Von der Weltrevolution zur »Völkerfreundschaft«. Internationalismus im frühen Sowjetstaat
Gleb AlbertAls die Bolschewiki 1917 die Macht in Russland übernahmen, taten sie es unter der Prämisse, dass ihre Revolution nur die erste unter vielen sein würde. Nach den Verwerfungen des Weltkrieges, so waren sie sich sicher, würden die Arbeiter:innen der führenden Industriestaaten die Macht übernehmen und dem gewissermaßen »zu früh gekommenen« russischen Kommunismus unter die Arme greifen. Bis dahin gelte es, internationale Solidarität zu üben und das eigene Handeln den Perspektiven der Weltrevolution unterzuordnen. Eine Position, die nicht nur in der Parteiführung, sondern auch unter Aktivist:innen an der Basis populär war – die Hoffnung auf Weltrevolution half, die eigenen Schwierigkeiten zu überspielen. Dieser Konsens kippte jedoch schnell: Die Weltrevolution blieb aus, aus der temporären Vorreiterrolle des russischen Proletariats wurde russozentrischer Chauvinismus, und der »Internationalismus« wurde in der stalinistischen Sowjetunion nach innen gekehrt, verstanden als »Völkerfreundschaft« mit Russland als dem »großen Bruder(volk)«. Wie und warum passierte das? Im Workshop, den Gleb Albert am 26.07.24 auf der Kantine »Zone« gegeben hat, wurde anhand einiger Quellentexten zu Rezeptionen und Praktiken des Internationalismus in der frühsowjetischen Gesellschaft über diese Fragen diskutiert.
Gleb J. Albert ist Assistenzprofessor für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte an der Universität Luzern (Schweiz). Er forscht Geschichte der frühen Sowjetunion und der internationalen kommunistischen Bewegung sowie zur Geschichte der Softwarepiraterie und der Computernutzung in den 1980er und 1990er Jahren. 2017 erschien von ihm das Buch »Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927« (Böhlau Verlag; englische Übersetzung: Haymarket Books 2024).