Es ist soweit: Wir laden ein zur Kantine »Sabot« zur Geschichte und Theorie des Anarchismus!

Wie auch immer man den Anarchismus politisch bewerten mag: Er ist in unserer Gegenwart eine lebendige Bewegung. Er ist Bezugspunkt in den Platzbesetzungsbewegungen, in der Klimabewegung, in Mietkämpfen, in autonomen Jugendzentren oder Hausprojekten und in Versuchen der Stadtteilvernetzung. Anarchosyndikalist:innen organisieren Lohnkämpfe, oft auch in Branchen, die nicht von der etablierten Gewerkschaftsarbeit abgedeckt werden. Anarchist:innen der verschiedenen Strömungen sind bundesweit und weltweit vernetzt, eine große Zahl an Zeitschriften, Fanzines und „grauer Literatur“ verbreiten anarchistisches Gedankengut.

Der Anarchismus ist anziehend, weil er eine Haltung der Unversöhnlichkeit und des Willens zum Ungehorsam verkörpert. Er formuliert eine Skepsis gegenüber Hierarchien, Bürokratismus und formalisierten Organisationsstrukturen und ist dennoch ständig mit der Frage beschäftigt, wie sich Individuen in der Gesellschaft organisieren sollten. Er macht die individuelle Freiheit zum Maßstab von Befreiung überhaupt und sucht gleichzeitig nach der Erfahrung von gelungener Kollektivität. Er artikuliert eine scharfe Kritik an den bestehenden Verhältnissen und beharrt darauf, dass eine andere Gesellschaft jenseits von Nationalstaat und Kapitalismus möglich ist. Er ist verbunden mit Aufstand und direkter Aktion – auch wenn sich verschiedene Strömungen des Anarchismus über die richtigen Mittel der Veränderung immer wieder gestritten haben.

In den letzten Jahren hat sich das Programm der Kantine immer wieder einem einzelnen Denker oder einer einzelnen Denkerin gewidmet und deren Werk und Biografie zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht. Im Gegensatz dazu widmen wir uns in diesem Jahr der Theorie und Geschichte einer ganzen Bewegung. Dazu kommt: Die meisten Personen, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, kommen aus einer Tradition des marxistischen Denkens und sind im Kontext der kritischen Theorie verortet. Wir wollen uns, aus dieser Auseinandersetzung kommend, dem Anarchismus annähern. Das heißt, dass wir keineswegs alles über den Anarchismus wissen und dem Publikum eine reine Lehre oder ein fertiges Urteil über den Anarchismus präsentieren können oder wollen. Wir wollen mit euch und den eingeladenen Referent:innen über den Anarchismus diskutieren und uns mit den Fragen beschäftigen, die der Anarchismus aufwirft.

Der Anarchismus war historisch ein wichtiger Teil der Arbeiter:innenbewegung. Die anarchistische Position war insbesondere in der Frühphase des Kapitalismus mit (wilden) Streikbewegungen, Subsistenzkämpfen, Selbstorganisierungsversuchen in der (ländlichen oder städtischen) Produktion und Sabotageaktionen verbunden. Dafür steht der Sabot – der Holzschuh, der von französischen Anarchosyndikalist:innen als Symbol im Kampf um den 8-Stunden-Tag verwendet wurde. Aus diesem Kontext stammt auch der Begriff der Sabotage – er geht zurück auf den schlurfenden Gang von Arbeiter:innen in Holzschuhen, mit dem sie den Arbeitsprozess, als eine Form des Protests, verlangsamten (frz. saboter = “in Holzschuhen umhertappen, derb auftreten”). Einer etwas kämpferischeren Erzählung nach haben Arbeiter:innen den Sabot in den Fabriken und Manufakturen in die Maschinen geworfen, um sie zu blockieren und das Regime der Lohnsklaverei für Momente zu unterbrechen – aber das gehört vielleicht auch eher dem Reich der anarchistischen Mythen und Legenden an.

