Rosa Luxemburg: Links des Möglichen [Beitrag zur Kantine-Broschüre »Hier tanze«]
Elfriede MüllerRosa Luxemburg gilt bis heute als eine der schillerndsten Figuren der Arbeiter_innenbewegung. Neben ihrem tragischen Tod liegt das sicherlich auch daran, dass sie als Sozialistin ein Leben führte, das mit ihren Ideen im Einklang stand. Die Rezeption ihrer Arbeit in der Linken ist bislang begrenzt geblieben. Dabei berührte sie mit ihrer solidarischen Kritik an der Russischen Revolution und mit ihren Überlegungen zu Internationalismus, Organisation und revolutionärer Transformation Fragen, die nichts an Relevanz eingebüßt haben.
Elfriede Müller hat Geschichte und Literaturwissenschaften studiert, ist Mitbegründerin der jour fixe Initiative Berlin und seit 1994 Beauftragte für Kunst im öffentlichen Raum des Berufsverbands bildender Künstler_innen (BKK). Veröffentlicht hat sie zu linker Ideengeschichte, kritischer Theorie und Roman noir. In ihrem Vortrag in Chemnitz am 06. August 2019 diskutierte sie Einflüsse Rosa Luxemburgs auf heutige linke Theorie und Praxis.
Einleitung und Rezeption
Nach dem Untergang des Realsozialismus ist eine neue Diskussion der kommunistischen Geschichte möglich geworden, und nicht nur Marx kann von seinen Dogmen befreit werden: auch Rosa Luxemburg ist nicht mehr eine mit Irrtümern behaftete Gestalt, sondern kann wie Marx neu betrachtet und gelesen werden. Während Marx dogmatisch vereinnahmt wurde, blieb Rosa Luxemburg eher im Schatten, obwohl Lenin bereits der KPD dringend empfohlen hatte, ihre gesammelten Werke zu publizieren, wozu es aber erst 1968 kommen sollte.
Rosa Luxemburg war eine Lichtgestalt des europäischen Sozialismus. Sie war ein Kind der optimistischen Vorkriegswelt von Frieden und Fortschritt. Rosa Luxemburg war eine polnische Jüdin, die in einem russischen Gymnasium erzogen wurde und hauptsächlich in deutscher Sprache schrieb. 1897 veröffentlichte sie ihre in Zürich fertiggestellte Dissertation, Die industrielle Entwicklung Polens. Aktiv war sie in der polnischen, deutschen und russischen Arbeiter_innenbewegung. Sie war gleichzeitig Mitglied zweier Parteien, der deutschen und der polnischen Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen begründete sie mit. Als Mitglied und Funktionärin dieser Partei gehörte sie ab 1904 dem Internationalen Sozialistischen Büro der II. Internationale und ab 1906 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an, 1898 reihte sie sich in die deutsche Sozialdemokratie ein, aus der sie 1917 ausgeschlossen wurde, sie gehörte der Leitung der Spartakusgruppe in der USPD an, nahm am Spartakusaufstand 1918/19 teil und war Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands. Eine solche parteipolitische Vielfalt hatten nur wenige Sozialistinnen ihrer Generation aufzuweisen.
Rosa Luxemburg war der Bürgerschreck der wilhelminischen Gesellschaft und verkörperte in ihrer Person die von Marx postulierte Einheit von Theorie und Praxis. Sie war häufig »links des Möglichen« (Walter Benjamin). Rosa Luxemburg strebte eine Rätedemokratie als direkte Herrschaft von unten auf der Grundlage einer kollektiven Planwirtschaft an. Intellektuelle und Arbeiter_innen sollten bei der Umgestaltung der Gesellschaft gleichberechtigt zusammenarbeiten. Die Politikerin Luxemburg verknüpfte ihre antikapitalistische und internationalistische Haltung mit einer selbstbestimmten vielfältigen Strategie des außerparlamentarischen Kampfes. Ihre Einschätzungen der ersten Russischen Revolution von 1905 markieren eine Wende in der Theoriebildung der Arbeiter_innenbewegung. Die Betonung der Aktion war ein entscheidender Beitrag Rosa Luxemburgs zum Marxismus ihrer Zeit; sie erkannte darin das einzige Mittel gegen sozialen Rheumatismus. Ihre Theorie der Aktion gründete auf der Auffassung vom Klassenbewusstsein als Produkt von Konflikten. Die Revolution war für Rosa Luxemburg immer etwas Vertrautes, Reales und gleichzeitig ein langer Prozess. Kein Übergangsstadium, kein Phasenprogramm, und auch kein quantitativ überprüfbares Inventar von Teilerfolgen und Machtzuwachs. So plädierte sie auch für eine uninstitutionalisierte permanente Revolution. Gleichfalls plädierte sie für eine Beteiligung an Wahlen und wollte das Parlament als »Tribüne des Klassenkampfs« nutzen. Sie war keine Pazifistin, aber entschiedene Kriegsgegnerin. Aufgrund ihrer Aktivitäten gegen den Ersten Weltkrieg verbrachte sie den größten Teil des Krieges in Haft: Über 1200 Tage saß sie zwischen 1915 und 1918 in deutschen Gefängnissen, weil sie sich gegen die Barbarei des Ersten Weltkriegs gestellt hatte. In dieser Zeit verfasste sie einige ihrer wichtigsten Schriften, wie beispielsweise die Juniusbroschüre. Aus der Unterstützung des Krieges durch die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie zog sie die Konsequenz, 1916 den Spartakusbund mit zu gründen.
