel an Kapital in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft und der grenzenlosen Absetzbarkeit jedes Mehrprodukts. Die marxistischen Nachfolger, die Rosa Luxemburg genüsslich auf ihr unterkonsumtionistisches Ende festklopfen, verfolgen damit den durchschaubaren Zweck, von ihrer Kritik der Schemata abzusehen, damit man mit Tugan-Baranowski das Kapital weiterhin als mathematische Addition zu sich selbst behandeln kann. Die tatsächliche Lösung des Krisenproblems aber steht noch aus.
6 Die höhere Profitrate als Motiv der kapitalistischen Expansion
Von allen ihren Kritikern war Henryk Grossmann der einzige, der Rosa Luxemburg wirklich gelesen hatte. Ein einziger Ansatz für die Krisentheorie war geblieben nach der Widerlegung von Unterkonsumtionstheorie und Disproportionalitätstheorie, und dies war das Marxsche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Nun hatte bereits einer ihrer zeitgenössischen Kritiker Luxemburg den Fall der Profitrate als alternative Krisenerklärung entgegengeschleudert und war hierfür in ihrer Antikritik reichlich verspottet worden:
»Wie sich der gute Mann eigentlich das Ding vorstellt, ob so, daß an einem gewissen Punkte die Kapitalistenklasse, vor Verzweiflung ob der Niedrigkeit der Profitrate, sich insgesamt aufhängt, oder ob sie etwa erklärt, bei solchen lumpigen Geschäften verlohne sich die Plackerei nicht mehr, worauf sie die Schlüssel selbst dem Proletariat abliefert?« (Luxemburg l.c., 446, Fußnote)
Der Fall der Profitrate war noch keine Krisenerklärung. Es musste gezeigt werden, wie daraus – unabhängig vom subjektiven Willen der Kapitalisten – ein Zusammenbruch der Reproduktion erwächst. Grossmann führte den Fall der Profitrate in die Schemata ein, indem er in beiden Abteilungen das konstante Kapital schneller als das variable wachsen lässt: I und II erhöhen jedes Jahr ihr konstantes Kapital (c) um 10 Prozent, ihr variables (v) jedoch nur um 5 Prozent. Bleibt die Rate des Mehrwerts (m/v) konstant, so sinkt zusammen mit dem relativen Sinken des variablen Anteil des Kapitals die Profitrate (m/c+v), da der konstante Teil des Kapitals schneller wächst als der variable. Grossmann schreibt diese Akkumulation für eine Anzahl von Jahren fort und findet, dass die produzierte Mehrwertmasse alsbald so stark hinter dem Wachstum des Gesamtkapitals zurückbleibt, dass sie für die geforderte Vergrößerung des konstanten Kapitals um 10 Prozent nicht mehr ausreicht. In Grossmanns Schema werden zuerst 10 % des produzierten Mehrwerts zum konstanten Kapital geschlagen, anschließend erfolgt die Erhöhung des variablen um 5 %, und was übrig bleibt vom Mehrwert, von Grossmann als »k-Teil« bezeichnet, dient der Konsumtion der Kapitalistenklasse. Letzterer Teil verschwindet mit zunehmender Akkumulation zuerst:
»Bereits im (...) 35. Jahr verschwindet der k-Teil des Mehrwerts, d.h., die Kapitalisten-Klasse behält keine Lebensmittel für ihren persönlichen Konsum, alle vorhandenen Lebensmittel müssen für Akkumulationszwecke verwendet werden und trotz alledem – entsteht ein Defizit an Lebensmitteln (...). (...) Das System bricht zusammen, die eintretende Krise des Systems drückt den Zusammenbruch seiner Verwertung aus. Vom 35. Jahr an wäre für die Kapitalistenklasse jede weitere Kapitalakkumulation – unter den genannten Voraussetzungen – zwecklos. Die Unternehmer hätten die Mühe der Leitung eines Produktionsprozesses, dessen Früchte ausschließlich der Arbeiterklasse zufallen würden.« (Luxemburg l.c., 121f.)