Die Geschichte des anarchistischen Strangs der Arbeiter:innenbewegung scheint immer wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Dies liegt einerseits daran, dass der Anarchismus oft innerhalb informeller Verbindungen lebendig war und kaum offizielle Institutionen hervorgebracht hat, die sich um Geschichtsschreibung und Traditionsbildung kümmern. Auf der anderen Seite hat der Anarchismus keine mit dem Marxismus vergleichbare, kanonisierte Theorie hervorgebracht, sondern steht dafür, dass die praktische Erfahrung oftmals den begrifflichen Reflexionen vorausgeht. In diesem Sinne ist eine Auseinandersetzung mit dem Anarchismus nicht mit einer Abhandlung über anarchistische Theorie getan, sondern erfordert einen Blick auf die reale Bewegungsgeschichte. Nicht zuletzt haben die sozialdemokratische und oft auch die marxistische Geschichtsschreibung ein Wissen um den anarchistischen Strang der Arbeiter:innenbewegung verdrängt.

Bei unserer Auseinandersetzung mit der anarchistischen Tradition geht es uns nicht darum, sie einfach an für uns bereits feststehenden Positionen zu messen. Die Entgegensetzung zwischen Anarchismus und Kommunismus beruht oft auf historisch entstandenen Versteifungen, die einer kritischen Reflexion im Wege stehen. Der Widerspruch zwischen beiden Strömungen lässt sich aber auch nicht einfach so auflösen. Wir glauben, dass sich hinter der feindlichen Brüderschaft bzw. schwesterlichen Feindschaft sachliche Probleme und reale Schwierigkeiten verbergen. Zum Teil stellen sich uns diese Probleme heute noch und wir müssen Antworten auf sie finden. Eines dieser Probleme, auf die uns der Anarchismus stößt, ist die Stellung zum Staat.

Die Anarchist:innen lehnten es ab, den Staat zum Hebel der Revolution zu machen. Hat die Entwicklung der Oktoberrevolution dieser Ablehnung recht gegeben? Oder waren es andere Faktoren als die “Eroberung der politischen Macht”, die dann tatsächlich zur Entwicklung einer repressiven und mörderischen Staatsmaschine in der Sowjetunion führten? Und ist der Staat ausreichend erklärt, wenn er, wie in vielen anarchistischen Texten, als rein äußerliches Unterdrückungsinstrument erscheint, das eine sonst fröhlich harmonisierende Gesellschaft unter seine Fuchtel nimmt? Ist der Staat nicht vielmehr das notwendige Ergebnis einer bestimmten Form der Vergesellschaftung und damit verbundener Konflikte? Und sind diese Konflikte einfach verschwunden, wenn die offiziellen Institutionen des Staates zerstört sind?

Weitere Fragen schließen sich an: In welchem Verhältnis steht der anarchistische Anspruch auf dezentrale Organisationsformen zur Notwendigkeit einer demokratischen Planung von Produktion und Verteilung, auch in einem weltweiten Maßstab? In welchem Verhältnis stehen individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verbindlichkeit – insbesondere auch wenn es um Ressourcenknappheit, ungleiche Verteilung der Reichtümer und Kämpfe um die Verteilung von Reproduktionsaufgaben geht? Wenn wir das Ziel der Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung, von individueller und gesellschaftlicher Befreiung teilen – welche strategischen und organisatorischen Schwierigkeiten ergeben sich auf dem Weg dorthin? Ist eine augenblickliche Befreiung im Aufstand denkbar oder müssen wir uns den Notwendigkeiten des Übergangs und damit verbundenen Konflikten stellen?

Wenn wir diese Fragen sachlich diskutieren, so denken wir, können Anarchist:innen und Kommunist:innen – ohne alle inhaltlichen Differenzen einfach zu leugnen – einiges voneinander lernen. Ein produktiver Streit kann zu der Erkenntnis führen, dass sowohl die anarchistische als auch die kommunistische Theorietradition Leerstellen und Fehler beinhalten. Wir wollen euch in der ersten Augustwochenende ins Subbotnik in Chemnitz einladen, darüber mit uns zu diskutieren.