Rosa Luxemburg starb als kritische Parteigängerin. Ihr Tod war der erste politische Mord der jungen Republik. Es gab und gibt ein großes Ringen um ihr Erbe: Die SPD der Zwanzigerjahre – mitverantwortlich für ihren Mord – sah sie als Demokratin, die mit dem Bolschewismus gebrochen hatte. Karl Korsch berief sich als linker Kritiker der SPD auf sie; Trotzki bezog sich bei der Gründung der IV. Internationale 1938 in Paris auf Rosa Luxemburg; Merleau-Ponty 1955 in seiner Kritik der stalinistischen Partei- und Staatsräson. 1968 wurden ihre Bilder durch die Straßen der Bundesrepublik, Frankreichs und der USA getragen. Die DDR begann ihre Werke herauszugeben. In Köln wurde 1968 die Universität von Student_innen in einer Spontanaktion zur »Rosa-Luxemburg-Universität« umbenannt. In der 68er Bewegung spielte sie neben Che Guevara, Mao Tse-Tung, Trotzki, Jean-Paul Sartre und Herbert Marcuse eine wichtige Rolle. In Osteuropa berief sich die Bewegung in der Auseinandersetzung mit der Parteibürokratie auf Rosa Luxemburgs demokratischen Sozialismus, der sich leider nicht durchsetzte und eine andere Wende realisiert hätte als 20 Jahre später der Neoliberalismus. Es lag nahe, dass sie 1968 international wieder eine Rolle spielte, denn sie engagierte sich zu ihrer Zeit in einer Gesellschaft, die der unsrigen sehr ähnlich war, und war, wie es ihr Biograph Peter Nettl schrieb, »die Prophetin par excellence der uninstitutionalisierten Revolution« (Nettl 1969, 15).
Im September 1973 fand in Reggio Emilia die erste internationale Tagung über Theorie und politisches Wirken Rosa Luxemburgs statt, organisiert von dem italienischen Linkssozialisten Lelio Basso und dem von ihm geleiteten Institut Instituto per lo Studio della Società Contemporanea (ISSOCO). Für Basso war der Ausgangspunkt in der damaligen Lage die fehlende Strategie der Arbeiter_innenbewegung zur Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Tagung hatte den Anspruch, zurecht zu rücken, was in den Jahren nach dem Tod von Rosa Luxemburg aus ihr gemacht wurde – die Diffamierung, Instrumentalisierung und Ignoranz ihrer Person. Aus diesem hohen Anspruch und einer Woche intensiver Diskussion heraus ist ein heute noch interessanter Band erschienen, herausgegeben von Claudio Pozzoli: Rosa Luxemburg oder die Bestimmung des Sozialismus. Er gibt einen Überblick über die Rolle Luxemburgs innerhalb der neuen Linken. Denn im Gegensatz zum ›Marxismus‹ und zum ›Leninismus‹, die als Doktrinen von Bewegungen, Parteien und Institutionen entstanden, war der ›Luxemburgismus‹ ein Feindbild. Obwohl es historisch den Anschein hat, als habe es nur eine Wahl zwischen Bolschewismus und Sozialdemokratie gegeben, stellten Luxemburgs theoretische Ansätze durchaus eine dritte Alternative dar, so das Fazit der Tagung.
In den 80er Jahren wurde Rosa Luxemburg im Westen wieder aktuell, aber nicht als marxistische Theoretikerin, sondern als Vorbild einer neuen Weiblichkeit, die sie so nie verkörpert hatte. Dazu hatte nicht zuletzt Margarethe von Trottas Luxemburg-Film beigetragen. An ihr wurde entdeckt, was Männer Frauen als weiblich zuschreiben: Liebe zur Natur, Emotionalität, Altruismus.
Luxemburgs politischer Einfluss blieb begrenzt, ihr Leben aber verdient eine genaue Betrachtung, weil es exemplarischen Charakter besitzt. »Luxemburg hat Sozialismus als solidarisch-emanzipatorische Bewegung in der Einheit von Änderung der Welt und Selbstveränderung in einer Weise gelebt, die beispielhaft bleibt.« (Brie 2019, 15) Es liegen sieben veröffentlichte Bände ihrer Werke vor, die übersetzten polnischen Schriften und sechs Briefbände, sowie eine Reihe von Biographien, von denen ich die von Peter Nettl bevorzuge. Das 2019 erschienene Bändchen Rosa Luxemburg neu entdecken von Michael Brie bietet einen gut geschriebenen gründlichen Überblick.
Hier und heute können wir Rosa Luxemburg wieder als selbstständige Denkerin im Kontext ihrer Zeit betrachten, um herauszufiltern, ob sie eine rein historische Gestalt ist oder uns noch etwas zu sagen hat. Angesichts einer wachsenden rechtsradikalen Bedrohung, einer gespaltenen Linken und viel gesellschaftlicher Ohnmacht könnte Luxemburgs Wirken und Gedankengut einen Gebrauchswert für aktuelle linke Auseinandersetzungen bieten. Sie strebte nach der Verbindung von alltäglichen Kämpfen mit einer sozialistischen Umwälzung des Ganzen. Wie auch wir wollte sie politische Handlungsfähigkeit in finsteren Zeiten herstellen.
Internationalismus, Imperialismus, Krieg
Aktuell bleibt vor allem Luxemburgs prononcierter Antinationalismus. Sie hat sich kontinuierlich gegen die Kapitulation der Arbeiter_innenbewegung vor dem Nationalismus gewehrt. Den Kern jedes Nationalismus sah sie im potenziellen Hass auf alle anderen Nationen. Für Luxemburg waren Nationalismus und Krieg eng verbunden. Sie selbst war häufig antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Bereits 1881 erlebte sie einen dreitägigen Pogrom gegen die jüdischen Einwohner_innen Warschaus. Sie wurde als »vaterlandslose Kosmopolitin« oder als »Blutrünstige« beschimpft. In der deutschen Sozialdemokratie – auf dem Lübecker Parteitag 1901 – bezeichnete man sie als undankbaren Gast, die wie »die russischen und polnischen Juden auf Grund ihres fehlenden Taktgefühls die deutsche Gastfreundschaft missbraucht«. Sie schätzte den Antisemitismus als soziale Konstante ein. Ihr Antizionismus war kohärent, weil sie wie der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund den Zionismus als Nationalismus ablehnte. Die jüdische Existenz in der Diaspora führte Rosa Luxemburg zufolge dazu, dass viele Jüd_innen in der »großen Flut der Weltrevolution« aufgehen. Claudio Pozzoli schrieb: »Zweimal wurde sie ermordet. Und zweimal war es Doppelmord: Konterrevolution und Sozialdemokratie zuerst, Stalinismus später.« (Pozzoli 1974, 13) Sie wurde nicht nur physisch liquidiert, ihre Ideen und Schriften wurden verdrängt. Für viele Linkskommunist_innen dagegen stand das Wirken und Werk Rosa Luxemburgs für die Kontinuität des Marxismus.