Rosa Luxemburgs Verdikt über die Profitratenfalltheorie wird Grossmann freilich nicht los. Seine Rechnung entpuppt sich als mühsame Verkleidung der alten These, dass die Kapitalisten die Produktion einstellen, wenn ihnen die Profitrate nicht ausreicht; warum sie im Grossmannschen Schema lieber die gesamte Produktion zusammenbrechen lassen, anstatt die Akkumulationsrate von 10 Prozent auf einen realistischeren Wert zu senken, bleibt unerklärbar, insbesondere angesichts dessen, dass die Masse des Mehrwerts weiter wächst. Aber es sind nicht die Fehler der Theoretiker, hinter denen wir her sind, sondern ihre Fortschritte; und Grossmann liefert den entscheidenden Hinweis zur Auflösung des Krisenproblems. Luxemburg hatte ihre Theorie, dass der Imperialismus die Suche nach außerkapitalistischen Konsumenten ist, unter anderem am Beispiel Ägyptens illustriert, dessen Baumwollspekulation Mitte des 19. Jahrhunderts es zwar in den ökonomischen Ruin führte, zugleich dem englischen Kapital eine glänzende Realisierung des Mehrwerts verschafft hatte:
»Als Folge des amerikanischen Sezessionskrieges und des englischen Baumwollhungers, der den Preis der Baumwolle von 60 bis 80 Pf pro Kilo auf 4 bis 5 M hinaufgetrieben hatte, wurde auch Ägypten von einem Fieber des Baumwollbaus ergriffen. Alles baute Baumwolle, vor allem aber die vizekönigliche Familie. Landraub in größtem Maßstab, Konfiskation, erzwungener ›Kauf‹ oder einfacher Diebstahl vergrößerten rasch die vizeköniglichen Ländereien ungeheuer. [...] Nun ging es an Bewässerungsarbeiten. Hierzu wurden massenhaft Dampfmaschinen aus England und Frankreich bezogen, Zentrifugalpumpen und Lokomotiven. Viele Hunderte davon wanderten aus England nach Alexandrien und weiter auf Dampfschiffen, Nilbooten und Kamelrücken nach allen Richtungen ins Land. Zur Bodenbearbeitung wurden Dampfpflüge benötigt, zumal 1864 eine Rinderpest sämtliches Vieh weggerafft hatte. Auch diese Maschinen kamen meist aus England. [...] Eine dritte Art Maschinen, die Ägypten plötzlich in Massen benötigte, waren die Apparate zum Entkörnen und die Pressen zum Packen von Baumwolle. Diese Ginanlagen wurden zu Dutzenden in den Städten des Deltas eingerichtet. […] Der Zusammenbruch der Baumwollspekulation kam schon im nächsten Jahr, als nach dem Friedensschluß in der amerikanischen Union der Preis der Baumwolle in wenigen Tagen von 27 Pence das Pfund auf 15, 12 und schließlich auf 6 Pence fiel.« (Luxemburg l.c., 377 f.)
Wie bei allen großen TheoretikerInnen offenbart sich Luxemburgs Lücke darin, dass die eigene Theorie nicht zum eigenen Material passt; Grossmann wendet ein:
»Wie ist also der Kapitalexport mit der Theorie Rosa Luxemburgs von der Unrealisierbarkeit des Mehrwerts im Kapitalismus zu vereinbaren? [...] Auf 30 Seiten erfahren wir, wie die altkapitalistischen Länder Europas die Kapitale in nichtkapitalistische Länder exportieren, wie sie daselbst Fabriken gründen und das kapitalistische System aufbauen und diese Länder allmählich in ihre Einflusssphären hineinbeziehen; zwölf Seiten dieses Abschnitts werden speziell der Geschichte der internationalen Anleihe in Ägypten gewidmet. Und was wird durch alle diese Darstellungen bewiesen? Wird etwa gezeigt, wie der in den altkapitalistischen Ländern produzierte Mehrwert in den nichtkapitalistischen Ländern ›realisiert‹ wird? Davon keine Spur! Wir erfahren vielmehr, wie die Fellachen und andere asiatische, afrikanische usw. Völker lange und billig arbeiten müssen, wie sie in den kapitalistischen Nexus einbezogen werden; wir erfahren mit einem Wort nicht, wie der im Kapitalismus produzierte Mehrwert realisiert wird, sondern wie in den nichtkapitalistischen Ländern mit Hilfe des Kapitalexports ein zusätzlicher Mehrwert produziert und in die altkapitalistischen Länder gebracht wird.« (Grossmann 1970, 528)
Die Lösung des Krisenproblems ist damit geliefert. Bei Rosa Luxemburg trieb die Suche nach Konsumenten für das Mehrprodukt das Kapital ins Ausland; den historischen Prozess betrachtet, war es die höhere Profitrate. Bei Rosa Luxemburg kommen die Schemata ins Rollen, sobald eine zusätzliche äußere Nachfrage gefunden ist; am historischen Prozess zeigt sich, dass diese Nachfrage eine nach Produktionsmitteln ist, die dadurch zustande kommt, dass ein Kapital eine Anlagemöglichkeit mit höherer Profitrate ausmacht und daher neue Produktionsanlagen (fixes Kapital) nachfragt.
Rosa Luxemburg war nahe dran an der Lösung des Krisenproblems, indem sie die ewige Frontstellung von Unterkonsumtionstheorie und Schemata zu überwinden suchte: Während die eine Seite »direkt aus den Krisen die Unmöglichkeit der Akkumulation«, die andere »direkt aus dem Warenaustausch die Unmöglichkeit der Krisen« deduzierte (Luxemburg l.c., 178), suchte Luxemburg eine dritte Bedingung, von der der Ablauf der Schemata abhängt. Diese Bedingung liegt aber nicht in der Nachfrage durch zusätzliche Konsumenten, sondern in der Nachfrage durch das Kapital selbst; nicht nach Produktionsmitteln überhaupt, sondern nach Produktionsmitteln, die eine höhere Profitrate liefern können. Dass die Reproduktion der kapitalistischen Gesamtgesellschaft nur zustande kommt, wenn ein Einzelkapital eine ausreichende Profitabilität vorfindet, besagt nichts anderes, als dass die Gesellschaft eine kapitalistische ist, angetrieben von der privaten Aneignung von Mehrwert.