Good Bye, Kantine »Gramsci«!

Schluss, aus und vorbei! Die fünfte Kantine liegt hinter uns und wir blicken mit Freude, aber auch mit ein bisschen Wehmut auf die vergangene Woche zurück. Wie immer: ohne euch wär’s alles nicht möglich gewesen! Wir bedanken uns bei allen Besucher:innen, Referent:innen, Künstler:innen, beim Treibhaus e.V. Döbeln, beim Technik-Support KMS, bei allen Fördermittelgeber:innen, bei der Koch-Crew, WkB e.V. und beim Subbotnik! Tausend Dank gilt auch den zahlreichen Helfer:innen, die uns die gesamte Woche über an allen Ecken und Enden unterstützt haben. Wir hoffen, niemanden vergessen zu haben und falls doch, dann seht’s uns nach – der Abbau ist noch im Gange.

Wir fanden’s schön, ihr hoffentlich auch? Für Anmerkungen oder Feedback erreicht ihr uns wie immer per Mail oder Social Media. Falls ihr selbst Teil der Kantine-Gang werden möchtet und Lust habt, bei der Organisation mitzuwirken: Wir haben eine Info-Mailingliste erstellt, mit der wir zukünftig zu einem offenen Plenum einladen oder euch über andere Dinge (z.B. Lesekreise) informieren möchten. Schreibt uns gern eure Mail-Adresse, falls ihr Interesse habt. Und damit bleibt vorerst nur zu sagen: bis spätestens nächstes Jahr.

Programmänderungen am Dienstag und Donnerstag

Leider muss der Stadtrundgang mit Mike Melzer am Dienstag 13:30 Uhr ausfallen. Die gute Nachricht: es bleibt bei einem Stadtrundgang, denn wir konnten Carolin Juler zum Thema »Der NSU Komplex in Chemnitz — rechte Kontinuitäten in Chemnitz und Südwestsachen« für unser Programm gewinnen.

Außerdem neu: Am Donnerstag um 13:30 Uhr haben wir Stefan Pimmer zu »Gramsci peripher/postkolonial« zu Gast.


Ausgehend von den 1990ern in Chemnitz und dem Untertauchen des sogenannten »NSU Trios« werden den Teilnehmenden des Stadtrundganges rechte Kontinuitäten in der Stadt Chemnitz aufgezeigt. Wie und durch wen konnte der NSU in Chemnitz untertauchen? Welche rechten Strukturen herrsch(t)en in der Stadt? Welche Akteurinnen gibt es bis heute? Wie lassen sich die Verbindungen zwischen Chemnitz 2018 und den Baselballschlägerjahren ziehen? Sonstiges: In dem circa 2 Stunden andauernden Stadtrundgang im Chemnitzer Stadtzentrum gehen die Teilnehmenden an Orte in der Chemnitzer Innenstadt, die vor allem durch die rechten Aufmärsche 2018 geprägt wurden. Eingangs wird es eine Einführung in den NSU Komplex geben, um Bezüge zur aktuellen Situation und Akteurinnen in Chemnitz und Südwestsachsen herzustellen.
TW: Das Format setzt sich vor allem mit Täter*innen und Neonazis auseinander. Es wird um rechten Terror, Morde und Anschläge von Neonazis gehen, weshalb es für die Teilnehmenden durchaus bedrückend sein kann, das Gehörte zu verarbeiten.

Start des Rundgangs: Subbotnik 13:30

Ende des Rundgangs: Karl-Marx-Kopf ca. 15:15

Carolin arbeitet und forscht als freiberufliche Bildungsreferentin zu den Themen NSU-Komplex, Rechte Szene in Chemnitz und Südwestsachsen und zur Gedenkarbeit für Betroffene von rechtsterroristischer Gewalt. Carolin lebt in Chemnitz und ist dort parlamentarisch und außerparlamentarisch politisch aktiv.