Der heute wieder zu oft gebrauchte Begriff der Heimat war für Rosa Luxemburg immer das Netz zwischenmenschlicher politischer Beziehungen, das sie bei ihren ersten illegalen Aktivitäten in Warschau knüpfte und mit dem sie 30 Jahre verbunden blieb, dazu gehörten Adolf Warski, Julian Marchlewski, Leo Jogiches und viele andere. Mit diesen Gleichgesinnten sprengte sie häufig den orthodoxen Marxismus. Gegen den polnischen Nationalismus einiger Genoss_innen setzte sie die Position, dass lokale Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie genügen würden, um jede Form der Diskriminierung zu beenden. Dies war im Prinzip die Position des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes. Luxemburg zufolge ist der Weg über den Nationalstaat ein Umweg, wenn sich in einem großen Flächenstaat der Kapitalismus bereits ausgebreitet hat. In der Nationalitätenfrage des Russisches Reiches war es Luxemburg, die die Kolonialeroberung in Beziehung zum Nationalismus setzte.
Am Ende des 19. Jahrhunderts besteht eine Hauptsorge des marxistischen Denkens darin, das Auseinanderfallen der Bewegung in nationale Richtungen zu verhindern und ihre Verbindungen als Schutz gegen Nationalismus enger zu knüpfen. Nach 1870 kehrte eine Epoche relativer Ruhe im kapitalistischen Weltsystem ein, die 1900 an ihr Ende gelangte, durch Klassenkampf in den Metropolen und Aufstände an den Rändern, wie in China, Russland und Mexiko. Gemeinsam mit Lenin und anderen radikalen Linken der Sozialistischen Internationale forderte Rosa Luxemburg nach 1900, dass die Sozialdemokratie von der Weltpolitik Kenntnis nehmen soll, und dass aufgrund des ständigen Kriegszustandes in einigen Ländern, eine neue Strategie und Taktik von Nöten ist. In Zentralisierung und Konzentration sah Rosa Luxemburg keine Vorformen des Sozialismus, sondern eine Zerstörung der kolonialen oder halbkolonialen Ökonomien. Sie untersuchte die Bedrohungen der gesamten Zivilisation, die als ganze wie auch ihre schwächsten Glieder der Kapitalakkumulation ausgesetzt ist. Für Rosa Luxemburg war der Kapitalismus »ein Ding der Unmöglichkeit«, ohne bewusste Organisation, »der sich trotzdem zu einem Ganzen fügt und existieren kann« (GW 5, 770). Die Ursache von Krisen sah sie in den Grenzen der kapitalistischen Akkumulation selbst, auf die militaristisch und autoritär reagiert werde. Sie war eine der ersten Marxist_innen, die von der Peripherie auf das Zentrum des Weltkapitalismus blicken. Ihre Hauptthese in der Akkumulation des Kapitals war, »dass die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärts schreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet« (GW 5, 315). So war Kapitalakkumulation für Luxemburg die Verbindung von Ausbeutung in der Form von Lohnarbeit und Ausbeutung als Zerstörung nichtkapitalistischer Zivilisationen. Ihre Sympathie lag bei der »agrarkommunistischen Wirtschaftsorganisation«, der Produktion für die unmittelbaren Bedürfnisse und der direkten Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten. So formulierte es Michael Löwy: »Die vorkapitalistischen Gesellschaften waren für Luxemburg ein wertvoller historischer Orientierungspunkt, der es ermöglicht, den Kapitalismus zu kritisieren« und auf Merkmale einer postkapitalistischen Zivilisation hinzuweisen (Löwy 1989, 141). Sie betonte immer wieder, dass es keinen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus geben wird, sondern dass es einer Gegenbewegung bedarf, um die selbstzerstörerische Tendenz zu neutralisieren, die dem »Hunger nach Mehrwert« des Kapitals innewohnt. 20 Jahre später wird der peruanische Marxist José Carlos Mariátegui eine ähnliche Auffassung vertreten: Der moderne Sozialismus muss sich auf die einheimischen Traditionen stützen, die auf den Kommunismus der Inka zurückgehen, um die Bäuer_innen zu gewinnen. Die Zapatistas haben ein ähnliches Konzept entwickelt, das mit Rosa Luxemburg und Mariátegui begründet werden kann. So sah Luxemburg auch in der französischen Kolonisation Algeriens einen systematischen und absichtlichen Versuch der Zerstörung und Entwendung von Gemeineigentum, der im ökonomischen Ruin der einheimischen Bevölkerung ende (GW 5, 327ff). Doch nicht nur einzelne Beispiele, sondern die Gesamtheit des spanischen, portugiesischen, holländischen, englischen oder deutschen Kolonialsystems in Lateinamerika, Afrika oder Asien wird von ihr angeklagt. Sie steht eindeutig auf der Seite der Opfer des kapitalistischen Fortschritts. Ihr Interesse an der sozialen Lage der kolonisierten Bevölkerungen beweist ihre Modernität, erst recht, wenn man ihre Werke mit denen Kautskys vergleicht, in denen die Nichteuropäer_innen so gut wie nicht vorkommen. Aus dieser Analyse entspringt Luxemburgs Solidarität mit dem Kampf der Einheimischen gegen die imperialistischen Metropolen, einen Kampf, in dem sie den Widerstand der alten kommunistischen Traditionen gegen die Profitgier erkennt. Die Akkumulationstheorie nahm mit Rosa Luxemburg eine imperialismus- und reproduktionsorientierte Wendung. Während Marx einen realen Kapitalismus als Realabstraktion voraussetzte, konstruierte Luxemburg das Verhältnis von kapitalistischer Produktionsweise und nichtkapitalistischen Produktionsweisen als konstitutiv für die Kapitalakkumulation. Damit erweiterte sie den Marxschen Akkumulationszusammenhang. Anders formuliert: Wie Marx konstruierte Luxemburg ein abstraktes Modell, jedoch mit dem Unterschied, dass für Marx der Kapitalismus sich selbst genügt, während er für Luxemburg zum Überleben ein nicht-kapitalistisches Milieu benötigt. Ihr Ansatz ist von Marx’ Hymne auf die Bourgeoisie von 1848 sehr weit entfernt; trifft sich aber mit ihm in Bezug auf das 24. Kapitel im Kapital (MEW 23, 777–788), in dem Marx die »Barbareien« und die »Greuel« der europäischen Kolonisation beschreibt. Zudem idealisierte sie nicht die historischen Gemeinwesen und stand der russischen Dorfgemeinde kritischer gegenüber als Marx. Auch, um sich von den russischen Volkstümlern abzugrenzen, orientiert sie sich auf die sozialistische Weltwirtschaft der Zukunft, die sich von »den primitiven kommunistischen Gruppen der Urzeit« unterscheiden wird. Rosa Luxemburg hat eine sehr gegenwärtige Auffassung von Vergangenheit und Gegenwart, von gesellschaftlicher Historizität, von Fortschritt und Moderne. Indem sie die industriell kapitalistische Zivilisation mit der kommunistischen Vergangenheit konfrontiert, bricht sie mit dem linearen Evolutionismus und dem positivistischen Fortschrittsglauben von Sozialdemokratie und Stalinismus.