7 Die letzten einhundert Jahre kapitalistischer Akkumulation
Rosa Luxemburg sah die Grenze der kapitalistischen Akkumulation vor 100 Jahren mit der Hereinziehung aller nichtkapitalistischen Erdteile in den Warentausch erreicht. Dieser Warentausch mit dem nichtkapitalistischen Milieu war in ihrer Theorie die Voraussetzung für die kapitalistische Akkumulation; wo seine weitere Ausdehnung an Grenzen stieß, blieb nur der Zusammenbruch. Die Geschichte, die das Kapital in den hundert Jahren seit Luxemburgs Zusammenbruchsprognose vollzogen hat, lässt sich selbst aus der notwendigen Erweiterung von Rosa Luxemburgs Krisentheorie erklären. Weil die Realisierung des Mehrwerts nicht von zusätzlichen Konsumenten abhängt, sondern von profitablen Anlagemöglichkeiten, war die kapitalistische Expansion mit der äußerlichen und formalen Einbeziehung aller Erdteile in den Warentausch noch nicht abgeschlossen. Die Entwicklung, die wir seitdem sahen, war die Verwandlung aller dieser erst äußerlich unterworfenen Gesellschaften in kapitalistisch produzierende. Ungeheure Kapitalvorschüsse waren notwendig, um die Rohstoffe, die natürlichen Produktivkräfte ebenso wie die Arbeitsbevölkerungen des gesamten Planeten für das Kapital zu erschließen, immer getrieben von der Suche nach Extraprofit durch Verbilligung der Waren. Die Nachfrage nach den notwendigen Produktionsmitteln zur Erschließung des Planeten gab dem Kapital ein Jahrhundert lang den Absatz für sein Mehrprodukt. Die soziale und materielle Umwandlung des Planeten war die Bedingung für die Akkumulation in den kapitalistischen Mutterländern. Das letzte große Kapitel dieses Prozesses war die Verwandlung des eine Milliarde Menschen umfassenden chinesischen Staats in eine mit modernster Technik produzierende kapitalistische Fabriklandschaft. Abgesehen von winzigen Flecken gibt es heute keine Region der Welt die nicht dem unmittelbaren Diktat des Kapitals unterworfen wäre. Die Expansionsbewegung des Kapitals kommt an ihr Ende. Rosa Luxemburg hatte nicht nur damit Recht, dass sie ahnte, dass die Akkumulation des Kapitals an äußere Bedingungen gekoppelt war; an der gesellschaftlichen Oberfläche sehen wir heute dieselben Phänomene, die sie als Kennzeichen für die Schlussphase der kapitalistischen Gesellschaft betrachtete:
»Der heutige Imperialismus ist nicht (...) der erste Auftakt zur Expansion des Kapitals, sondern nur der letzte Abschnitt seines geschichtlichen Expansionsprozesses: er ist die Periode der allgemeinen verschärften Weltkonkurrenz der kapitalistischen Staaten um die letzten Reste des nichtkapitalistischen Milieus der Erde. Die ökonomische und politische Katastrophe ist in dieser Schlußphase ebenso Lebenselement, normale Daseinsform des Kapitals, wie sie es in der ›primitiven Akkumulation‹ seiner Entstehungsphase war. Wie die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien nicht bloß eine prometheische Leistung des menschlichen Geistes und der Kultur war, als welches sie in der liberalen Legende erscheint, sondern, unzertrennlich davon, eine Serie herodischer Massenmorde an den primitiven Völkern der Neuen Welt und grandiosen Sklavenhandels mit den Völkern Afrikas und Asiens, so ist in der imperialistischen Schlußphase die wirtschaftliche Expansion des Kapitals unzertrennlich von der Serie Kolonialeroberungen und Weltkriege, die wir erleben.« (Luxemburg, l.c., S. 520).
Literatur
Grossmann, Henryk (1970 [1929]): Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Frankfurt am Main.
Kliman, Andrew (2012): The failure of capitalist production. UnderlyingCauses of the Great Recession. London.
Kurz, Robert (2005): Die Substanz des Kapitals. Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute Schranke der Verwertung. Zweiter Teil. In: Exit! 2.
Luxemburg, Rosa (1975): Die Akkumulation des Kapitals (erschienen 1913), sowie »Antikritik« (erschienen 1921). In: Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke, Band 5. Berlin.
Mattick, Paul (1971): Marx und Keynes. Frankfurter am Main.
Shaikh, Anwar (1978): Einführung in die Geschichte der Krisentheorien. In: Prokla 8/3, 3–42.
Sweezy, Paul (1959): Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Eine analytische Studie über die Prinzipien der Marxschen Sozialökonomie. Köln.