Stefan Pimmer: Gramsci peripher/postkolonial
Donnerstag, 04.08.22, 13:00

Ausgehend von Italien hat Gramscis Denken eine weltweite Verbreitung erfahren, die sich auch auf den »globalen Süden« erstreckt. Die Übertragung seiner Konzepte auf periphere Gesellschaften ist jedoch nicht unumstritten. Als Theoretiker der Revolution im »Westen« wird seinen Überlegungen mitunter eine eingeschränkte Gültigkeit für postkoloniale Herrschaftsverhältnisse attestiert, oder ihnen eine eurozentrische Sichtweise bescheinigt. Demgegenüber argumentiert der Vortrag, dass Gramscis politische und theoretische Interventionen oft ein großes Augenmerk auf Zentrum-Peripherie-Verhältnisse aufweisen und ihnen sogar eine postkoloniale Kondition zugrunde liegt. Dies bedeutet jedoch keinen theoretischen Freifahrtsschein für den »globalen Süden«. Der Vortrag plädiert daher für eine Übersetzungsarbeit, um gramscianische Konzepte für die Spezifika postkolonialer Verhältnisse zu sensibilisieren.

Stefan Pimmer ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Lateinamerika; zurzeit an der Universität von Buenos Aires, wo er seine Doktorarbeit zur argentinischen und lateinamerikanischen Gramsci-Rezeption schreibt.

Austauschrunde: Wie weiter mit der Kantine?

Mit Gramsci geht die Kantine dieses Jahr in die fünfte Runde. Geboren aus einer Schnapsidee im wahrsten Sinne des Wortes, ist das Theoriefestival zu einer festen Institution geworden, die Menschen aus unterschiedlichen Orten mit einer Vorliebe für Theorie und Exzess zusammenbringt. 

Als Vorbereitunsgsteam stehen wir derzeit vor der Frage, wie es in Zukunft mit der Kantine weitergehen soll, und sind dafür auf der Suche nach helfenden Händen und Köpfen. Wir wollen daher unter anderem über unser Selbstverständnis als Theoriefestival ins Gespräch kommen: Wir denken, dass die Auseinandersetzung mit Theorie keine Selbstbespaßung im luftleeren Raum sein sollte, sondern idealerweise Erklärungen für die Zumutungen, die uns tagtäglich begegnen, und Orientierungen für unser politisches Handeln liefern sollte. Vor diesem Hintergrund würden wir bei der Themenwahl und Ausgestaltung der Kantine in Zukunft gerne stärker an das anknüpfen, was es an Kämpfen, Ideen und Wünschen in Chemnitz bereits gibt, um uns so gemeinsam über die Verhältnisse in dieser Stadt (und darüber hinaus) zu verständigen und auf sie einwirken zu können. Unter anderem planen wir, das Programm der Kantine über die Festivalwoche hinaus auszudehnen und beispielsweise Lesekreis oder einzelne Vorträge und Workshops im Jahresverlauf zu veranstalten. 

Wir laden euch ein, mit uns darüber ins Gespräch zu kommen. Wenn ihr mit dem Gedanken spielt, euch in die Organisation der Kantine einzubringen, Rückmeldungen an uns oder Ideen für Vernetzung und Zusammenarbeit habt oder einfach mehr über die Hintergründe der Veranstaltungswoche erfahren wollt, dann kommt am Donnerstag um 11 Uhr in die Plusbar (Bernsdorfer Straße 41)!