Aktuell dabei bleibt, dass, wie Rosa Luxemburg klargestellt hat, die Kapitalakkumulation nicht nur von den zeitlichen Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften abhängt, sondern vor allem von der räumlichen Durchdringung und Zerstörung der nichtkapitalistischen Welt durch den Kapitalismus. Ihrer Ansicht nach hat die Ignoranz gegenüber diesem Widerspruch kapitalistischer Akkumulation zwangsläufig zu dem »elenden Fiasko« der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg geführt. Das Kapital expandiere in seiner imperialistischen Gestalt und zerstöre nach außen wie nach innen genau jene Kaufkraft, die es zur Realisierung des Mehrwerts benötigt.
Neben ihrer antinationalistischen Haltung ist ihr Engagement gegen koloniale Unterdrückung von anhaltender Relevanz. Von Anbeginn ihrer Tätigkeit in Berlin bäumte sie sich gegen die imperialistische Eroberungspolitik der europäischen Großmächte, gegen Militarismus und Krieg auf. Wie Lenin erkannte sie, dass sich die Arbeiter_innenbewegung in der kaiserlich-deutschen Gesellschaft einrichtete, dass die Aktion nur ihr letztes Mittel blieb und die SPD dabei illegale Mittel ausschloss. Rosa Luxemburg dagegen ist überzeugt, dass Gewalt »sowohl in einzelnen Episoden des Klassenkampfes wie zur endgültigen Eroberung der Staatsgewalt« (GW 1.2, 247) unerlässlich ist. Anhand des belgischen Generalstreiks von 1902 wurde ihr klar, dass eine erfolgreiche Massenaktion nicht zwingend einen hohen Organisationsgrad und finanzielle Mittel benötigt. Entscheidend aber war für sie die Russische Revolution von 1905, die erste revolutionäre Explosion größeren Ausmaßes in Europa nach der Pariser Commune von 1870. Mit ihr begann für Rosa Luxemburg »eine neue Epoche«. Die Hierarchie zwischen den Parteien und Bewegungen verschob sich und Luxemburg begriff, dass Russland zum Vorbild werden könnte, gerade wegen der verspäteten bürgerlichen Revolution. Die Russische Revolution von 1905 wurde durch den imperialistischen Krieg zwischen Russland und Japan ausgelöst. Es fand darin eine Überschneidung von Imperialismus, Krieg, Konsolidierung in den kapitalistischen Zentren, und Kolonialisierung der Peripherie statt, die Verknüpfung von nationaler und sozialer Frage, von Arbeiter_innenbewegung und Bauernaufständen, Reaktion und Antisemitismus. Die Tatsache, dass der Generalstreik zur »Eröffnungsschlacht« in der Russischen Revolution wurde, brachte Luxemburg zu ihren Überlegungen zum Massenstreik und zu der Überzeugung, dass Organisationen vor allem im Kampf geboren werden. Im Auftrag der SPD schrieb sie ihre berühmte Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Für Karl Radek repräsentierte diese Broschüre eine neue Phase des Sozialismus, die »Absonderung der kommunistischen Bewegung von der Sozialdemokratie«. Als führendes Mitglied zweier sozialdemokratischer Parteien, der polnischen und der deutschen Partei, stellte sie zwei widersprüchliche Tendenzen in der internationalen Sozialdemokratie fest: einerseits ein Versinken in einer konservativen, bürokratischen Routine in Deutschland; auf der anderen Seite das Aufsteigen neuer Kampfformen und Kampfmethoden im Zarenreich. So zog sie wie Trotzki die gleiche damals kühne Schlussfolgerung, dass es nicht notwendigerweise das »fortgeschrittenere« Land war, in dem sich ein Abbild der Zukunft zeigte, sondern vielleicht das »zurückgebliebene« Russland oder Polen, die den westlichen Ländern eine neue Anpassung ihrer Taktik aufzwingen würden:
»Die Hauptsache aber ist, sich darüber klar und bewusst zu werden, dass von der gegenwärtigen Revolution im Zarenreiche eine gewaltige Beschleunigung des internationalen Klassenkampfes ausgehen wird, die uns in gar nicht langer Frist auch in den Ländern des alten Europas in revolutionäre Situationen und vor neue taktische Aufgaben stellen wird.« (GW 2, 537–540)
So hat Rosa Luxemburg als Erste nach der Russischen Revolution von 1905 eine sozialistische Strategie entworfen, die sich auf eine mögliche Revolution im Westen bezieht. Luxemburg stellte den politischen Kampf nicht dem ökonomischen gegenüber. Die drei Massenstreiks in Russland waren auch keine ökonomischen Streiks und jeder trug bereits die nächste Entwicklungsstufe in sich. So schlug der Massenstreik in einen offenen Aufstand um, einen bewaffneten Straßenkampf in Moskau. In dieser Zeit kam Luxemburg zu dem Schluss, dass eine gute Organisation aus der Aktion entsteht: »Die steife, mechanisch-bürokratische Auffassung will den Kampf nur als Produkt der Organisation auf einer gewissen Höhe ihrer Stärke gelten lassen. Die lebendige dialektische Entwicklung lässt umgekehrt die Organisation als ein Produkt des Kampfes entstehen.« (Luxemburg 1970, 194) Die Erkenntnis, die Rosa Luxemburg aus der Russischen Revolution von 1905 zog, war, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr die überlegene ist, sondern am Rande steht.
