Mittwoch, 03.08, 21:00
Unmittelbar nach der Befreiung vom Mussolini-Faschismus entdeckt der Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini (1922 – 1975) die Schriften Antonio Gramscis für sich. Eine zentrale These des marxistischen Theoretikers und Mitbegründers des PCI besteht darin, dass er das Risorgimento (dt. »Wiedererstehung«) der italienischen Nation im 19. Jahrhundert als eine »passive Revolution« von oben deutet, da die Bauern nicht in die Kämpfe um die nationale Einheit einbezogen worden seien. Für Gramsci war eine Vereinigung des Industrieproletariats mit den Landarbeiter*innen eine absolute Notwenigkeit, um ein Gegengewicht zum bürgerlich-faschistischen Italien zu schaffen. Pasolini, zeitweilig Mitglied der KP, stimmt nicht nur dieser strategischen Analyse zu, sondern versteht das Risorgimento auch als den Beginn eines Homogenisierungsprozesses, der die alten bäuerlichen Kulturen sukzessive zerstört. Entgegen dem »heroischen Idealismus« von Gramsci erfolgt für Pasolini die Durchsetzung der Moderne in Italien nicht als bewusstes Produkt einer neuen »politischen Klasse« (als deren Kern Gramsci die »organischen Intellektuellen« des Proletariats sah), sondern als »passive Revolution« der fordistischen Konsumgesellschaft. Seine Diagnose besteht darin, dass in Italien eine kulturelle Mutation stattgefunden habe, die inzwischen ebenso weit vom traditionellen Faschismus wie von sozialistischer Fortschrittlichkeit entfernt sei.
Dr. Klaus Ronneberger, Studium der Kulturanthropologie und europäischen Ethnologie, der Soziologie und Politikwissenschaften. Lebt und arbeitet heute als freier Publizist in Frankfurt.