Bernd Röttger: »Und du wärest schon froh, […] die Gülle flösse ab.« – Über historische Notwendigkeiten, herrschaftliche Restrukturierungen und wirkliche Alternativen, oder: Wie Antonio Gramsci seinen kritischen Marxismus entwickelt

Montag, 01.08. 18:00

Antonio Gramsci, geboren 1891 auf Sardinien, gestorben 1937 an den Folgen seiner Inhaftierung in den Kerkern Mussolinis, hat mit dem Hegemoniegebegriff in seinen Gefängnisheften nicht nur die politische Theorie des Marxismus umgewälzt und durch seine »Philosophie der Praxis« eine strategische Erneuerung der Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Westens begründet; er avancierte posthum auch zu einem Klassiker der marxistischen Theorie. – »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren ist Verrat«, so umriss Heiner Müller seinen Umgang mit dem Werk des Klassikers der sozialistischen Weltliteratur, der auch bürgerlich inszeniert werden konnte. – Auch Gramscis analytischen und politischen Begriffe scheinen beliebig dienstbar, wenn es darum geht, politische Mehrheiten zu organisieren: Alles nur noch eine Frage des Kampfes um Hegemonie? – Die Analyse der Stabilität bürgerlicher Herrschaft in den entwickelten Kapitalismen, die bei Gramsci noch in den Strukturen der herrschenden Produktionsweise und ihrer Klassenverhältnisse wurzelt, verwandelt sich in eine »individuelle Phrase« (Gramsci), in einen politischen oder ideologischen Voluntarismus. – Der Vortrag versucht die Entwicklung von Gramscis Marxismus vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen gescheiterter Kämpfe der Arbeitenden auf Sardinien (1904/06), dem Scheitern der Turiner Fabrikrätebewegung (1919/22), seiner Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus der II. Internationale und der russischen Oktoberrevolution (1918), seiner Motive für die Mitbegründung des PCI (1921), dem aufstrebenden Fordismus in den USA und dem Faschismus in Italien (1924) und seiner Isolation von den Kämpfen im Gefängnis seit 1928 historisch-kritisch nachzuzeichnen.

Dr. Bernd Röttger, geb. 1961, Politikwissenschafter, langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter an juristischen, politologischen und soziologischen Lehrstühlen sowie in gewerkschaftlichen Beratungs-, Bildungs-, und Forschungsprojekten. Diverse Veröffentlichungen zur politischen Ökonomie der BRD und des Weltmarkts, zur Geschichte und Politik der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, zur marxistischen Theorie. Aktuell: Redakteur des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus.

Manuel Disegni: Gramsci über den Faschismus (online)

Dienstag, 02.08, 15.30

Als Antonio Gramsci entschied, sein Leben und all seine bemerkenswerten geistigen und praktischen Kräfte dem politischen Kampf zu widmen, schien der Siegeszug der sozialistischen Weltrevolution im Gange zu sein. Er starb zu einer Zeit, in der der Faschismus überall herrschend geworden war.
Einer der Hauptstränge seines Denkens ist daher die Analyse des faschistischen Phänomens, d. h. des wichtigsten subjektiven und gesellschaftspolitischen Faktors, der die sozialistische Revolution in Italien unmöglich gemacht hat.
Dass er in elf Jahren äußerst harter Gefangenschaft trotz dem allmählichen Verfall seiner physischen Gesundheit (nicht aber seines Geistes) seinen Freiheitskampf bis zum Ende fortsetzte, ist vielleicht das bedeutendste geistige Ereignis des 20. Jahrhunderts in Italien. Davon legen die berühmten Gefängnishefte Zeugnis ab. Sie enthalten eine äußerst differenzierte, originelle, undogmatische und organische Analyse des Faschismus, die jedoch aus einer großen Menge fragmentarischer, unter extrem harten Bedingungen verfasste Texte destilliert werden muss. Es handelt sich um keine akademische Abhandlung, sondern um die militante Ausarbeitung eines proletarischen Führers. Sie wurde sozusagen live durchgeführt und ist verwickelt in einen Zusammenhang zahlreicher Ereignisse und wechselnder möglicher Ergebnisse, wodurch der Erkenntnisfortschritt in enger Beziehung zur Entwicklung der aktuellen Klassenkämpfe sowie zu den taktischen und strategischen Problemen steht, denen die von Gramsci selbst mitbegründete Partito Comunista d’Italia und die Kommunistische Internationale sich stellen mussten. Für Gramsci ist der Faschismus nicht bloß ein Gegenstand der Analyse. Vielmehr bildet er den historischen Kontext seiner politischen Tätigkeit und Lebenserfahrung – ein Kontext, dessen Natur, Ursprung, Zeitdauer und räumliche Ausdehnung sich aller Voraussicht zu entziehen neigten.