1913 sah Rosa Luxemburg voraus, dass die Politik der SPD im Parlament dazu führen muss, bei Ausbruch des Krieges auch dessen Finanzierung zuzustimmen. Mit der Zustimmung zum Ersten Weltkrieg brach für Rosa Luxemburg nicht nur die SPD, sondern der Sozialismus in Deutschland zusammen:
»Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte wie die deutsche Sozialdemokratie. An ihr, gerade weil sie der bestorganisierte, bestdisziplinierte, geschulteste Vortrupp der Internationale war, lässt sich der heutige Zusammenbruch des Sozialismus am klassischsten nachweisen.« (GW 4, 21)
Als die Reichstagsfraktion am 14.1.1914 den Massenstreik diskutiert, eine offene Propagierung ablehnt und an eine Kommission zur Prüfung weiterleitet, war klar, dass die SPD den Widerstand gegen das Kaiserreich schon weit vor dem August 1914 aufgegeben hatte.
Luxemburgs Überlegungen zum Imperialismus hatten sich aus der Massenstreikdebatte ergeben. Mit Hilferding und Lenin sah sie im Imperialismus eine einzigartige Gesellschaft. Für Lenin wurde der sozialdemokratische Verrat selbst ein Aspekt des Imperialismus, denn der Unterschied zum gewöhnlichen Kapitalismus bestand in der Bestechung einer Arbeiter_innenaristokratie. Nach Lenins Definition musste sich das Proletariat im Imperialismus Bündnispartner_innen außerhalb der eigenen Klasse suchen, wie die Bauernschaft oder unterdrückte Kolonialbevölkerungen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab den Anstoß für eine Erweiterung der Theorie des Imperialismus. In diesem Sinne waren Luxemburg und Lenin Pioniere. Rosa Luxemburg erkannte den Imperialismus bereits 1900 an der Zaghaftigkeit, mit der die SPD die deutsche Teilnahme am Chinakrieg hinnahm. Eine weitere Entwicklung zeigte sich für sie in der Marokko-Krise 1911, zu der die SPD sich nicht verhielt. Sie beschrieb sehr früh, dass der Militarismus mit der Kolonial-, Zoll- und Weltpolitik aufs engste verknüpft war. Luxemburg zufolge unterschied sich der Imperialismus vom bisherigen Kapitalismus nicht dem Wesen, sondern der Wirkung nach, auch in der Wirkung auf die Sozialdemokratie. Imperialismus bedeutete eine Stärkung der Wirtschaftsmacht und eine Aufrüstung des Militärs. Rosa Luxemburgs Theorien waren keine akademischen Produkte, sie entwickelten sich Stück für Stück in der politischen Auseinandersetzung. Das Ziel ihrer Imperialismusanalyse war eine Formulierung sozialistischer Politik zur kolonialen Frage. Im Zentrum stand dabei allerdings nicht, wie die kolonialen Bevölkerungen sich befreien sollen, sondern wie der Imperialismus im eigenen Land zu bekämpfen ist.
Demokratie zwischen Reform und Revolution
Luxemburgs Konzeption der »revolutionären Realpolitik« basierte auf Aufklärung und Information, unterschied sich aber von einer sozialistischen Politik in einer befreiten Gesellschaft. Es ging ihr um kollektive Lernprozesse der Lohnabhängigen innerhalb des Kapitalismus. Direkte und sozialistische Demokratie war für sie die Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung. Im Unterschied zu den meisten ihrer Zeitgenossen war es ihr Anspruch, Revolution und Demokratie dauerhaft miteinander zu verbinden.
Der Historiker Hermann Weber bezeichnete sie als »demokratische Kommunistin«. In der Tat war Rosa Luxemburg zu jeder Zeit ein Star der antistalinistischen sozialistischen Linken. Denn ihre Biografie stand gegen die Bürokratisierung der Arbeiter_innenbewegung. Gerade weil Rosa Luxemburg für eine Strömung stand, die durch die Stalinisierung des Kommunismus weitgehend ausgerottet wurde, war sie für sozialistische Linke in Osteuropa besonders interessant. Diese osteuropäische Linke hat 1968 und 1989 verloren: einmal gegen den noch starken Poststalinismus und das andere Mal gegen den Kapitalismus. Ihre Attraktivität in diesen Zeiten liegt an einer ungewöhnlichen Offenheit und Breite, die den aktuellen sozialen Bewegungen entsprachen. Politik war für sie widerständige Teilhabe an befreiender solidarischer Praxis. Ihr Freiheitsbegriff ist mit dem Liberalismus und seinem Demokratieverständnis unvereinbar. Denn für den Liberalismus gehören Gleichheit und Gerechtigkeit nicht zusammen. Für Luxemburg konnten nur beide zusammen die Grundlage wahrer Demokratie bilden. Ihr Freiheitsbegriff gründet in Solidarität und zielt auf Gleichheit der Verschiedenen. Ihr ganzes Leben war sie eine Suchende nach radikaler Transformationspolitik.
