Kantine »Festival«

Zum Verhältnis von jüdischem Messianismus und historischem Materialismus bei Benjamin


Charlotte Trottier

Sowohl in der neueren als auch in der traditionellen Forschungsliteratur lässt sich beobachten, dass in der Beschäftigung mit dem Werk Walter Benjamins oft eine Unterscheidung zwischen‚ dem historischen Materialisten‘ und ‚dem jüdischen Mystiker‘ Benjamin vollzogen wird. Diese Unterscheidung ist nicht nur zurückzuführen auf spezifische Strömungen in der Rezeptionsgeschichte Walter Benjamins, die in ihrer ersten Generation am prominentesten mit den Namen Theodor W. Adorno einerseits und Gershom Scholem andererseits verknüpft sein dürfte. Vielmehr – so eine zentrale These des Vortrags – ist sie auch Resultat einer scheinbar natürlichen Distanz, die die historisch-materialistische Forschung zur Theologie einnimmt. Umso ungewöhnlicher scheint es in diesem Kontext, dass Benjamin nicht nur in seiner ersten geschichtsphilosophischen These explizit eine Verknüpfung beider Elemente vornimmt, mit dem Ziel, den historischen Materialismus aus jener Starre zu befreien, in welche er etwa nicht nur im theoretischen Prophetismus Kautskys oder einer vulgär-marxistischen Zwei-Stufen-Theorie, sondern auch ganz real in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 hineinmanövriert wurde. Die Beschäftigung mit dem Theologischen ist dabei keine zufällige: Benjamin, der seine Thesen in Anknüpfung an seine Verhaftung in Frankreich auch als Antwort auf den Hitler-Stalin-Pakt formulierte, knüpft im Angesicht der Katastrophe an eine Denktradition jüdisch-deutscher Linksintellektueller an, die sich bis zu Karl Marx und Moses Hess zurückverfolgen lässt, und versucht, jüdisch-messianische Motive zu säkularisieren und für eine Kritik des Wirklichen fruchtbar zu machen.

Dieser Rückgriff auf jüdisch-messianische Elemente in Verbindung mit Benjamins historisch-materialistischer Geschichtsphilosophie soll im Rahmen des Vortrags dargestellt und auch im Hinblick auf seine möglichen Auswirkungen auf den Begriff der Aufklärung, der die späteren Überlegungen der Frankfurter Schule nachhaltig prägen sollte, rekonstruiert und diskutiert werden.

Charlotte Trottier (Universität Leipzig / Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow) hielt den hier zu Verfügung gestellten Vortrag am 26.8.2020 im Rahmen der Kantine »Benjamin« in Chemnitz.