Manuel Disegnis Versuch, Gramscis Faschismus-Interpretation zu rekonstruieren, wird sich um zwei Schwerpunkte drehen: einerseits die Hegemonie-Krise der europäischen Bourgeoisie und die Auflösung des liberalen Kapitalismus; andererseits die Unfähigkeit der sozialistischen Führung Italiens, die politische Macht zu ergreifen und den Ausweg aus der Krise auf emanzipatorische Weise zu bewältigen. „Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen“.

Dabei soll auch die spezifische Originalität der analytischen Methode Gramscis konturiert werden: Seine Bemühung, die nationalen Besonderheiten der politischen Phänomene im Rahmen von und im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Weltprozessen der Zeit zu erfassen. Die daraus resultierende Auffassung des vornehmlich, aber nicht ausschließlich italienischen Phänomens des Faschismus durchkreuzt alle klassischen Ansätze: Faschismus als historische Klammer und momentane moralische Krankheit (Croce); Faschismus als Offenbarung der überlieferten Defekte der italienischen Nation (Gobetti); Faschismus als Klassenkampf von oben, antiproletarische Reaktion (Marxismus). Von diesen Optionen werden bei Gramsci jeweils die Wahrheitselemente aufgehoben, aber ohne sich mit schematischen, reduktionistischen oder generalisierenden Erklärungsmustern zufrieden zu geben.

Manuel Disegni hat Philosophie in Berlin studiert. Sein Buch Die Aktualität des Ursprungs. Historische Erkenntnis bei Marx und Walter Benjamin erschien 2017. Aktuell bearbeitet er seine Doktorarbeit über Karl Marx und den modernen Antisemitismus für ein weiteres Buch. Er lebt in Turin, wo er in einer Schule arbeitet und einen Postdoc am Institut für Philosophie und Erziehungswissenschaften der dortigen Uni macht.

Volodymyr Ishchenko: Russia’s Invasion of Ukraine and the post-Soviet crisis of hegemony

Freitag, 05.08, 18.00

How can Gramsci help us to understand the war in Ukraine? The talk will discuss the concepts of passive and Jacobin revolutions, hegemony crisis, Caesarism in relation to the post-Soviet condition. Post-Soviet Caesarist regimes and maidan revolutions presented only deficient solutions to the post-Soviet crisis of hegemony that either conserved or reproduced and intensified the very crisis. The roots of the crisis lie in the incapacity of post-Soviet political capitalists to provide any stable alternative to the degraded Communist hegemony. The dynamics of the hegemony crisis on the global, regional, and domestic levels is crucial to understanding the threats, opportunities, and resources for Russia’s invasion of Ukraine. However, this shift to military coercion after failing in political, intellectual, and moral leadership may trigger the end of the crisis either destructing any sovereign center of capital accumulation in the post-Soviet region or pushing Russia to the fundamental economic, political, and ideological transformation that may create the conditions for a new cycle of “Jacobin” social revolutions in the XXI century.

Volodymyr Ishchenko is a research associate at the Institute of East European Studies, Freie Universität Berlin. His research focused on protests and social movements, revolutions, radical right and left politics, nationalism and civil society. He authored a number of peer-reviewed articles and interviews on contemporary Ukrainian politics, the Euromaidan uprising, and the ensuing war in 2013-14 — published in Post-Soviet AffairsGlobalizations and New Left Review, among other journals. He has been a prominent contributor to major international media outlets, such as The Guardian, Al Jazeera and Jacobin since 2014. He is working on a collective book manuscript, The Maidan Uprising: Mobilization, Radicalization, and Revolution in Ukraine, 2013-2014.