Luxemburgs Verdienst ist es auch, dass sie die Demokratie wieder zum grundlegenden Bestandteil sozialistischer Politik gemacht hat: einer Politik, die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Gleichheit der Bevölkerungen zielt, gepaart mit einer umfassenden Demokratisierung, die nicht nur auf demokratischen Rechten, sondern auch auf sozialer Gleichheit beruht. Sie war eine Vertreterin der Diktatur des Proletariats, sah aber in der Unterdrückung Andersdenkender und im Terror die Todfeinde des Sozialismus. Unter Terror fasste sie den Mord oder die Verfolgung von Wehrlosen als politische Abschreckung. Nie sollte die reale Schwäche einer Bewegung, eines sozialistischen Staates durch Brutalität kompensiert werden. Ihre solidarische Kritik an den Bolschewiki war eine Kritik vom Standpunkt einer Bewegung aus, die ihre Kraft einzig aus der Handlungsmacht der Unterdrückten beziehen soll. Für Rosa Luxemburg war klar, dass nur die revolutionäre Tat sicherstellen kann, dass die Reaktionäre nach der Revolution das Rad der Geschichte nicht auf die vorrevolutionäre Zeit zurückdrehen. Sie war eben keine Gegnerin der Diktatur des Proletariats, nur hatte diese für sie eine einzige Funktion: die Abfederung des Rückschlags (Schütrumpf 2018, 77). So formulierte sie auch für die Zeit nach der Revolution: »Bei jedem Schritt daran denken, dass Revolution keine Zeit ist, um mit der Reaktion zu diskutieren, sondern eine Zeit, um sie zu erdrücken und ... niederzuwerfen.« Das hört sich nicht nach Liberalismus an. Ihre Warnung vor der autoritären Wende der Russischen Revolution wurde häufig bejubelt, während ihre Anklage gegen das imperialistische Schlachten und ihr Eintreten für eine Räterepublik in Deutschland ihre keine Blumen und Lob einbrachte, sondern die feige Ermordung durch eine rechtsradikale Soldateska. Karl Radek hat den pathetischen Satz formuliert: »Der blutige zerfetzte Leichnam Rosa Luxemburgs ist die Fahne des deutschen Kommunismus«.
Ihr Drang, den Marxismus immer auf der Höhe der Zeit weiterzuentwickeln und ihn frei von Dogmen zu betrachten, ist aktueller denn je.
Organisation
Mehr als ein Jahrzehnt hatte sich die europäische Linke auf Kongressen und in Aufrufen auf diese Stunde des Weltkrieges vorbereitet und war im entscheidenden Moment unfähig, zu reagieren. Die SPD hatte bereits 1913 für die Heeresvermehrung gestimmt. Für Luxemburg war das Schlimmste, dass die SPD als eigener politischer Machtfaktor ausgeschaltet war, dazu kamen die moralische Niederlage und der Verrat. Im Gegensatz zu Lenin, der nur kurz brauchte, um in der Katastrophe eine Chance zu erblicken, sah Luxemburg nur den Rückschritt, das Morden, die Barbarei. Lenin begann Strategien zu entwickeln für den Fall, dass Russland eine Niederlage erleidet. Luxemburg sah im Krieg nur ein schreckliches Unheil. Sie wollte die Revolution nicht als seine Nutznießerin betrachten.
Erstaunlich war, dass Rosa Luxemburg im Herbst 1914 nicht aus der SPD austrat. Sie wollte bei der Mehrheit bleiben, um sie zu verändern. Doch können wir heute feststellen, dass der Verzicht auf eine strategisch-instrumentelle Reflexion von Handlungsmacht und die bis 1918 währende Ablehnung der Gründung einer eigenen Organisation sich in der Novemberrevolution als fatal erwies. Es gelang den Spartakisten nicht, in den Räten als eigene organisatorische Kraft gegenüber SPD und USPD gesehen zu werden. Die Organisation von Minderheiten kann durchaus zu einer Selbstorganisation breiterer Bevölkerungsgruppen führen, aber 1918 entsprach die Radikalisierung des Spartakusbundes nicht einer Radikalisierung der kriegsmüden Menschen. Gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung in Russland fürchteten viele, dass eine Revolution zu neuem Blutvergießen, Chaos und Unsicherheit führen würde. Luxemburgs am 14. Dezember in der Roten Fahne erschienener Artikel Was will der Spartakusbund? gilt als ihr politisches Vermächtnis: Die Radikalität ihres Denkens wirft ihre ganze Kraft auf eine Hoffnung auf die Zukunft und eine Einheit der Arbeiter_innenbewegung. Im Herbst 1918 gingen viele Sozialist_innen davon aus, dass das Ende des vierjährigen Weltkrieges auch das Ende des Kapitalismus bedeuten würde und wenn dies nicht der Fall sein sollte, er zwangsläufig in Barbarei münde, was er mit dem Nationalsozialismus ja auch tat. Nach dem Kalten Krieg und dem schwierigen Wiederanfang einer Linken könnte auch heute der Sozialismus wieder zu einer Gegenwartsfrage werden. Rosa Luxemburg erläuterte nie genau, wie wir zu einer befreiten Gesellschaft kommen. Sie appellierte eher an die Bewegung, sich dieser Aufgabe zu stellen.
Die Neugründung einer Organisation geschah von Luxemburgs Seite aus nicht aus voller Überzeugung. Die Januarkämpfe zogen sie und die KPD mit, sie sind nicht aus ihrer Initiative entstanden. Aber wenn die Massen engagiert waren, konnten Luxemburg und KPD nicht zurückstehen, obwohl die Haltung Karl Radeks – des Emissärs der Bolschewiki – der sofortige Rückzug war: die KPD müsse den revolutionären Obleuten die Einstellung des Kampfes vorschlagen. Aber mit der Ebert-Scheidemann-Regierung ließ sich auch nicht mehr verhandeln, sie verlangte die vollständige Akzeptanz ihrer Bedingungen. Die Regierung rückte ihre Truppen aus und richtete sich unterschiedslos gegen alle Aufstandsteilnehmer_innen, die sie als »Spartakisten« bezeichnete. In der Öffentlichkeit galten die Spartakisten als Hauptverantwortlichen für den Aufstand. Die revolutionären Obleute waren weitgehend anonym geblieben. Der Aufstand vom Januar 1919 war kein Entschluss der KPD-Führung. Rosa Luxemburg und Liebknecht folgten der Mehrheit in ihrer Partei, waren aber skeptisch, dass er zum Sieg führen würde. Die totale Niederlage führte zu einem Macht- und Legitimationsverlust der revolutionären Obleute, den treibenden Akteur_innen der Bewegung und auch der KPD. Die darauf folgende Terrorwelle ist bekannt. Der Spartakusbund war nicht zu schnellen taktischen Umorientierungen bereit, wie die Bolschewiki es waren, und wurde gewissermaßen Opfer seiner eigenen Standfestigkeit. Auch waren die Räte nicht wie in Russland mehrheitlich für Spartakus, sondern eher für die USPD und die SPD, und nicht für eine Machtübernahme, sondern für eine Nationalversammlung. Am Ende ihres Lebens schrieb Rosa Luxemburg im Schlussteil des Programms des Spartakusbundes von einem »zähen, unermüdlichen Kampf« für den Sozialismus, der lange Zeit in Anspruch nehmen werde. Peter Nettl bezeichnet das Programm als das Testament Luxemburgs »und die bündige Zusammenfassung ihres Lebenswerks« (Nettl 1969, 522). Mit den Januarkämpfen hatte die deutsche Revolution ihren Höhepunkt überschritten. Danach setzte die Reaktion ein. Ein neuer Aufschwung war nicht in Sicht.
