Kantine »Festival«

Versuch, mit Benjamin den NS zu verstehen


Nikolas Lelle

Als Walter Benjamin sich im September 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Portbou das Leben nahm, war das Konzentrationslager in Auschwitz erst wenige Wochen eröffnet. Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gab es noch nicht. Es fehlt daher in seinen Schriften ein Bezug auf das „Nervus rerum“ (Detlev Claussen) der Kritischen Theorie der Nachkriegszeit: die Shoah; oder wie Theodor W. Adorno es schlicht nannte: Auschwitz. Das könnte ein Grund sein, warum in der Folge nur selten versucht wurde, mit Walter Benjamin den Nationalsozialismus zu verstehen. In seinem Werk fehlt schlicht das, was sich später überdeutlich als der Kern der nationalsozialistischen Politik zeigte: der eliminatorische Antisemitismus.

Aber der Nationalsozialismus war bereits seit zwei Jahrzehnten eine politische Kraft in Deutschland und seit mehr als sieben Jahren an der Macht. Was nach Benjamins Tod folgte, der Versuch der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums, zeichnete sich bereits ab. Es finden sich daher, das will dieser Vortrag zeigen, in Benjamins Texten Überlegungen und Passagen, die helfen beim Versuch, den Nationalsozialismus zu verstehen.

Die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ etwa, Benjamins letztem Text, der erst posthum veröffentlicht wurde, sind fast schon auf prophetische Art eine Absage an die bürgerliche Forschrittsgläubigkeit. Geschichte, so erscheint sie Benjamins Angelus Novus von Paul Klee hier, ist „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. Seine Ge-schichtsthesen können ohne den damaligen Siegeszug des National-sozialismus nicht verstanden werden. In seinem wohl berühmtesten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schreibt Benjamin – fast im Vorbeigehen – einen Satz, der das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Arbeiterschaft treffend charakterisiert: Der Masse, so Benjamin, sei zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht verholfen worden. In einem deutlich früheren Aufsatz von Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, fand der Literaturtheoretiker Werner Hamacher eine Dichotomie, mit der er versuchte, den Nationalsozialismus zu verstehen: Öffnung und Schließung. In einem bahnbrechenden Aufsatz mit dem Titel „Arbeiten Durcharbeiten“ bezog er diese Dichotomie auf die nationalsozialistische Arbeitsauffassung.

Benjamins Philosophie enthält also eine Fülle von Erkenntnissen, die es lohnt für eine Erforschung des Nationalsozialismus zu Rate zu ziehen. Dieser Vortrag von Nikolas Lelle stellt dafür einen ersten Versuch dar.

Den hier zu Verfügung gestellten Vortrag hielt Nikolas Lelle am 27.8.2020 im Rahmen der Kantine »Benjamin« in Chemnitz.