Georg Seeßlen: GRAMSCI GOES POP – Vom Klassencharakter der populären Kultur

Freitag, 05.08, 13:30

Populäre Kultur kann unter (mindestens) drei Aspekten kritisiert und, wenn möglich, »verstanden« werden.

  1. Als psychosoziale Trost- und Sinn-Maschine, die Träume (einschließlich sekundärer Bearbeitungen von verborgenen Wünschen und Ängsten) und »erklärende« Mythen bereit stellt, um den Defiziten des Alltags und der Arbeit zu entkommen (nicht zuletzt den Erfahrungen von Ohnmacht und Lähmung darin).
  2. Als ideologische Maschine, die auf direkte und mehr noch auf indirekte Weise Reklame macht für das Leben in dem System, in dem und für das sie entsteht und die daran gewöhnt, ihre Widersprüche zu integrieren.
  3. Als hegemoniales Instrument einer Klasse, die sich in der einen oder anderen Weise als »herrschende« positioniert.

    Natürlich sind diese drei Elemente eng miteinander verknüpft, und dennoch ergeben sie auch drei verschiedene Perspektiven. Psychoanalyse und Ideologiekritik (nicht nur der populären) Kultur haben mittlerweile einen gewissen Reichtum an Methoden und Schlüsselwerken entwickelt, Der Klassancharakter der populären Kultur indes wurde in aller Regel auf die Konstruktion der »kleinen Unterschiede« und der Innenausstattungen der bürgerlichen Klasse(n) beschränkt, während man die populäre Kultur der »Massenmedien« eher als industrielle Nach-Form für das »Opium des Volkes« angesehen wurde.
    Mit Antonio Gramsci kann eine linke Analyse das Feld der populären Kultur wieder öffnen für einen Kampf um Hegemonie, die nicht »selbstverständlich« ist, auch wenn die politische Ökonomie der Produktion dafür eine günstige Basis bietet.

    Georg Seeßlen, geboren 1948, studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und arbeitet heute als freier Autor unter anderem für Die Zeit, taz, epd-Film, Freitag etc. und als Kurator von Film/Kunst- Reihen und Ausstellungen.
    Außerdem hat er rund zwanzig Filmbücher geschrieben. Zusammen mit Markus Metz arbeitet er an Radio-Features und Hörspielen.

Anne Steckner: Hegemonie und die Crux mit dem bizarren Alltagsverstand

Samstag, 06.08, 18:00

Eigentlich banal: Die Auseinandersetzungen darüber, wie und wohin sich eine Gesellschaft entwickeln soll, müssen durch diese Gesellschaft hindurch: ideologisch, wissenschaftlich, alltagskulturell. Mehrheiten für grundlegende Veränderungen zu gewinnen und tragfähige Bündnisse zu schmieden, ist zuweilen mühsame politische Arbeit. Dafür, sagte der unermüdliche Aktivist und Parteistratege Antonio Gramsci, muss der Alltagsverstand der Menschen kritisch aufgearbeitet werden, um dessen guten Kern, den buon senso freizulegen und sich mit ihm zu verbünden. Kein leichtes Unterfangen, ist doch der Alltagsverstand eine »bizarr zusammensetzte Weltauffassung«, ein disparates Denken, Fühlen und Betrachten. Zugleich sagt Gramsci »alle Menschen sind Intellektuelle« und fordert auf, dieses Diktum ernst zu nehmen. Er zeigt, wie (Herrschafts-)Ideologie – auch in unseren eigenen Köpfen und Herzen und unserem Handeln – verankert ist, plausibel gemacht wird. Und ebenso, wo Risse und Widersprüche entstehen, an denen sich politisch anknüpfen lässt.


Anne Steckner ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Bildungsreferentin. Ihre Leidenschaft ist die Übersetzung komplexer Theorie in gut verständliches und vielen Menschen zugängliches Bildungsmaterial. Ihre Schwerpnkte sind Ökonomie, Feminismus und Kommunikation.