Rosa Luxemburgs Kritik an der deutschen Sozialdemokratie zielte auf die Trennung von Minimalforderungen vom sozialistischen Ziel. Dem entgegnete sie, dass der Sozialismus »eines und dasselbe« sei und »das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben« (GW 4, 496). Die II. Internationale und ihre Orthodoxie propagierten das Nebeneinander von Theorie und Praxis, Reform und Revolution, Masse, Partei und Führung; hier und jetzt, Demokratie und Diktatur. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird aus dem Nebeneinander ein tödliches Gegeneinander.
Für Rosa Luxemburg war Organisation »die Form der Vermittlung zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein«. Mit der von der SPD in Auftrag gegebenen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften hat sich Rosa Luxemburg Vorwürfe gegen ihren Spontanitätsbegriff eingehandelt. Dabei ist ihr Konzept weder als Verzicht auf Organisation noch auf Leitung zu verstehen, sondern reflektiert 40 Jahre Erfahrung der Arbeiter_innenorganisationen. Luxemburg suchte nach Auswegen aus der sich abzeichnenden Unterordnung der Bewegungen unter die von ihr selbst geschaffenen Organisationen. Ihr roter Faden war die Gründungsaussage der Ersten Internationale: »dass die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss« (MEW 16, 14). Die Quelle der historischen Erneuerung waren für Rosa Luxemburg immer die sozialen Bewegungen. Aktuell ist sie unbedingt in Organisationsfragen – kein Verzicht auf Organisation, aber größtmögliche Offenheit derselben–, denn heute ist die Vervielfältigung revolutionärer Organisationsformen und Organisationsansätze derart weit fortgeschritten, dass sie jeden Monopolanspruch eines einzelnen Partei- oder Organisationstypus ad absurdum führt.
Aktuell bleibt Rosa Luxemburgs Politikverständnis auch darin, dass sie ab 1905 keine Trennlinie mehr zog zwischen den Kämpfen der organisierten Arbeiter_innenbewegung und den breiteren Schichten des Proletariats, wie zum Beispiel des verpönten ›Lumpenproletariats‹. Sie schloss darin auch die lange als reaktionär betrachteten Bäuer_innen ein und betonte den Zusammenhang zwischen Zentrum und Peripherie.
Ihr Ziel – der Sozialismus – war nicht nur, wie damals in vielen Augen, ein Industriesystem in den Händen der Arbeiter_innen, sondern der Beginn einer neuen Zivilisation, die auch die vorkapitalistischen Zivilisationen einschloss: »Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbststimmung lenkt.« (GW 4, 444)
Rosa Luxemburg sah sich immer als revolutionäre Sozialdemokratin, was heute seltsam anmutet. Als sie sich mit Parvus am vehementesten im Namen der SPD gegen Bernstein wandte, sah sie ihr Verständnis der Sozialdemokratie bedroht.
Rosa Luxemburgs Kritik an Bernstein, Sozialreform oder Revolution, war eine Propagandaschrift sondergleichen, die viele Menschen vom Marxismus überzeugte. Luxemburg ging es dabei um die Klassenfrage, wie Trotzki hielt sie nach 1848 ein Bündnis mit dem Bürgertum für Verrat an der Klassenposition. Die SPD stellte damals eine Partei in totaler Opposition zur Gesellschaft dar, sie war eine Art Parallelgesellschaft. Nettl schreibt davon, dass die SPD um 1900 ein Staat im Staate darstellte, der gegen den Revisionismus seine Stellung verteidigte. Die Revisionist_innen um Bernstein wollten teilhaben an dieser Gesellschaft und wollten Frieden mit den bürgerlichen Gegner_innen schließen. Der SPD-Vorstand war damals genauso wenig an der Revolution interessiert wie die Revisionist_innen, verteidigte aber den Status Quo. Der Vorstand benötigte eine Trennung von Theorie und Praxis.
Im Prinzip verlangte Bernstein, dass die SPD ihren Charakter als Klassenkampfpartei aufgibt, was sie später ja auch tat. Die politische Macht spielte für Bernstein keine Rolle, es ging ihm um steigernden Einfluss der SPD durch Reformen. August Bebel ging davon aus, dass die Macht der SPD in die Hände fallen würde, weil die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Untergang zustrebe. Bernstein wollte das revolutionäre Handeln der SPD einstellen, sie solle kein »Gewalthaufen« mehr sein, sondern eine Reformkraft. Die Sozialisierung der Produktion solle nach und nach erfolgen, durch Kontrolle des Staates über die Wirtschaft und den wachsenden Einfluss der Arbeiter_innenbewegung. Bernstein strebte einen »organisatorischen Liberalismus« an und kippte in der Kolonialfrage ins Reaktionäre. Er verteidigte die »zivilisierten Formen« der kolonialen Unterwerfung und ging von einer höheren und einer niederen Kultur aus. Rosa Luxemburg hatte eine grundlegend andere Haltung. Zum einen kann der Sozialismus nur durch »Ergreifung der Staatsgewalt« erreicht werden. Dann breche der Kapitalismus nicht von selbst zusammen, sondern benötigt Subjekte, die ihn dazu bringen. Auch Bernsteins Zusammenbruchtheorie brach 1914 in sich zusammen.
