Reise ins Auge des Sturms – zur Idee, Geschichte und Kritik des Insurrektionalismus
Mario CravalloJenseits des eigenen Milieus hat der Insurrektionalismus einen schlechten Ruf: statt als antagonistischer Methode und Strömung des Anarchismus gilt er vielmehr als eine pubertäre Fixierung auf Militanz und als besserwisserischer Moralismus ohne ernstzunehmende gesellschaftskritische Substanz. Zu einem Zeitpunkt, wo die Rede über den Aufstand entweder verpönt oder im völligen Abseits der eigenen Lebenswelt stattfinden, lohnt aber nicht schon allein die Retrospektive auf eine Zeit in der der Aufstand Alltag und die Revolution möglich schien. Nicht als melancholische Vergötzung des Vergangenen, sondern als Reflexion der Möglichkeitsbedingungen eines Lebens, was sich nicht mit dem kleineren Übel zufrieden gibt, sondern an seiner Forderung nach Allem festhält. Der Insurrektionalismus ist keine Theorieströmung, er bezeichnet den äußerten Punkt der Konzentration des antagonistischen Denkens und Handelns. Er ist als Methode der Versuch eines Dreiklangs von permanenter Konfliktualität, Offensivität und direkter, selbstorganisierter Aktion gegen Staat und Kapital. Als solcher hat der Insurrektionalismus keine Geschichte, er ist ein Einspruch gegen die Geschichte in der Hoffnung eines Bruchs mit ihr. Zwar ist er Produkt bestimmter politökonomischer Konstellationen, jedoch nur insofern als dass er als Zuspitzung des Widerstandes gegen den historischen Rhythmus der Herrschaft bis zu deren Abschaffung einem Wiederholungszwang unterliegt. Der Vortrag, gehalten am 04.08.2023 auf der Kantine »Sabot«, zielte darauf, zu diesem Punkt, dem Auge des Sturms – wie es in einem grundlegenden Dokument der insurrektionalistischen Methode heißt – vorzustoßen, obgleich der Aufstand eine Frage der Praxis ist und sich darin dem geistigen Nachvollzug entzieht. Dabei wurde die These begründet, dass der zeitgenössische Insurrektionalismus sich aus drei geistigen Quellen speist: dem historischen anarchistischen Illegalismus der Propagandisten der Tat zur Jahrhunderwende, dem Links- und Rätekommunismus der Zwischenkriegszeit sowie den radikalnegatorischen Experimenten der Neuen Linken ab 1968. Diese theoretischen Inspirationen und die Niederlage in den Klassenkämpfen des roten Jahrzehnts der 1970er Jahre bildeten die Konstellation in der die insurrektionalistische Methode durch eine globale Bewegung ausformuliert wurde – und seither Gegenstand scharfer Debatten im linksradikalen Milieu ist.
Mario Cravallo promoviert zwar zu Lukács, versucht aber jeden Tag wie Blanqui zu leben. Für den Vortrag qualifiziert er sich durch Mit-Herausgabe eines untergründischen Zines, dass versucht Insurrektionalismus und Mutalismus zu verbinden. Für seinen Lebensunterhalt verdingt er sich als tradeunonistischer Rechtsopportunist bei einer großen deutschen Gewerkschaft. Ansonsten geht er gerne Minigolf spielen.