Benjamin, Hessel und die Figur des Flaneurs
Jenny JungDer Vortrag geht mit dem »Flaneur« einer zentralen Figur in Walter Benjamins Werk nach und spürt dabei den biografischen Bezügen sowie der Bedeutung der Figur im Kontext seiner Geschichtsphilosophie und seines chef-d’œuvre, dem Passagen-Werk, nach.
Eine der prägenden Personen für Benjamin war Franz Hessel, den er in Anlehnung an Louis Aragon als „Bauer von Berlin“ bezeichnete und mit dem ihn nicht nur biografische Gemeinsamkeiten verbanden. Ihre Freundschaft hinterließ tiefe Spuren in Benjamins Schaffen und war eng mit seinem Erleben von Paris – der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts – und der Figur des Flaneurs verbunden. Gemeinsam arbeiteten sie an einer Übersetzung Marcel Prousts und verbrachten, noch vor dem erzwungenen Aufenthalt, viel Zeit in Paris. Wichtiger ist allerdings, dass Benjamin bei Hessel den Blick für die alltägliche Wirklichkeit der Großstadt erlernte. Hessels Credo »Nur was uns anschaut, sehen wir. Wir können nur –, wofür wir nichts können.« wurde für Benjamin die Basis der Philosophie des Flaneurs. Die Erfahrungsweise dieser Figur machte für Benjamin die tiefgreifenden Veränderungen sichtbar, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung insbesondere an den Pariser Passagen, als dem architektonischen Kernstück des 19. Jahrhunderts, zeigten. Gebunden an diese Architektur, begriff Benjamin den Flaneur als die Existenz auf der Schwelle, die sich sozialgeschichtlich zwischen dem außerdienst-gestellten Aristokrat, der seine Zeit allein mit dem Zurschaustellen der eigenen Person verbrachte, und dem Sandwichmann, der all seine Zeit mit der Veräußerung seiner Arbeitskraft in den Straßen der Großstädte verbringen musste. Dieses einschneidende Moment der Veränderung, hatte für Benjamin nicht nur Konsequenzen für die Möglichkeit von Erfahrung und die Wahrnehmung der Welt, sondern ließ sich letztlich auch auf die Frage der Kunst und die Folgen ihrer Reproduzierbarkeit beziehen. Warum der melancholische Blick auf diesen Umschlagpunkt der Geschichte für Benjamin dennoch Rettung versprach, soll im Vortrag nachgegangen werden.
Jenny Jung ist freie Ausstellungskuratorin und studierte Politische Theorie in Frankfurt am Main und Darmstadt, sowie in Beer Sheva, Istanbul und Konstanz. Sie beschäftigt sich mit Feminismus, Kritischer Theorie sowie dem Nationalsozialismus und seinem Fortwirken. Zurzeit kuratiert sie die Ausstellung „Frankfurt und der Nationalsozialismus“ für das Historische Museum Frankfurt, die 2021 eröffnet wird.
Den hier zu Verfügung gestellten Vortrag hielt Jenny Jung am 27.8.2020 im Rahmen der Kantine »Benjamin« in Chemnitz.