In Bezug auf die Kontroverse zwischen Lenin und Luxemburg zur Russischen Revolution neigt sich die Waage in der Linken heutzutage eher auf die Seite Luxemburgs, nicht nur aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihres Mutes, ihres tragischen Todes, sondern auch aufgrund ihrer Ideen. Ihre Kritik am Leninismus äußerte sich darin, dass ihrer Ansicht nach »Organisation, Aufklärung und Kampf [...] hier nicht getrennte, mechanisch und auch zeitlich gesonderte Momente [sind], wie bei einer blanquistischen Bewegung, sondern nur verschiedene Seiten desselben Prozesses.« Revolutionen leisten ihr zufolge, »unbekümmert um das Räsonieren ihrer unberufenen Schulmeister, eine ebenso unvermeidliche wie in ihren Folgen unberechenbare Riesenarbeit«. Sie weigerte sich, die postrevolutionäre Zeit auszudefinieren: »Das Negative, den Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend Probleme.« Dieser ganze Spontaneismus ist uns näher als die leninistische Strenge. Aber wie es die traurige Geschichte der Spartakist_innen zeigt, hat Lenin recht damit gehabt, die bolschewistische Partei dazu zu bringen, jede Zusammenarbeit mit den Moderaten, den Versöhnler_innen, den Opportunist_innen abzulehnen. Auf dieser Linie bestand er selbst dann, als die Mehrheit seiner Partei bereit war, »ein großes Bündnis« im Stil der Volksfront-Politik einzugehen, die die Komintern auf Gedeih und Verderb zehn Jahre nach dem Tod Lenins durchsetzte.
Hundert Jahre später bleibt diese berühmte Debatte aktuell. Der Streit zwischen konspirativer Logik und der Logik der Bewegung, zwischen Organisation und Spontaneität, zwischen strategischer Vertikalität und Horizontalität hat nie aufgehört. Jede revolutionäre Bewegung bewegt sich innerhalb dieser Spannung zwischen den beiden einander entgegen gesetzten Notwendigkeiten. Um sie auszuhalten, bedarf es alter Gemeinsamkeiten, einer gemeinsamen Analyse der Konjunktur und vor allem der kollektiven Atmosphäre, in der Bewegungen heranreifen. Aus dem Mangel eines solchen Kontextes lassen sich zweifellos die Orientierungslosigkeit und dann die Konterrevolution erklären, die dem Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten während des Arabischen Frühlings folgten. Demgegenüber ist es beeindruckend, wie es den Zapatistas gelang, die militärische Vertikalität der klandestinen EZLN und die horizontale Selbstorganisation der indigenen Gemeinschaften zusammenzuhalten. Zehn Jahre lang (1984–1994) haben sie einen bewaffneten Aufstand vorbereitet, ohne dass es der Staat mitbekommen hatte und ohne dabei eine von der Bevölkerung abgeschnittene Guerilla zu bilden. Und der Aufstand ging schließlich nicht von einer bewaffneten Gruppe aus, sondern von einer aufständischen Bevölkerung. Die Zapatistas haben einen Ausweg gefunden, der Rosa Luxemburg gefallen hätte.
Fazit
Luxemburg war keine Objektivistin der Revolution; die Revolution entsteht für sie nicht aus objektiven Verhältnissen, sondern durch den Klassenkampf, der in seinem Lauf auch Niederlagen einstecken muss. Gleichwohl ging sie davon aus, dass die Revolution, wenn auch nicht zu ihren Lebzeiten, gewinnen wird: »Die Revolutionen haben uns bis jetzt lauter Niederlagen gebracht, aber diese unvermeidlichen Niederlagen häufen gerade Bürgschaft für Bürgschaft des künftigen Endsieges ...« (GW 2, 206–209). Rosa Luxemburg starb mit 48 Jahren und vielen offenen Fragen, nach revolutionärer Realpolitik, der Überwindung von Kapitalismus und Kolonialismus, Rassismus und Krieg. Wesentlich war ihre Grundauffassung, dass der Kapitalismus nicht in der Lage sein wird, die wichtigsten Menschheitsprobleme gerecht und dauerhaft zu lösen. 1918 notierte sie als weltweit ungelöst die Nationalitätenfrage, das Schicksal der Kolonien, die Perspektiven der Demokratie und die Sicherung des Friedens. Dass, wenn sie überlebt hätte, die revolutionäre Flamme wieder hätte entfacht werden können, ist eher unwahrscheinlich. Den Aufständen im März 1921 und dem Hamburger Aufstand 1923 hätte sie sicher noch skeptischer gegenübergestanden als dem Januaraufstand.
Ihr Revolutionskonzept 1918/19 hatte keine Chance, weil sie den blockierenden Einfluss der bürokratischen Organisationen unterschätzte. Doch sind ihre Ideen heute wenigstens so aktuell wie 1968. Zahllose Dissident_innen des institutionalisierten Marxismus fanden in Luxemburgs Werk und Wirken Trost und eine Alternative. Mit der Auflösung des Realsozialismus hat der Kommunismus aufgehört, ein starres Gebilde zu sein, und ist neu zu definieren. Dabei kann Rosa Luxemburg Anregungen geben.
Vielleicht ist die historische Figur der Rosa Luxemburg kein Versprechen auf die Zukunft. Aber sie ist in jedem Falle die Erinnerung daran, dass die Welt veränderbar ist. Und es sind die aktuellen Auseinandersetzungen, die über die Gültigkeit von Theorien entscheiden.
Literatur
Brie, Michael (2019): Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu »Freiheit für den Feind! Demokratie und Sozialismus«. Hamburg.
Löwy, Michael (1989): Der Urkommunismus in den ökonomischen Schriften von Rosa Luxemburg – Für eine romantisch-revolutionäre Geschichtsauffassung. In: Gérard Bensussan u. a. (Hg.): Die Linie Luxemburg-Gramsci. Zur Aktualität und Historizität marxistischen Denkens. Hamburg, 140–146.
Luxemburg, Rosa Gesammelte Werke, Band 1, 2, 4 und 5., 1970–1975. Berlin. (zitiert GW)
Luxemburg, Rosa (1970): »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« und »Rede zum Programm«. In: Dies.: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek 89–162, 195–220.
Marx, Karl/ Friedrich Engels (1962, 1973): Werke, Band 16 und 23. Berlin. (zitiert MEW)
Nettl, Peter (1969): Rosa Luxemburg. Köln u. a.
Pozzoli, Claudio (1974) (Hg.): Rosa Luxemburg oder Die Bestimmung des Sozialismus. Frankfurt am Main.
Schütrumpf, Jörn (2018): Rosa Luxemburg – oder: Der Preis der Freiheit. Berlin.