Roger Behrens
Dienstag, 07.08.18, 19.00 Uhr
»Die Phantasie an die Macht!« – Diese Parole ist als eine der zentralen Losungen des Pariser Mai ’68 überliefert. Für achtundsechzig ist die Losung radikaler Einspruch gegen die (kapitalistische) Gesellschaft, die von einer zum Selbstzweck gewordenen, instrumentellen Vernunft beherrscht wird; es ist die Forderung, gegen das zum Leistungsprinzip verhärtete Realitätsprinzip das Lustprinzip zu setzen, die Erotik, die ästhetische Dimension: Das revolutionäre Subjekt war nun nicht allein durch seinen Klassencharakter innerhalb der Produktionsverhältnisse bestimmt, sondern durch eine – wie H. Marcuse es nannte – »Neue Sensibilität«, die schließlich eine »biologische Grundlage des Sozialismus« bilden könnte. Achtundsechzig schien insofern erstmals eine Revolution möglich zu sein, die nicht mehr (bloß) Verzweiflungstat war, sondern ein lustvoller Streit um das eigene, bessere, glückliche Leben: Seinem Selbstverständnis nach, war das revolutionäre Subjekt ein starkes Subjekt, das sich freud- und lustvoll von den zugerichteten, entfremdeten, verdinglichten, »kaputten« Individuen absetzte.
Der Bezug auf Marx war dabei ambivalent: Einerseits widersprach diese Praxis von 68 zumindest der marxistischen Theorie in weiten Teilen, andererseits konnte diese Praxis aber auch als konsequente Fortsetzung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verstanden werden. Indes musste die marxistische Theorie (in ihrer Vielfalt wie in ihren vielfältigen Voraussetzungen und Weiterführungen seit den 1920er Jahren) wie auch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie neu erschlossen bzw. »wiederentdeckt« werden von den »68ern«. Ohnehin mussten Marx und Marxismus wie die kritische Theorie überhaupt in Hinblick auf Sexismus, Rassismus, (Post-) Kolonialismus, Antisemitismus etc. aktualisiert werden; mit den 1970ern kam dann noch in unterschiedlichen Strängen die Umweltzerstörung bzw. Ökologie hinzu. Damit bekamen allerdings auch Subjektformen Konturen, die geeignet waren für die notwendigen Individualisierungsschübe in der fortgeschrittenen spätkapitalitischen Gesellschaft der siebziger und schließlich achtziger Jahre. Akademisch wurde das (nicht zuletzt durch tiefgreifende Veränderungen im Bildungswesen wie in der Kulturindustrie) von modernistischen wie postmodernistischen Theorien umklammert, wozu etwa funktionalistische Kommunikations- und Handlungstheorien ebenso zählen wie die unterschiedlichen »poststrukturalistischen« Theorien. Die Marxsche Theorie als radikale Gesellschaftskritik und wirkliche Bewegung wurde dabei mehr und mehr ins Abseits gedrängt.
Der Vortrag versucht eine Einführung in die unterschiedlichen Theorieentwicklungen um und nach 1968 zu geben und stellt Thesen zur Diskussion, warum (und unter welchen Bedingungen) eine kritische Theorie suspendiert wurde; die Frage aus gegebenem Anlass ist schließlich, ob eine Restitution der kritischen Theorie machbar ist – und warum überhaupt?
Autor und Dozent Roger Behrens lebt in Hamburg, weiteres zur Person:
https://web.hsu-hh.de/fak/geiso/fach/pae-bsp/dr-des-roger-behrens